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Mit Überlebenswillen und Überlebenskraft - Betrachtungen über 70 Jahre Deutsches Staatstheater Temeswar

Theater-Urgestein Julius Vollmer als Apotheker in „Der Vagabund“ in den 1950er Jahren mit Kollegen vom DSTT. Foto: Archiv Banater Post

Die Theaterplakate der Nachwendezeit wurden zunehmend zweisprachig. Foto: DSTT

Ida Jarcsek-Gaza und Ildiko Jarcsek-Zamfirescu in dem Stück über die Russlanddeportation „Zwei Schwestern“ von Stefan Heinz-Kehrer. Foto: Archiv BP

Kurz vor dem Ende der letzten Spielzeit feierte das Deutsche Theater Temeswar mit einem Festakt sein 70-jähriges Bestehen. Es war ein Jahr zu spät, wie Intendant Lucian Vărșăndan bei seiner Eröffnungsrede unumwunden zugab. Schon im Juni 1953 wurde das Deutsche Theater, damals noch als deutsche Abteilung des Temeswarer Staatstheaters, mit der Premiere des Stückes „Die Karlsschüler“ von Heinrich Laube eröffnet. Dass im letzten Jahr nicht gefeiert werden konnte, lag laut der Aussage des Intendanten an „Sparmaßnahmen“. Dass die Feier nun nachgeholt wurde, zeigt jedoch den hartnäckigen Geist, der dieses Haus über 70 gar nicht leichte Jahre geprägt und bis heute weitergebracht hat.
Die Gründung eines deutschen Theaters im vom Stalinismus geprägten Nachkriegsrumänien mag schon an sich verwundern. Erst wenige Jahre davor hatte die geächtete deutsche Minderheit ihre staatsbürgerlichen Rechte wieder bekommen, waren die letzten der in die Sowjetunion Deportierten aus den Arbeitslagern zurückgekehrt. Und erst zwei Jahre davor hatte die Deportation vieler Banater Schwaben in die Bărăgan-Steppe stattgefunden. In diesen ausweglos scheinenden Zeiten wurde eine Kulturinstitution gegründet, die vielen ein Stück Normalität bringen sollte, oder zumindest einen Lichtschein in dunklen Tagen.
Wurzeln im Schultheater
Das Theater entstand nicht aus dem Nichts. Seine Wurzeln lagen in dem seit 1948 wieder bestehenden Deutschen Lyzeum, wo in Anknüpfung an die Vorkriegstradition sehr bald auf hohem Niveau Schultheater stattfand. Motivation war der starke Wille aller Beteiligten, Lehrer wie Schüler, die kulturelle Identität wieder aufleben zu lassen, ihr wieder ein Umfeld und eine Würde zu geben. Stefan Heinz, unter dem Namen Hans Kehrer ein Urgestein des Schauspielensembles am DSTT, berichtete in der Festschrift zum 20jährigen Bestehen („Zwei Jahrzehnte im Rampenlicht“, hrsg. v. Nikolaus Berwanger und Wilhelm Junesch, Temeswar 1974) über die Inszenierung des Stücks „Emilia Galotti“ im Herbst 1951 am Deutschen Lyzeum unter der Leitung von Rudolf Schati. „Wir trafen uns in der Loga-Gasse, wo damals das Deutsche Lyzeum untergebracht war und arbeiteten an dem Stück. Und alle, die mitmachten (…), sind zu den Proben gekommen, im Hinblick darauf, dass wir heut-morgen ein deutsches Berufstheater haben werden.“
Intendant Vărșăndan betonte in seiner Festtagsrede, dass man hier nicht nur einfach Geburtstag feiere, sondern „den Fortbestand, den Überlebenswillen und die Überlebenskraft wie auch die beachtlichen Leistungen eines Ensembles, das die über zweieinhalb Jahrhunderte alte deutschsprachige Theatertradition dieser Stadt weiterführt.“ Denn bei allem Engagement und aller Euphorie war das Deutsche Theater kein Selbstläufer, auch wenn die deutsche Abteilung bald zusammen mit der ungarischen zu einem eigenen Deutschen Staatstheater aufgewertet wurde. Rudolf Schati war bei der Gründung der erste Theaterleiter, Robert Reiter wurde unter seinem Schriftsteller-Pseudonym Franz Liebhard der erste Dramaturg. Johann Szekler wurde 1956 erster Direktor des dann selbständigen Ensembles. In diesem hatten etliche Schauspieler des von 1933 bis 1944 bestehenden Deutschen Landestheaters in Hermannstadt wieder zusammengefunden, wie z.B. Irmgard und Rudolf Schati, Margot Göttlinger, Ottmar Strasser, Richard Oschanitzky u.a. Mit im Boot war auch der Bühnenbildner Gustav Binder. Mit ihrer Erfahrung und Professionalität prägten sie die jüngere Generation, die zunächst ohne Schauspielausbildung angeworben und angeleitet wurde. Den jungen Quereinsteigern wurden Sprechkurse und Lehrgänge aller Art geboten, die diese dankbar und mit großem Eifer aufnahmen. Prägende Persönlichkeiten des Temeswarer Theaterlebens wie Peter Schuch, Julius Vollmer und Hans Kehrer gehören dieser ersten Schauspieler-Generation an. Weder für die ältere noch für die jüngere Generation war der Anfang aber leicht – und außerdem noch finanziell wenig attraktiv, denn das Anfangsgehalt der Schauspieler betrug ganze 475 Lei!
