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Dichter und Publizist im Räderwerk der Geschichte: Zum 125. Geburtstag von Robert Reiter alias Franz Liebhard

Robert Reiter alias Franz Liebhard 1899-1989 Foto: Archiv BP

Franz Liebhard, Ehrenvorsitzender des AMG-Literaturkreises, im Kreise junger Autoren und Redakteure der NBZ. Foto: Archiv Luzian Geier

Vielseitig und produktiv wie kaum ein zweiter banatdeutscher Journalist und Dichter, Übersetzer und Kulturhistoriker war Robert Reiter/Franz Liebhard Zeuge und Betroffener einer Reihe historischer Ereignisse und Wendepunkte des 20. Jahrhunderts. Als Student mit neunzehn Jahren in Budapest erlebte er die Wirren der ungarischen Revolution 1918/19 und weitere Folgen des ersten Weltkriegs mit der Teilung des Banats. Der Zweite Weltkrieg und den Abtransport zur „Aufbauarbeit“ in die Sowjetunion im Januar 1945 ereilten ihn in Temeswar in der Mitte seines Lebens. Bei der Heimkehr von der Zwangsarbeit mit einem Krankentransport fand er kommunistische Verhältnisse vor, in die er sich allmählich einlebte.  In der Öffentlichkeit nannte er sich fortan Franz Liebhard. Unter diesem Namen kannte ihn wohl die Mehrheit der Banater Deutschen in den Nachkriegsjahrzehnten. An seine Lebensleistung als Dichter und Kulturpublizist, als Mitgestalter und bewahrender Zeuge des kulturellen Lebens der Banater Deutschen, insbesondere des Kulturgeschehens in seiner Heimatstadt Temeswar, soll hier aus Anlass seines 125. Geburtstags erinnert werden.
Lebensmitelpunkt Temeswar
Geboren wurde Robert Reiter am 6. Juni 1899 in Temeswar. Die Jahre im Elternhaus, in der Fabrikstädter Schule und in der Staatlichen Oberrealschule, heute Lenau-Schule, führten zur engen Bindung an seine Heimatstadt und das Banat, dessen Menschen und Geschichte er späterhin sein journalistisches und kulturhistorisches, zum Teil auch sein dichterisches Lebenswerk widmen sollte. Die rund fünf Dutzend im Band Banater Mosaik (Bukarest, 1976) versammelten Beiträge bezeugen diese dauerhafte Beziehung und sind bis heute eine Fundgrube für jeden am Banat sowie speziell an Temeswar geschichtlich und kulturell interessierten Leser. „Ich bin ein geborener Temeswarer“, sagte er in einem Gespräch mit Nikolaus Berwanger. Und: „Durch meine väterlichen Großeltern Banater Schwabe. Und da mischt sich noch ein slowakischer Faktor hinein. Er kommt von der mütterlichen Seite her. Ich habe gelernt, im Sinne von mehreren Völkern zu denken, im Sinne von mehreren Völkern zu sprechen. Und ich kann heute, da ich vor meinem 80. Geburtstag stehe, sagen, es war für mich ungemein interessant (…), zu wissen, zu spüren, zu empfinden, dass ich eine Zusammensetzung bin, eine Zusammensetzung von mehreren Völkern, von Menschen verschiedener Sprache.“
Die deutschen Schulen im Banat waren zu Robert Reiters Gymnasialzeit der repressiven Nationalitätenenpolitik der Budapester Regierung zum Opfer gefallen. Seine frühen Texte verfasste er in ungarischer Sprache. Nach seinen Studienjahren in Budapest (1917-1919) und Wien (1922-1924) vollzog er den „bruchartigen und endgültigen Übergang vom Schaffen in ungarischer Sprache zu dem in deutscher Sprache“, so sein ungarischer Dichterfreund József Méliusz,  der darin „eine Art Persönlichkeitswandel“ sah. (Vorwort zu Banater Mosaik, S. 5).
Expressionist und Übersetzer
Für Robert Reiters Zugang zur europäischen Geisteswelt und zur Dichtung der Moderne waren die Jahre in den Metropolen Budapest und in Wien entscheidend. Die revolutionären Umbrüche nach dem Ersten Weltkrieg, der unmittelbare Kontakt zu den ungarischen Expressionisten sowie die kreative Aufnahme der österreichischen, deutschen und französischen Moderne sollten nicht nur auf seine frühen Gedichte in ungarischer Sprache, sondern auch auf seine spätere Lyrik in deutscher Sprache  nachhaltig wirken.
