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Das Geschenk der leeren Hände

Trotz ihrer erfolgreichen Arbeit für Geflüchtete und Vertriebene und ihres wichtigen Beitrags zu deren Integration in die bundesdeutsche Gesellschaft war Annemarie Ackermann (1913–1994), die erste und einzige donauschwäbische Bundestagsabgeordnete, in der öffentlichen Wahrnehmung kaum präsent. Selbst in den landsmannschaftlichen Verbänden der Donauschwaben genoss sie nie den Ruf, den sie verdient hätte. Das war schon zu ihren Lebzeiten so. Im Gegensatz zu ihrem Landsmann Dr. Josef Trischler (1903-1975), der von 1949 bis 1953 dem Deutschen Bundestag angehörte und viele Jahre dem Rat der Südostdeutschen vorstand, wurde Annemarie Ackermann in der donauschwäbischen Presse nur selten Aufmerksamkeit zuteil. Ihr Wirken erfuhr kaum Würdigung, auch anlässlich von Geburtsjubiläen wurde sie geflissentlich übersehen.
Erst in den letzten Jahren wendete sich die öffentliche Wahrnehmung in Bezug auf die aus Parabutsch (heute Ratkovo) in der Batschka stammende Politikerin. So wurde 2021 in Bad Schönborn, der Patengemeinde der Parabutscher, eine neue Wohnstraße nach Annemarie Ackermann benannt. Im Jahr darauf erschien das von dem Dokumentarfilmer Sebastian Grießl realisierte Filmporträt „Annemarie Ackermann, mehr als eine Bundestagsabgeordnete“. Und nun legte Dr. Gudrun Hackenberg mit ihrem im Ulmer danube books Verlag erschienenen Buch „Das Geschenk der leeren Hände. Annemarie Ackermann – eine Biografie“ die „zwischen Donau und Rhein verortete Lebensgeschichte“ dieser beeindruckenden und inspirierenden Frau vor. Die Autorin, deren Vorfahren mütterlicherseits aus dem Banat stammen, studierte Philosophie und Erwachsenenbildung. Sie hatte Ria Schneider, Ackermanns älteste Tochter, auf einer Reise, die in die ehemaligen Siedlungsgebiete der Donauschwaben führte, kennengelernt und war von deren Erzählungen über ihre Mutter fasziniert. So reifte die Idee, eine Biografie über Annemarie Ackermann „auf der Grundlage von Oral History und Quellenanalysen“ zu schreiben.
Zahlreiche Gespräche mit Ria Schneider, die ihr Privataufzeichnungen, Briefe, Zeitungsartikel und Tonbandaufnahmen zur Verfügung stellte, mit weiteren Familienangehörigen und Zeitzeugen bildeten den Ausgangspunkt. Um den Erzählungen „die erforderliche Validität und Tiefe zu verleihen“, erschloss die Autorin weitere Quellen im Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde Tübingen, im Bundestags- und Bundespressearchiv sowie im Institut für Zeitgeschichte München. Zudem holte sie sich Rat von renommierten Südosteuropa-Historikern ein.
Entstanden ist ein lesenswertes Buch, das die Biografie Annemarie Ackermanns, die gleichermaßen von Kontinuitäten wie von Brüchen geprägt ist, ihre Wesensart und die Merkmale ihrer Persönlichkeit wie auch ihr politisches Wirken einfühlsam nachzeichnet – eingebettet in den jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext. Nur vor diesem oftmals wechselnden Hintergrund lässt sich ihre Lebensgeschichte, die auch ein Stück südosteuropäische und deutsche Geschichte widerspiegelt, nachvollziehen. Obwohl die Biografie naturgemäß in der Vergangenheit verankert ist, war es der Autorin ein Anliegen, sie in der Gegenwart zu verorten. „Gegenwärtiges schimmert immer wieder durch oder spiegelt sich im Fluss des Erzählens“, schreibt sie einleitend. Ausgehend von der Lebensgeschichte der porträtierten Person stellt Hackenberg wiederholt Bezüge zur heutigen Zeit her und regt damit den Leser zu reflektierendem Denken an.
