Hochbetagt und nach einem erfüllten Forschungsleben ist der Heimatforscher Heinrich Lay am 29. Oktober 2022 in Töging am Inn gestorben.
Lay wurde am 5. Juli 1926 in Sanktandres in eine wohlhabende Bauernfamilie hineingeboren. Zunächst besuchte er die Volksschule in seinem Heimatdorf (1935-1939), dann – in den Jahren 1939-1944 – das Gymnasium in der Temeswarer „Banatia“ beziehungsweise nach deren Übernahme durch die Deutsche Volksgruppe in Rumänien im Mai 1941 die Prinz- Eugen-Schule. Schon dort reifte seine Entscheidung heran, Geschichtslehrer zu werden. Wegen der schicksalhaften Ereignisse in der Endphase des Zweiten Weltkriegs konnte dieser Wunsch zunächst nicht in Erfüllung gehen. Der Deportation in die kriegszerstörte Sowjetunion konnte der schmächtige Jugendliche von kleiner Statur durch die finanzielle Intervention seines Vaters und die Fürsprache eines jüdischen Kaufmanns entgehen. Im letzten Moment durfte er Ende Januar 1945 im moldauischen Paşcani, wo der Deportiertentransport auf die russische Breitspur umgestellt wurde, den Zug verlassen.
Hürdenreicher Bildungs- und Berufsweg
Um das Bakkalaureat (Abitur) nachzuholen, besuchte Lay in den Jahren 1947-1950 parallel zu einer Berufsausbildung die Abendkurse am Temeswarer Constantin-Diaconovici-Loga-Gymnasium mit rumänischer Unterrichtssprache. 1950 bestand er die Aufnahmeprüfung an der Fakultät für Geschichte der Universität Klausenburg (heute Babeş-Bolyai-Universität). Wegen seiner Herkunft aus einer politisch unzuverlässigen „Ausbeuterfamilie“ wurde er im Mai 1952 gemeinsam mit sechs weiteren Studenten vom Studium ausgeschlossen. Nachdem er zwei Jahre mehr schlecht als recht seinen Lebensunterhalt in Temeswarer Industriebetrieben und in der Verwaltung des Sanktandreser staatlichen Landwirtschaftsbetriebs (Gostat) verdiente, genehmigte ihm das Unterrichtsministerium nach mehreren Anläufen im Zuge der Entstalinisierung des Landes „mit viel Glück“ die Wiederaufnahme des Studiums. Im Reimmatrikulationsverfahren war ihm der mit einer Temeswarer Deutschen verheiratete damalige Universitätsassistent, spätere Professor und langjährige Dekan der Klausenburger Fakultät für Geschichte und Philosophie Camil Mureşanu (1927-2015) behilflich. Noch vor dem Ungarischen Volksaufstand, im Juli 1956, konnte er das Staatsexamen ablegen. Sein Traum, Archivar im Temeswarer Staatsarchiv zu werden, konnte er wegen seiner „ungesunden (sozialen) Herkunft“ – das wichtigste Ausschlusskriterium bei der Stellenbesetzung im frühkommunistischen Arbeiter-und Bauern-Staat – nicht verwirklichen. So kam er zusammen mit seiner Frau, die Kindergärtnerin war, im Spätsommer 1956 an das damals selbstständige deutschsprachige Gymnasium in Lugosch. Von diesem Jahr bis zur Einreichung des Antrags auf endgültige Ausreise aus dem Land im Jahr 1984, als er aus dem Lehramt entlassen wurde, arbeitete er in Lugosch als Allgemeinschul- und Gymnasiallehrer.
Im geschichtlichen Rückblick herrschte damals im Banat eine allgemeine „Aufbruchsstimmung“: „Man war voll eingebunden in das Leben der Gemeinschaft, die unter grund-legend veränderten Bedingungen ein neues Lebensselbstverständnis als Minderheit suchte“ – so Lay in einem Interview. „Über die Schule und die Kirche fand die deutsche Bevölkerung wieder einigermaßen zusammen. Es war trotz der allgemeinen materiellen Einschränkung und politischer Drangsalierungen eine gute Zeit, irgendwie schaffte man sich als Gruppe so etwas wie eine ,Eigenwelt‘“. Als später das Lyzeum mit dem rumänischen Theoretischen Lyzeum „Coriolan Brediceanu“ – heute das gleichnamige Nationalkolleg (Colegiul Naţio-nal) – zusammengelegt wurde, „kam es zwar zu Einschränkungen vielfältiger Art, der Unterricht und die Kulturarbeit in der Muttersprache waren jedoch nicht wesentlich beeinträchtigt. Jeder hat auf seine Weise einen Weg gefunden, seinen Beruf nicht nur mit bestem Wissen, sondern auch nach bestem Gewissen auszuüben“. So beschreibt Lay aus seiner Selbsterfahrung heraus die schulpolitische Situation an seiner Wirkungsstätte (vgl. dazu Aneta und Walther Konschitzky, Vom erzieherischen Wert der Lokalgeschichte. Gespräch mit dem Banater Historiker Heinrich Lay, in: Banater Kalender, Erding, 2008, S. 106-107). Dieses Erscheinungsbild wird auch von weiteren Aufsätzen zur Schulgeschichte – 50 Jahre deutsche Abteilung der Lugoscher Allgemeinschule Nr. 6 „Anişoara Odeanu“ (1964-2014), [2014]; Probleme des deutschen Lyzealunterrichts am Beispiel Lugosch, in: Banatica. Beiträge zur deutschen Kultur, München, 1998, Nr. 1, S. 31-37 – vermittelt. Aus der Eigenperspektive mag dieses für Lugosch in sich stimmig zu sein, andernorts kann man darüber jedoch geteilter Meinung sein.