In der von Lajos Kassák in Budapest (ab 1916) und dann in Wien (bis 1924) herausgegebenen expressionistischen Zeitschrift Ma (Heute) publizierte  Robert Reiter 1917 sein erstes Gedicht Erdö (Wald).  Weitere dreißig Gedichte in ungarischer Sprache folgten. Es ist nicht zuletzt der verdienstvollen Temeswarer Übersetzerin Erika Scharf zu verdanken, dass dieser dichterische Beitrag Robert Reiters zur europäischen Moderne ab 1973 allmählich wieder entdeckt wurde und schließlich gesammelt erschienen ist im von Max Blaeulich herausgegebenen Band Abends ankern die Augen (Wieser Verlag Klagenfurt-Salzburg, 1989). Man kann von der Ironie eines Dichterschicksals sprechen! Denn der Dichter Robert Reiter, der zu den namhaften ungarischen Avantgardisten zählte, war sieben Jahrzehnte verschollen, wurde erst kurz vor seinem Tod  im deutschen Sprachraum wieder entdeckt und seine Dichtung gewürdigt. So schrieb die Neue Zürcher Zeitung vom 3.12.1989: „ (...) Diese die Atmosphäre der Zeit verströmenden Gedichte – ein Projekt gegen das ohnmächtige Elend und den Massenmord des Krieges – [sind] eine politische Tat, eine Gebärde der Zeit“.
Gewiss hat die früh einsetzende Übersetzungstätigkeit  Reiters seine hohe Sensibilität für poetische Formgebung gefördert. Seine Übersetzungen aus dem Französischen – etwa Rimbaud und Apollinaire – ins Ungarische sowie die der deutschen Expressionisten J. R. Becher, August Stramm, Ludwig Rubiner, Yvan Goll, Karl Otten u.a. sprechen dafür. Wie sehr Robert Reiter von anderen Literaturen fasziniert war und es vermochte, in mehreren Sprachen zu leben, zeigen desgleichen seine hoch geschätzten Übertragungen aus der rumänischen und ungarischen Literatur ins Deutsche. Man hat es ihm gedankt, denn seine  eigenen, deutsch geschriebenen Gedichte wurden  auch ins Rumänische und Ungarische übersetzt.
Kulturjournalist in der Zwischenkriegszeit
Nach seiner Rückkehr 1925 aus Wien in seine Heimatstadt trat Robert Reiter vor allem als Journalist und Essayist hervor. Neben dem Tagesgeschehen  – Redakteur und ab 1929 Chefrdakteur der Banater Deutschen Zeitung – wandte er sich immer intensiver der Geschichte, Kultur und Kunst des Banats zu.
Hier ist es an der Zeit, an den Familienvater Robert Reiter zu erinnern. 1928 heiratete er die  Temeswarerin Luisa Kristitsch. 1929 wird der Sohn Hans-Gerhard geboren, 1931 die Tochter Helga-Magdalena. Doch bald sollte das zerstörerische Räderwerk der Geschichte die Familie Reiter, wie so viele andere Familien im Banat, hart treffen. Über seine Deportation in die Sowjetunion, die in seiner Biographie lange verschwiegen wurde, wissen wir wenig. Helga Reiter-Ciulei hat dem Verfasser dieses Beitrags zwei Briefe Robert Reiters aus Russland freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Es sind erschütternde Zeugnisse eines verzweifelten Gefangenen, dem die Sehnsucht nach den Lieben zu Hause und sein Umgang mit der Dichtung die Kraft zum Überleben gibt. Wir erfahren  von seiner schweren Erkrankung im Lager, aber auch von der Hilfsbereitschaft der Ärzte in unmenschlicher Umgebung. Gelindert wurde die seelische und physische Notlage des deportierten Dichters durch Lese-Erlebnisse unterschiedlicher Art, darunter auch Goethes Faust, und durch das Schreiben von Gedichten. In einem der Briefe sind zwei Gedichte enthalten, die offensichtlich im Lager entstanden sind. Robert Reiter kehrte gleichsam als Franz Liebhard 1948 aus der Sowjetunion zurück nach Temeswar. Hinfort publizierte er unter diesem Namen. Nur seine Bekannten nannten ihn Reiter. Er hatte den Namen eines seiner Leidensgefährten, eines deportierten Siebenbürger Sachsen, angenommen, dessen Tod in seiner unmittelbaren Nähe ihn zutiefst erschütterte. Dies erzählte er dem Verfasser dieses Beitrags bei einem Gespräch in seinem Arbeitszimmer Ende der 1970er Jahre.
Kulturelle Instanz der Rumäniendeutschen
Den Journalisten und Dichter „am Puls der Zeit“ hielt es nicht lange außerhalb des öffentlichen Geschehens. Er engagierte sich für das Kulturleben der deutschen Bevölkerung als Initiator und Mitgründer des Temeswarer deutschen Literaturkreises 1949, dessen Ehrenpräsident er noch bei der Auflösung 1984 war. Er gilt als Spiritus rector der Literaturzeitschrift Banater Schrifttum, die 1949 in Temeswar gegründet worden und ab Mitte der fünfziger Jahre als Neue Literatur in Bukarest erschienen ist. Schließlich sorgte Franz Liebhard als Mitgründer und dann  Dramaturg des Deutschen Staatstheaters Temeswar von 1953 bis 1968  für ein niveauvolles Repertoire, das – trotz der sozialistischen, parteipolitischen Bevormundung –  kontinuierlich auch Stücke der deutschen und weltliterarischen Klassik und Moderne vermittelte.