Nicht nur für Temeswar
Von politischer Seite wurde die Gründung des deutschen Theaters als Errungenschaft der sozialistischen Kulturpolitik gefeiert, die „den wachsenden kulturellen Bedürfnissen der deutschen Werktätigen Rechnung trägt“, wie bei der Nachricht über die Gründung im Neuen Weg zu lesen war. Und der Kulturredakteur Hugo Hausl orakelte schon wenige Tage nach der Gründung im Neuen Weg, dass dieses Theater „nicht lediglich für Temeswar gedacht sei“, sondern „einen beträchtlichen Teil“ der Spielzeit „in den Städten und Gemeinden der Regionen Temeswar und Arad“ zubringen werde. Schon das Schultheater des Deutschen Lyzeums hatte sich diesem kulturellen Auftrag verpflichtet gefühlt, Theater zu den Menschen auf dem Land zu bringen. Das neue Berufstheater hatte dies von Anfang an im Auge und konnte sich der Unterstützung durch Lehrer und Kulturschaffende in den Gemeinden erfreuen, ebenso wie der Gastfreundschaft der Dorfbewohner, die die Schauspieler und ihr Gefolge privat unterbrachten. Bereits 1955 wurde die erste Ausfahrt nach Siebenbürgen und sogar bis Bukarest unternommen. Hier wurden die Temeswarer von Kulturfunktionären und Vertretern diverser Theater freundlich empfangen. Eine besondere Beziehung entwickelte sich schon damals  zum Bukarester Jiddischen Theater, sie hält bis heute an.
1956 wurde die deutsche Abteilung zum Deutschen Staatstheater Temeswar (DSTT), dieses besteht als solches bis heute. Trotz der grundsätzlichen Unterstützung gab es jedoch immer wieder Hindernisse und Klippen zu überwinden. Das in kürzester Zeit zunehmend professioneller werdende Ensemble feierte vor allem ab dem Ende der 1960er Jahre große Erfolge beim Publikum. Das Repertoire wurde immer breiter. Außer Klassikern der deutschen Theaterliteratur kamen bald auch Stücke einheimischer Autoren zur Aufführung. Zum ersten Mal 1957/58 das Stück „Nach dem Gewitter“ von Theaterdirektor Johann Szekler, ein „Banater Volksstück mit Gesang“. Die Liedtexte waren von Hans Kehrer, die Musik von Richard Oschanitzky. Auch weiterhin wurde darauf geachtet, die Lebenswirklichkeit des Publikums im Theater zu berücksichtigen – sofern die politischen Vorgaben dies erlaubten. Themen der jüngeren Geschichte wie die Deportation in die Sowjetunion waren tabu – und doch konnte das Stück „Zwei Schwestern“ von Hans Kehrer 1980 uraufgeführt werden, das sich thematisch damit auseinandersetzte. Unpolitische „Bunte Abende“ mit humorvollen Einlagen in der schwäbischen Mundart (Hans Kehrer als „Vetter Matz vun Hopsenitz“) oder auch im Temeswarer Stadt-Slang (Alexander „Buju“ Ternovits als „Josefstädtler Franzi“) kamen beim Publikum gut an und boten unter anderem auch ein Ventil für die zunehmende Unzufriedenheit mit dem politischen Alltag. Verordnungen und Gesetze trafen auch das Theater, die Zensur redete mit und kontrollierte mehr oder weniger rigoros die Einhaltung der immer strengeren Vorgaben. Dennoch gelangen hochwertige Produktionen, zum Teil im Austausch mit Gastregisseuren aus der DDR (Gera, heute Partnerstadt von Temeswar) oder gar der Bundesrepublik. Es gab auch Gastspiele, u.a. des Ulmer „Theaters in der Westentasche“.