Die mit einem Vorwort der Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Natalie Pawlik MdB, versehene Biografie gliedert sich in acht Kapitel. Die beiden ersten sind dem in der Batschka verbrachten Lebensabschnitt gewidmet. Annemarie Ackermann, geborene Eisemann, Jahrgang 1913, verlor schon früh ihre Eltern und wuchs bei den Großeltern auf. Sie besuchte die Klosterschule in Batsch und die Höhere Töchterschule in Graz. Als ihre ältere Schwester 1930 bei der Geburt des Sohnes Otto starb, löste Annemarie das ihr gegebene Versprechen ein, sich des Säuglings anzunehmen und ihren Mann Matthias Ackermann, einen Arzt aus Parabutsch, zu ehelichen. Das Ehepaar, das 1934 nach Neusatz (Novi Sad) umzog, bekam drei Kinder und führte ein gutbürgerliches Leben. Wie Gudrun Hackenberg aufzeigt, fügte sich Annemarie Ackermann schon als junge Frau nicht dem damals vorherrschenden Rollenbild der Hausfrau und Mutter. Sie beanspruchte den öffentlichen Raum, indem sie sich im Bauernverein, im Schwäbisch-Deutschen Kulturbund und in der Frauenschaft engagierte. Ob sie die Tragweite des Einflusses der sogenannten Erneuerungsbewegung, die nationalsozialistisch und volksdeutsch gleichsetzte, richtig eingeschätzt habe, könne aus heutiger Sicht bezweifelt werden, so die Autorin.
Infolge des Vormarsches der Roten Armee flüchtete die Familie Ackermann im Oktober 1944 aus der seit 1941 von Ungarn besetzten Batschka. Damit begann ein „Etappenreicher Weg ins Ungewisse“, so der Titel des dritten Kapitels. Für die schwangere Annemarie und ihre drei Kinder (ihr Ehemann und Sohn Otto hatten einen anderen Fluchtweg eingeschlagen) war es nicht nur ein langer, sondern auch ein äußerst beschwerlicher, zuweilen lebensgefährlicher Weg, der über Ungarn nach Österreich (im Luftschutzkeller des Mödlinger Krankenhauses schenkte sie im Februar 1945 ihrem jüngsten Sohn das Leben), dann wieder zurück nach Ungarn und von dort schließlich erneut nach Österreich führte, wo sie ihren Mann wieder traf. Als Displaced Persons lebten die Ackermanns mehrere Jahre in verschiedenen Lagern und zuletzt in einer kleinen Wohnung in der Siedlung „Neue Heimat“ außerhalb von Linz. Es sei Annemaries Mut zu verdanken gewesen, dass die Familie, die sich in Österreich keine berufliche Existenz aufbauen konnte, einen Neuanfang wagte, so Hackenberg.
Über diesen Neuanfang 1951 in Landau in der Pfalz handelt das nächste Kapitel. Als Geflüchtete wurden sie auch hier nicht mit offenen Armen empfangen. „Wir waren nix, gar nix, wir waren Volksdeutsche“, zitiert die Autorin Annemarie Ackermann. Das wollte sie nicht hinnehmen und sie unternahm alles, um von der hiesigen Bevölkerung akzeptiert zu werden. Schon bald nach ihrer Ankunft engagierte sie sich im sozialen Bereich und im Flüchtlingswesen, gründete in Landau mit den dort gestrandeten Landsleuten eine Jugend- und Trachtengruppe, schloss sich der CDU und dem Katholischen Frauenbund an. Um sich für Geflüchtete und Vertriebene einzusetzen, führte Ackermanns Weg schließlich in die Politik.
Im fünften Kapitel wird ihr politisches Wirken abgebildet. Zu ihrem Bundestagsmandat kam Ackermann 1953 „fast wie die Jungfrau zum Kind“. Die CDU hatte sie – zu ihrer eigenen Überraschung – auf Platz 10 der Landesliste Rheinland-Pfalz gesetzt. Sie erhielt ein parlamentarisches Mandat, das sie auch in der dritten Wahlperiode des Deutschen Bundestages (1957-1961) behielt. Aufgrund des schlechten Wahlergebnisses der CDU gelang ihr 1961 zunächst kein erneuter Einzug in den Bundestag, zu Beginn des Jahres 1965 konnte sie jedoch bis zum Ende der vierten Legislaturperiode im Oktober 1965 nachrücken.
