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Der literarischen Moderne zugehörig

Gerhard Ortinau (links) bei der von Walter Engel moderierten Lesung im Rahmen des Kulturnachmittags des Kreisverbandes Reutlingen.

Sein Name wird stets genannt, wenn von der „Aktionsgruppe Banat“ die Rede ist, denn Gerhard Ortinau gehört zum Kern dieses Freundeskreises junger banat-deutscher Autoren, die in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im rumäniendeutschen Literaturbetrieb für frischen Wind sorgten. Als junge, selbstbewusste Generation wandten sie sich gegen die traditionelle Heimatliteratur; sie suchten und erreichten in ihrem Schreiben die Annäherung an die literarische Moderne der Nachkriegszeit im deutschen Sprachraum. Dies bedeutete auch eine kritische Distanz zur banat-schwäbischen Literaturtradition und und zu überlieferten Lebensformen. Dass es dabei zu Überspitzungen, zu Missverständnissen und heftigen Kontroversen innerhalb der kleinen banat-schwäbischen Öffentlichkeit kam, ist bekannt. Doch die Öffnung zum damals aktuellen deutschen Literaturgeschehen – es handelte sich vor allem um jenes in Westdeutschland und Österreich – und die daraus resultierende Erneuerung der banat-deutschen Literatur bedeutete auch eine gewissermaßen non-konforme Haltung gegenüber der ideologisch gelenkten und verkrusteten Kulturpolitik in Rumänien. Die Reaktion des kommunistischen Machtapparates blieb nicht aus. Die jungen Autoren gerieten ins Visier des rumänischen Geheimdienstes Securitate. Die Aussiedlung in den Westen war schließlich auch für sie die einzige Lösung.

Die Erfahrungen der siebziger Jahre waren prägend für den Autor Gerhard Ortinau, geboren 1953, und hatten weitreichende Auswirkungen auf seinen späteren Lebensweg und auf seine Arbeit als Schriftsteller, was eher seinen Texten zu entnehmen ist als selbstbiographisch unterlegten Auftritten in der Öffentlichkeit, die ihm fremd sind. In seinem noch in Rumänien publizierten Kurzprosa-Band „verteidigung des kugelblitzes“ (Klausenburg, 1976) jedoch finden sich Hinweise auf frühe Verletzungen und bedrückende Erinnerungen. Mitten im Buch steht die „Kleine Geschichte“, hier ein Auszug daraus: „Den Erzählungen meiner Eltern ist zu entnehmen, dass ich am späten Abend in einer Art schilfgedeckter Erdhütte geboren wurde. Im Zimmer befand sich das Wichtigste. Draußen hatten die Leute tagsüber Tunnels in den mannhohen Schnee geschaufelt, mittlerweile hatte sie aber der Sturm schon wieder zusammengewirbelt ... Ich erblickte am 17. März des Jahres 1953 in dem Weiler Movila Gîldaului das Licht des Baragans. Alles andere erfuhr ich aus Büchern und aus Zeitschriften ...“ Der Kurztext „Der Flüchtling“ (1979) ließe sich hier anfügen.

Gerhard Ortinau ist in der Gemeinde Sackelhausen bei Temeswar aufgewachsen. Er besuchte das Lenau-Lyzeum und studierte anschließend Germanistik und Romanistik an der Universität Temeswar. In seiner Studentenzeit fand der literarische Freundeskreis „Aktionsgruppe Banat“ zusammen, heute ein fester Begriff in der neueren deutschen Literaturchronik. 1975 wurde Ortinau zusammen mit anderen Mitgliedern der Gruppe verhaftet und verhört. Die Drangsalierungen durch den Geheimdienst, denen das Publikationsverbot für den Dichter folgte, nahmen immer schärfere Formen an. Erst nach Einsichtnahme in seine Securitate-Akte wurde sich Gerhard Ortinau des Ausmaßes der Überwachung bewusst, der er und seine Freunde ausgesetzt waren. Im Gespräch, anschließend an seine Lesung
vor Banater Landsleuten in Reutlingen, sagte Gerhard Ortinau unter anderem: „Meine Wohnung war vollständig verwanzt. Bei mir fanden viele Begegnungen statt. Alles wurde abgehört. Auch das Privatleben war dabei. Es ist wirklich unheimlich, wie weit diese Niederschriften gehen ... Was ich über mich und mein Verhalten erfahre, ist erstaunlich.“ 1980 konnte Gerhard Ortinau in den Westen Deutschlands ausreisen.

Als Siebzehnjähriger hat er seinen ersten literarischen Text veröffentlicht. Zahlreiche Publikationen, Lyrik und Kurzprosa, folgten in rumäniendeutschen Periodika, vor allem in der Bukarester Zeitschrift „Neue Literatur“. Aufsehen erregte sodann der junge Schriftsteller bei der Fachkritik mit dem Band „verteidigung des kugelblitzes“, dessen Texte auch heute, nach nahezu vier Jahrzehnten seit der Veröffentlichung, als herausragende moderne Prosa wahrgenommen werden. Der Autor selbst steht zu Recht auch zu seiner in jenen Jahren entstandenen Lyrik. Eine Auswahl daraus ist 2010 unter dem Titel „Am Rande von Irgendetwas“ im hochroth-Verlag Berlin erschienen, herausgegeben von Ernest Wichner. In allen Anthologien der „Aktionsgruppe“ ist Gerhard Ortinau vertreten, von der Sonderausgabe der Literaturzeitschrift „die horen“ (3. Quartal 1987) bis zum Reclam-Band „Das Land am Nebentisch“ (Leipzig, 1993). Der Titel der bei Suhrkamp erschienenen Anthologie „Ein Pronomen ist verhaftet worden“ (Frankfurt a.M., 1992) ist seinem vielzitierten Gedicht „Moritat von den zehn Wortarten der traditionellen Grammatik“ entnommen, das er mit einundzwanzig Jahren geschrieben hat. Es gilt nicht nur als exemplarisch für Ortinaus dichterische Originalität und Modernität, sondern als Musterbeispiel politisch-oppositioneller Lyrik in einer „gleichgeschalteten“ Gesellschaft, hier des „real existierenden“ Sozialismus. Die ansonsten grammatikalisch beschriebene Hierarchie der Wortarten wird im Gedicht geradezu umfunktioniert in totale Abhängigkeitsverhältnisse, wie sie eben die Diktatur hervorgebracht hat: Das Pronomen wurde „verhaftet“, das Verb „in die Falle gelockt“, die Interjektion „beißt sich auf die Zunge“ usw.