Exodus und Selbstfindung
Gleichzeitig machte dem Theater aber ab den 1980er Jahren auch der zunehmende Schwund seines Publikums und des eigenen Personals durch Auswanderung zu schaffen. „Es gibt kaum ein anderes Theater in diesem Land, das im Laufe seiner Existenz mit widrigeren, ja lebensbedrohlicheren Umständen konfrontiert worden wäre als dieses Haus“, resümierte der Intendant zum 70. Jubiläum. Dass das Theater nach dem Massen-Exodus der 1990er Jahre immer noch besteht, grenzt an ein Wunder. Vărșăndan spricht von „einer neuen Selbstfindung“ zum Beginn dieses Jahrhunderts, die vor allem denen zu verdanken sei, die die Kontinuität zwischen den beiden „Existenzhälften“ der Institution hergestellt haben. Namentlich sind das nach seiner Auffassung vor allem die beiden Schwestern Ildiko Jarcsek-Zamfirescu und Ida Jarcsek-Gaza, die sich nach langen Jahren der Zugehörigkeit zum Ensemble nach der Wende als Intendantinnen, als Spielleiterinnen und nicht zuletzt als Dozentinnen und Mitbegründerinnen der 1992 ins Leben gerufenen Deutschen Schauspielabteilung an der Temeswarer Universität verdient gemacht haben. Denn für das Weiterbestehen des Theaters war Nachwuchs dringend notwendig. Und man musste sich auch auf ein neues Publikum einstellen, das kaum mehr der deutschen Minderheit in der Stadt und im Umland entstammt. Wieder macht sich hier die Zusammenarbeit mit der Schule bemerkbar, denn der Schauspielnachwuchs rekrutiert sich hauptsächlich aus den seit 25 Jahren bestehenden Schultheatergruppen am nach wie vor deutschsprachigen Lenau-Lyzeum. Die Theatergruppe NiL (mittlerweile gestaffelt nach Altersgruppen) wurde von der Schauspielerin und ehemaligen Lenauschülerin Isolde Cobeț ins Leben gerufen und über Jahre betreut, mittlerweile wird sie von jüngeren Kolleginnen entlastet. Einige der theaterbegeisterten Schüler schaffen es von dort in die deutschsprachige Schauspielklasse an der Temeswarer Universität. Nach der Wende wurde auch ein erfolgreicher Austausch mit Theatern aus dem deutschen Sprachraum möglich – Dozenten, Regisseure und Schauspieler aus Deutschland und Österreich sorgen mit Gastverträgen dafür, dass das Theater nicht in der eigenen „Blase“ bleibt.
Spätestens jetzt könnte man sich fragen, welche Funktion ein Deutsches Theater in Temeswar heute noch hat, dessen Ensemble und dessen Publikum mehrheitlich aus rumänischen Muttersprachlern besteht. Eine Antwort darauf ist, dass, ähnlich wie beim Schulunterricht und bei der Brauchtumspflege, eine Tradition fortgeführt wird. Andererseits betont Intendant Vărșăndan bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass es sich beim Temeswarer Deutschen Theater nicht um eine subventionierte Alibi-Bühne aus Traditionsbewusstsein handelt, sondern um ein „hoch professionelles Ensemble, das eine „beachtliche, zeitgemäße und in weiten Zuschauer- und Fachkreisen anerkannte Leistung“ erbringt und regelmäßig Preise bei Theaterwettbewerben erringt. Ein hauptsächlich junges Ensemble stemmt pro Spielzeit ein anspruchsvolles Theaterprogramm mit 130 Aufführungen aus fünf Premieren und zwölf  Wiederaufnahmen. Das Repertoire fühlt sich einerseits der deutschsprachigen Theaterliteratur (auch der zeitgenössischen) verpflichtet, beschränkt sich andererseits aber nicht darauf. Die lokale Verwurzelung des Hauses zeigen Produktionen wie „Niederungen“ nach Herta Müller, „Tagebuch Temeswar“ oder die jüngste viel beachtete Darstellung des Freikaufs der Rumäniendeutschen „Menschen. Zu verkaufen.“ der Regisseurin Livia Vidu.
Die Erfolgsbilanz kann sich sehen lassen, doch sie ist kein Selbstläufer. und die Existenz des Theaters hing erst vor ein paar Jahren wieder am seidenen Faden: Als Nicolae Robu Bürgermeister von Temeswar war, wurde das Theater kaum unterstützt.  Das ging so weit, dass der Vertrag des Intendanten Vărșăndan aus fadenscheinigen Gründen nicht verlängert wurde und er seine Stelle  nur durch eine Klage wieder bekam. Die Aktivität des Theaters lag dadurch lange Zeit auf Eis, mit schmerzhaften Konsequenzen.
Ein kostbarer Schatz
Die Geschichte des Deutschen Theaters in Temeswar ist noch nicht zu Ende. Es erfreut sich heute wieder der wertschätzenden Unterstützung durch die Stadt Temeswar, seine Trägerin und Förderin, und hat sich auch im Kulturhauptstadt-Jahr aktiv mit Angeboten eingebracht. Seither steht auch fest, dass das Deutsche Staatstheater in den kommenden Jahren zum Haupthaus eine weitere Spielstätte bekommen wird, einen Atelier-Saal in der Temeswarer Fabrikstadt. Das DSTT startet seine neue Spielzeit mit dem Stück „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf in der Regie von Irisz Kovacs. Es nimmt damit an einem Frauen-Regiefestval teil. Aus dem Repertoire des DSTT sind derzeit noch Stücke von Carlo Goldoni, Florian Zeller, José Rivera und Gabriel Garcia Marquez zur Aufführung vorgesehen.
In seiner Festrede richtete der Intendant seinen Blick nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch hoffnungsvoll auf die Zukunft des Theaters. Er bat sein Publikum, diesem treu zu bleiben und es weiterhin zu lieben, „zumal es so kostbar ist und – einem Wunder gleich – Zeiten überlebt hat, in denen viele andere an seiner Stelle schon längst aufgegeben hätten.“