Als Annemarie Ackermann in den zweiten Deutschen Bundestag kam, lag der Frauenanteil bei 8,8 Prozent. Sie musste sich in einer Männerwelt behaupten und hatte als weibliche Displaced Person, die zunächst keine deutsche Staatsangehörigkeit besaß, „einen weitaus geringeren Einflussbereich“. Dennoch brachte sie sich in die Arbeit der Ausschüsse, denen sie angehörte, ein und genoss den Ruf einer fleißigen Parlamentarierin. Selbst Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte sie als „fleißige Ameise“ bezeichnet. Sie setzte sich mit Nachdruck für die Belange der Flüchtlinge und Vertriebenen ein und hatte maßgeblichen Anteil an der Formulierung der diese Personengruppe betreffenden Gesetze. Aufgrund der Auswertung der Protokolle des Verteidigungs-, Vertriebenen- und Lastenausgleichsausschusses, deren Mitglied Ackermann war, gelingt es der Autorin, die Schwerpunkte ihrer parlamentarischen Arbeit zu definieren und ihre Mitwirkung an wichtigen Gesetzesvorhaben (z.B. das Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit) oder Regelungen in Bezug auf das 1952 verabschiedete Lastenausgleichsgesetz (Festsetzung der Bemessungsgrundlage für die verlorenen Vermögenswerte) hervorzuheben. Gudrun Hackenberg geht auch auf weitere Aspekte der politischen Arbeit von Ackermann ein, unter anderem auf ihr Engagement für Frauen sowohl in Deutschland als auch in Europa, ihren Einsatz für die Flüchtlinge und Vertriebenen in Österreich oder für die Freilassung von inhaftierten Ordensfrauen und Priestern aus Rumänien.
Aus den Ausführungen der Autorin geht hervor, dass Ackermann eine nahbare, den Menschen, insbesondere ihren notleidenden Mitbürgern, zugetane Politikerin war, die es vor allem außerhalb des Parlaments, bei Wahlveranstaltungen oder Sprechstunden, vermochte, die Menschen zu begeistern.
Ein weiteres Kapitel ist der Afrikareise der Bundestagsabgeordneten gewidmet. Ackermann gehörte der ersten Goodwill-Delegation des Deutschen Bundestages an, die nach dem Zweiten Weltkrieg Afrika im Jahr 1959 – also ein Jahr vor der Dekolonisation des Kontinents – besuchte. Anhand ihrer Tagebuchnotizen rekonstruiert die Autorin die Etappen dieser Reise, in deren Verlauf sich Ackermanns Blick insbesondere auf die von sozialer Hierarchie und Fremdherrschaft geprägten Lebensumstände der Menschen richtet.
Abschließend greift die Autorin den Titel des Buches auf und resümiert Ackermanns Lebensgeschichte. Den Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung, die sie als Frau, als Geflüchtete und als Politikerin gemacht hat, setzte sie ihr engagiertes und mutiges Wirken in der Öffentlichkeit entgegen. „Es war nie Annemarie Ackermanns Ziel gewesen, Politikerin zu werden. Ihr Beruf war ein Geschenk des Lebens an sie. (..) Als eine in vielen Bereichen empathische Person verfügte sie über soziales Gespür. Dabei ließ sie sich von der Verantwortung, die sie besonders für die Geflüchteten und Vertriebenen fühlte, leiten“, so Hackenberg.
Annemarie Ackermann, die von 1962 bis 1978 als Referentin für Gastarbeiterfragen im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung in Bonn gearbeitet hat, starb 1994 im 81. Lebensjahr in Königswinter bei Bonn. Dass sie uns nun in ihrer menschlichen Größe und ihrem politischen Handeln begegnet, ist ein Verdienst ihrer Biografin.

Gudrun Hackenberg: Das Geschenk der leeren Hände. Annemarie Ackermann – eine Biografie. Ulm: danube books Verlag, 2024. 203 Seiten. ISBN 978-3-946046-39-4. Preis: 22 Euro