Neben seiner Lyrik und Kurzprosa hat Ortinau auch Theaterstücke verfasst, die an deutschen Bühnen zur Aufführung kamen. „Käfer. Eine deutsche Komödie“ ist in „Theater der Zeit“ (Nr. 6/1997) erschienen und 1997 am Theater der Stadt Heidelberg uraufgeführt worden. Sein Schauspiel „Die Nacht des schlaflosen Kellners“ wurde am Staatstheater Oldenburg in Szene gesetzt (2002). Darin geht es um das Drama einer Frau, zerrissen zwischen Realität und Wahnvorstellungen. Dazu heißt es im Verlagstext (Henschel): „Gerhard Ortinau interessiert die Grauzone zwischen Realität und Absturz ... (die) Bruchstellen zwischen Schuld und Sucht“. Es handle sich um „eine poetisch bestechende Geschichte nach einem authentischen Bericht“. Damit scheinen mir konstante Merkmale des zwar nicht umfangreichen, aber komplexen und tiefgründigen Werkes von Gerhard Ortinau benannt: enger Bezug zum Authentischen, Prägnanz der poetischen Sprache und Gestaltung des Erlebnisraums zwischen Realität und Traumvorstellung.

In seiner Prosa geht er häufig von einem konkreten Erlebnis, von überlieferten Ereignissen oder einer gesellschaftsgeschichtlichen Situation aus: z. B. in „Selbstmord eines Genossen im Jahre 1910. Fortgesetzter Bericht über einen Bericht“, „Notdichter 1937“, „Ein leichter Tod“, „Wehner auf Öland“ (Theatermonolog). Doch nicht das vordergründige äußere Geschehen, sondern die Suche nach inneren Beweggründen, nach den Auswirkungen politischer und sozialer Verhältnisse auf den Menschen, der nicht selten zum Opfer wird, prägt die Substanz dieser Texte. Es sind verborgene Schichten menschlicher Existenz, die ausgelotet werden, so der Zustand zwischen Wirklichkeit und Traum, zwischen Erleben und Erinnerung. Durch seine klare, konzentrierte Sprache und einen zupackenden, eindringlichen Erzählstil und die originelle Anver-wandlung tradierter Formen (Monolog, Novelle, Brief, Bericht) gelingt es Gerhard Ortinau, eine eigentümliche Atmosphäre und echte Spannung in seinen zuweilen ironisch-satirischen und parodierenden Texten zu erzeugen. In seiner recht kurzen, aber intensiven Temeswarer Schaffensphase entstanden Texte mit starkem Banater Lokalkolorit, ohne dass dadurch eine überregionale oder zeitlich weitreichende Wirkung geschmälert würde. Bekanntlich ist der kleinste Geschehnis-Ort gut genug für große Literatur. Dazu zählt sicher auch der nicht unpolitische Text „die pest“, mit dem Hinweis „nach einer lektüre adam müller-guttenbrunns“.

Die Einstellung des jungen Gerhard Ortinau zum Traditionalismus und dem historischen Selbstbild der Banater Schwaben wird deutlich in der ironisch-satirischen „letzten banater story“, einem fingierten „offenen brief“ an den „genossen r. wagner, temeswar“, der phantastischerweise im Jahre 2015 in „luna-city (ost)“, also auf dem Mond geschrieben wurde und von einem Museum mit dem „schmeichelhaften namen lebendiges banat“ handelt. Eine merkwürdige, literarisch-groteske Vorwegnahme realer Geschichte. Zu Adam Müller-Guttenbrunns Werk hat Gerhard Ortinau ein zwiespältiges Verhältnis. Er schätzt die akribische historische Dokumentation, die Adam Müller-Guttenbrunns Romanen zugrundeliegt und auch die Wirkung, die davon zur Zeit ihres Erscheinens ausging: „Ich habe Adam Müller-Guttenbrunn gelesen, auch seine Biographie von Hans Weresch. Ich habe entdeckt, dass er unglaublich zuverlässig ist ... Man kann von Unterhaltungsliteratur sprechen, aber man muss sagen, dass er in wirksamer Form geschrieben hat.“

Gerhard Ortinau ist ein moderner deutscher Schriftsteller von beachtlichem Rang. Er hat bisher kein umfangreiches, aber ein komplexes Werk geschaffen. Nicht nur anlässlich des 60. Geburtstags von Gerhard Ortinau ist seinen Texten eine größere Öffentlichkeit zu wünschen, auch unter seinen Banater Landsleuten.