Lokalgeschichte im Unterricht
Geschichte war für den Lehrer Heinrich Lay „ein narrativer Gegenstand“. Es lag seines Erachtens „in erster Linie am Lehrer, wie anschaulich er historische Fakten, Abläufe und Entwicklungen dazustellen imstande ist“. Nur wenige Geschichtslehrer haben sich damals an Archivquellen herangewagt. Es waren seine eigenen Forschungen zur Lugoscher Stadtgeschichte, die ihn dazu verleiteten, die Lokalgeschichte in den Geschichtsunterricht einzubeziehen. Damals war das noch kein selbstverständlicher methodischer Ansatz. Mit der Thematisierung der Lokal- und Regionalgeschichte im Unterricht verband er zwei Erwartungen. Zum einen sollten lokalhistorische Ereignisse und Entwicklungen exemplarisch die allgemeine, in der Regel nationalstaatlich fokussierte Geschichte veranschaulichen und zu deren Verständnis beitragen. Zum anderen sollte die Beschäftigung mit der eigenen Stadt und Region Jugendlichen helfen, ihre regionale und Ortsidentität auszubilden und sich ihrer Zugehörigkeit zu vergewissern.
Die Pflege der Lokalgeschichte hatte auch ein unterrichtsdidaktisches Korrelat. Lay machte sich Gedanken darüber, wie die Befassung mit lokal- und regionalhistorischen Themen in einem modernen, wenn auch ideologisch eingeengten Geschichtsunterricht konkret aussehen könnte. So wandte er sich Aspekten der Sozial- und Kulturgeschichte zu, die in der „großen“ Geschichte keine Beachtung fanden. Indem er die historische Entwicklung des unmittelbaren Lebensumfelds seiner Schülerinnen und Schüler thematisierte, schaffte er ein Gegengewicht zu einem einseitig politikgeschichtlich und nationalstaatlich ausgerichteten Unterricht.
Im Geschichtsunterricht griff er auf die lokal verfügbaren Geschichtsquellen und das lokale Wissen der Eltern und Großeltern seiner Schüler als Zeitzeugen zurück, besuchte im Rahmen des Unterrichts Ausstellungen und historische Orte, vor allem aber widmete er sich selbst der Erforschung lokalgeschichtlicher Zusammenhänge. Gemeinsam mit seinen Schülern entdeckte er Heimat als Handlungs- und Erfahrungsraum. Vor Allerheiligen beispielsweise führte er seine Schüler in den Friedhof an die Gräber bekannter deutscher Persönlichkeiten. Das Grab des europaweit bekannten Botanikers Johann Heuffel (1800-1857), dem sich Lay auch wissenschaftlich widmete, wurde von seinen Schülern gepflegt.
Ab 1972, als die „Neue Banater Zeitung“ eine Lugoscher Beilage zu veröffentlichen begann, intensivierte der Geschichtslehrer seine Forschungen. Lays Zeitungsbeiträge befassten sich mit Aspekten der Wirtschaftsgeschichte, Schulentwicklung, Theater- und Buchgeschichte.
Lokal- und Regionalforscher
Im Januar 1986 nach Deutschland übersiedelt, konnte er seinen Traum verwirklichen und für wenige Jahre in einem Klosterarchiv der hessischen Stadt Rosenthal arbeiten. Nach seinem Eintritt in den Ruhestand ließ er sich in Töging am Inn (Bayern) nieder. Jetzt hatte er Zeit und Muße, um seine umfangreiche Materialsammlung zu ordnen und sich mit voller Kraft der Heimatgeschichte zu widmen.