Franz Liebhards (publizierte) Lyrik war indesssen  bis zum Ausklingen der stalinistischen  Ära in den endfünfziger Jahren weitgehend der staatlich verordneten,  parteipolitischen  Kulturpolitik verpflichtet. Neben der Thematisierung des „sozialistischen Aufbaus“ griff der Dichter auch spezifische Fragen der   deutschen Bevölkerung des Landes auf. Als Versuch der „Vergangenheitsbewältigung“ nach dem katastrophalen Kriegserlebnis und den Folgen kann wohl der Gedichtband  Schwäbische Chronik. (1952) oder der Gedichtzyklus Es waren zwei schwäbische Jungen (1954) gedeutet werden. .Ungleiches steht sodann im Band Glück auf  (1959) nebeneinander.
Franz Liebhard war in den Sog der Zeit geraten, und dies nicht erst nach der Deportationserfahrung. Als Spätgeborene, die heute die Geschichte und Literatur frei bewerten können – was Irrtümer selbstverständlich nicht ausschließt – sollten wir aber nicht von einer Warte der Besserwissenden und Unfehlbaren urteilen, sondern den Dichter kritisch, aber gerecht aus seiner Zeit heraus zu deuten versuchen. Bleiben wird aus meiner Sicht in der banatdeutschen Literaturgeschichte Franz Liebhard als Meister der strengen Form, wie wir ihm in seinen Sonetten und Stanzen begegnen.
Der Gedichtband „Miniaturen“
Franz Liebhards Gedichte aus mehreren Jahrzehnten, vorwiegend aus der Zwischenkriegszeit, die gesammelt erst 1972 im Band Miniaturen erschienen sind, sowie seine Sonette sind von der damaligen Kritik in Rumänien zwiespältig aufgenommen worden. Sie seien ideologisch unklar, lautete ein oft geübter Vorwurf. Der Dichter gab seinen Miniaturen  einen eigenen Kommentar mit auf den Weg, in dem es heißt: „Meine Lyrik innerhalb des ungarischen Exprressionismus hatte die Form von Prosa-Gedichten. Als ich in deutscher Sprache zu schreiben begann,  Ende der zwanziger Jahre, war ich auf der Suche nach einer neuen Ausdrucksweise. Damals entstanden meine Miniaturen, Achtzeiler, die aber erst Jahrzehnte nachher und zum Teil mit jüngst verfassten in der Neuen Literatur veröffentlicht wurden... Diese Gedichte sind, wie ich sie empfinde, traditionell, aber auch modern. Ich will, dass der Leser versteht, was ich sage.“ Obgleich das politische Engagement und damit die Zielrichtung Liebhardscher Lyrik sich in den gut fünf Jahrzehnten seit seinem expressionistischen Debüt vordergründig gewandelt hatte, klingen auch in den nachexpressionistischen Miniaturen spezifische Motive und Haltungen dieser Strömung an. Ganz im Zeichen des Expressionismus stehen beispielsweise die Stanzen Hunger, Proleten, oder Arme: . „...verblutende Welten röcheln, / und niemand steht uns bei". Die Vielfalt der sprachlichen Ausgestaltung innerhalb der strengen Form der Stanze reicht vom achtzeiligen komprimierten Bericht bis hin zu philosophisch vertieften Sprachbildern von seltener Leuchtkraft. Spürbar ist das Selbstverständnis des Dichters als Suchender und Verkünder mit zutiefst humaner Gesinnung. Trotz aller modern anmutenden Umbrüche blieb er im Kern den Grundwerten der Aufklärung und Klassik verpflichtet.
Gewürdigt wurde Franz Liebhard wiederholt als Dichter und als herausragende Persönlichkeit des deutschen Kulturlebens seiner Heimat Banat und der rumäniendeutschen Kultur insgesamt. Seine bleibende Lebensleistung in diesem Kontext ist unbestritten. Der namhafte  Banater Dichter und Übersetzer Hans Diplich (1909-1990) – er lebte nach 1945 im Westen – gratulierte  Robert Reiter vor einem halben Jahrhundert zum Geburtstag: „Sie blicken auf ein reiches und erfülltes Geistesleben zurück [...] Ihr Name ist vor allem mit Ihrer Heimatstadt verbunden, mehr als die Namen Ihrer Zeitgenossen. Was Ihnen besondere Befriedigung gewahren wird, ist Ihre dichterische Leistung: Sie fanden in der deutschen Sprache schließlich den Ton zu gültiger Aussage und schufen dauerhafte bleibende Gedichte. Daneben stehen zahllose kulturpolitische Essays, die wir, Ihre Weggenossen und noch spätere Nachfahren mit Genuss und Gewinn lesen.“