Heinrich Lay deckte sämtliche Gattungen der banatdeutschen Heimatforschung ab – vom Heimatblatt über heimatgeschichtliche Aufsätze bis zum Familienbuch, dem Heimatbuch oder der Ortsmonographie. 1991 gab er die erste Ausgabe des „Lugoscher Heimatblattes“ heraus, dem 1993 das Heimatblatt seines Heimatortes Sanktandres folgte. Die beiden Publikationen enthalten zahlreiche lokal-, demographie- und familiengeschichtliche Aufsätze, vor allem solche zur Zeitgeschichte, zur tragischen Kollektiverfahrung der deutschen Minderheit seit dem Frontwechsel Rumäniens im August 1944 und zur Heimatfindung in Deutschland. Die erste periodische Veröffentlichung redigierte er bis zur fünfzehnten Auflage (2017), die zweite bis zur zwölften (2015).
Angesprochen hat ihn auch die Familiengeschichte und Familienforschung, die mit der Öffnung der Archive in der Herkunftsregion seit den 1990er Jahren bei den Banatdeutschen eine Hochzeit erlebte. Das Familienbuch der römisch-katholischen Pfarrgemeinde Sanktandres im Banat 1739-2009 und ihre Filiale Kowatschi 1844-1861 (Bd. I-II, 2010) zählt zu den exemplarischen Publikationen für dieses Genre der Lokalgeschichte. Er sah sich in der Tradition der von Anton Krämer (1926-2010) begründeten banatdeutschen Familienforschung. Personen- und sozialgeschichtlich ausgerichtet ist auch seine 1992 erschienene Studie über den Sanktandreser Leichenbestattungsverein 1889-1991, ein auf den ersten Blick ausgefallenes Thema, für dessen Bearbeitung er die Mitgliederlisten und die Vereinsprotokolle ausgewertet hat.
Im Auftrag der Ebendorfer Heimatortsgemeinschaft gab Lay 1999 die Monographie und das Heimatbuch der südöstlich von Lugosch gelegenen Marktgemeinde heraus. Bei jeder Gelegenheit unterließ er es nicht, auf die Bedeutung von Archivquellen bei der Erstellung von Ortsmonographien hinzuweisen: „Nur in primären Quellen liegt die wahre Geschichte. Ohne Quellenstudium ist echte Geschichtsschreibung nicht möglich, auch Lokalgeschichte nicht, und jede Ortsgeschichte ist nur Stückarbeit, wenn diese Quellen nicht ausgewertet werden.“
Forschungsschwerpunkt des beflissenen Gymnasiallehrers war jedoch die Lugoscher Stadtgeschichte, vor allem jene des am linken Temeschufer liegenden Ortsteils Deutsch-Lugosch. Dabei hat er insbesondere auf gedruckte Quellen (Presse, Kalender, Statuten und Jahresberichte von Vereinen) wie auch auf unveröffentlichte Archivinformationen (Kirchenmatrikel, Pfarreichroniken, Visitationsberichte, Verwaltungsakten, Rechnungen und statistische Ausarbeitungen) und auf die erzählte Geschichte zurückgegriffen. Seine wichtigsten Beiträge betreffen die Ortsnamen der Stadt, ihre Kultur-, Theater-, Buch-, Presse-, Schul- und Familiengeschichte. Dazu zählen wertvolle, als eigenständige Veröffentlichungen erschienene Dokumentationen wie Von der „Arnold’schen Gartengasse“ bis zur „Zorilor-Straße“. Die Lugoscher Gassennamen von ihren Anfängen bis zur Gegenwart (1992, rum. Ausgabe 2007), Hundertvierzig Jahre Lugoscher Presse. Ein Kapitel Kulturgeschichte, 1853-1993 (1993) und Das Buchdruckwesen und die Buchdrucker von Lugosch. Streiflichter aus dem lokalen Gewerbe, den beruflichen Organisationen und dem sozialen Geschehen (1994). Sein historiographisches Vorbild für die Stadtgeschichte war István Iványi (1845-1917), der erste und bislang einzige Monograph von Lugosch (Lugos rendezett tanácsú város története [Geschichte von Lugosch, Stadt mit geordnetem Magistrat], 1907). Obwohl eine aktuelle und den heutigen Ansprüchen entsprechende Stadtmonographie längst fällig war, konnte er sich an eine solche nicht heranwagen, mehr noch, eine neue Stadgeschichte schien ihm wegen den bestehenden dokumentarischen Lücken und den unterschiedlichen bis gegensätzlichen Deutungsperspektiven nicht denkbar. Er wandte sich gegen eine ethnozentrische Perspektive, egal von welcher Seite aus: „Heute kann man die Geschichte der Banater Stadt nicht einseitig aus dem Blickwinkel oder aus der Interessenlage einer ethnischen Gruppe heraus angehen; es muss alle und alles erfassen.“ Auch Lays letzte umfangreichere Publikation strebt nicht eine Kulturgeschichte aus einem Guss an, sondern ist als ein Mosaikbild angelegt – Lugoscher Mosaik. Beiträge zur Kulturgeschichte der Stadt an der Temesch (2016).
Heinrich Lay praktizierte eine faktengesättigte Geschichtsschreibung historistisch-positivistischen Zuschnitts: lokalgeschichtliche Fakten, die zum Allgemeinwissen oder zum akademischen Wissen gehören sollten, werden aus Quellen erarbeitet, in Zusammenhänge gestellt, einem allgemein verständlichen und auf Konsens stoßenden übergeordneten Interpretationsrahmen angepasst und publizistisch für ein breiteres Publikum ins Reine gebracht. Wenn nicht von Auftraggebern gefördert, sind seine Publikationen meist im Selbstverlag auf Eigenkosten erschienen.
Bibliothek und archivische Sammlung
Wir haben uns im Herbst 1978 in Temeswar kennengelernt. Die beiden damaligen regionalen politischen Hauptakteure der rumäniendeutschen Minderheit, Eduard Eisenburger und Nikolaus Berwanger, hatten zu einem Gespräch über die Zielsetzungen und Inhalte des zweiten (nie erschienenen) Bandes der von Carl Göllner herausgegebenen „Geschichte der Deutschen auf dem Gebiete Rumäniens“ (Bd. I, Bukarest 1979) eingeladen. Seit 1990 begegneten wir uns immer wieder bei verschiedenen Tagungen und Kulturveranstaltungen. Im Sommer 2016 hatte ich schließlich die Gelegenheit, mehrere Tage mit Heinrich Lay in seinem Haus in Töging am Inn zu verbringen und einen Einblick in seine Historikerwerkstatt und sein historisches Denken zu erhalten. Anlass war die Übernahme seiner umfangreichen Bibliothek, die dem Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen überlassen wurde. Die Dubletten der übernommenen Buchsammlung wie auch bedeutende rumänischsprachige Publikationen zur Lugoscher Stadtgeschichte und berglandrumänischen Kirchengeschichte wurden vom Tübinger Institut wunschgemäß der Bibliothek des Klausenburger Instituts für Geschichte „George Bariţiu“ abgetreten.
Leidenschaftlich sammelte Lay schon früh Aktenstücke aus kirchlichen und privaten Archiven. Viele vor der Zerstörung gerettete Bücher stammen aus der Bibliothek des Lugoscher Minoritenordens. Außer dem eigenen Buchbestand übernahm Lay einen großen Teil der reichen (aber leider bei weitem nicht mehr intakten) Privatbibliothek des im benachbarten Mühldorf am Inn wohnenden Banater Historikers Anton Peter Petri (1923-1995), mit dem Schwerpunkt Banatica. Der rege Kontakt zu Petri spornte ihn an, seine Forschungen durch Erschließung neuer Quellen zu vertiefen und ihre Thematik zu erweitern.
Trotz des fortgeschrittenen Alters konnte Lay sich noch nicht von seinen eigenen Forschungsunterlagen, von seiner Korrespondenz und den zusammengetragenen archivischen Aktenstücken trennen. Bei nicht wenigen Publikationen, die er beim Verpacken in die Hand nahm, würdigte er in kurzen Sätzen den Dokumentationswert und verwies auf teils mir unbekannte Details zum Autor oder zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte. Auf zwei Themen kam er in unseren Gesprächen immer wieder zurück: die uns beide verbindende Klausenburger Historische Schule, der er seine akademische Bildung zu verdanken hatte, und die Darstellung der Banater Regionalgeschichte. Seines Erachtens konnte eine „den Anforderungen der Zeit genügende“ und alle Hauptethnien und Konfessionen berücksichtigende Geschichte der multikulturellen Region „nur von ausgebildeten Historikern aufgrund des Quellenstudiums geschrieben werden, auch wenn manche unserer Landsleute anderer Meinung sind“. Sie wird daher noch lange ein Forschungsdesiderat bleiben.
Seine „historische Dokumentation“ Das Banat 1849 – 1867. Die Wojwodschaft Serbien und das Temescher Banat 1849 – 1860, die liberale Ära und der Österreich-ungarische Ausgleich 1860 – 1867 (2001) betrachtete er als einen Mosaikstein einer künftigen Regionalgeschichte.
Ein Hauptziel von Lays lokal- und regionalgeschichtlicher Forschungsarbeit war das Hineinwirken in ein breites Publikum. Quellenforschung sei nicht ein Zweck für sich, ihre Ergebnisse müssen dem Leser, der auf der Suche nach Heimat ist, „in gut lesbarer Form“ bereitgestellt werden.
In Würdigung seiner Verdienste verlieh ihm die Stadt Lugosch 2003 die Ehrenbürgerschaft und die Landsmannschaft der Banater Schwaben im Jahr 2015 die Adam-Müller-Guttenbrunn-Medaille.