zur Druckansicht

Aufmerksamer Zeitbeobachter und schlagfertiger Intellektueller

Zu Werner Kremms Band „Vom Herumirren des Diogenes. Momentaufnahmen (II)“ 

Bereits im Jahr 2016 erschien im Reschitzaer Verlag Banatul Montan ein Band ähnlichen Formats von Werner Kremm unter dem Titel „Momentaufnahmen. Rumänien unter der Lupe“. In dem Vorwort, das ich seinerzeit unter dem Titel „Die Einübung des kritischen Wirklichkeitsblicks“ zu diesem Buch schrieb, merkte ich unter anderem an: Der „Band besitzt einen zumindest doppelten Zeugniswert, der ihn aus meiner Sicht für die Gegenwart und Zukunft unverzichtbar wertvoll erscheinen lässt. Zum einen zeigt er, wie im heutigen Rumänien in der Sprache und für das Selbstverständnis der dort lebenden deutschen Minderheit eine im besten Sinne des Wortes informative und aufklärende journalistische Arbeit geleistet werden kann. Zum anderen lässt er in seiner Zusammenschau besser als einzelne, regelmäßig erschienene Artikel und Kommentare wie auch als treffliche Ergänzung zu den literarischen Arbeiten seiner Anfänge als Schreibender das intellektuelle Profil des Journalisten und Schriftstellers Werner Kremm erkennen.“ Diese Feststellungen gelten gleichermaßen für den nunmehr vorliegenden zweiten Band mit einem ähnlichen Zuschnitt wie der erste, der unter sieben Kapiteln rund 120 Einzelbeiträge versammelt, die thematisch ähnlich vielfältig wie die des ersten Bandes, gleichermaßen analytisch eindringlich und aufklärend kritisch erscheinen. Die darin versammelten Beiträge wirken, so kann man zugleich befinden, noch etwas gewagter, unnachgiebiger, konsequenter und scharfsinniger in ihrer Wucht und Schlagkraft, aber auch List der Aufklärung und Kritik, ohne jede Rücksicht auf die Macht und Bedeutung der betrachteten und häufig auch kritisierten regionalen, nationalen und globalen öffentlichen und politischen Gestalten. Zugleich sind Ausführungen vielfach auch stärker durch philosophische Reflexionshintergründe und Einsichten gestützt und untermauert. 

Im ersten, einleitenden Kapitel unter der Überschrift „Kaum Freude und wenig Freunde“, das ausnahmsweise lediglich einen Beitrag enthält, legt der Autor gleichsam Rechenschaft ab zu seinem Vorhaben, seinem Selbstverständnis und seinen Absichten. Er lässt erkennen, dass ihm zweifellos bewusst ist, dass sein schonungslos enthüllendes, kritisch akzentuiertes Schreiben über die „rumänische Gegenwartspolitik“ ihm kaum Freunde, aber viel Ablehnung und Feindseligkeit derer einbringt, über deren chaotisches und eigennütziges Agieren, Kurzsichtigkeit und Verantwortungslosigkeit, „Selbstherrlichkeit und Selbsterhöhung“ (S. 15), Ungebildetheit und Demagogie wie auch unkontrolliertes Machtstreben und Korruptheit er schreibt. Dennoch möchte er zwar geboten vorsichtig, aber doch furchtlos weiter machen, da es neben den hinterhältigen, boshaften und manchmal auch bedrohlichen, von seiner Kritik betroffenen Gegner auch jene Leser gibt, die seine regelmäßigen „Donnerstagkommentare“ mit großer Zustimmung und als Ermutigung lesen. Dabei geht es natürlich nicht nur um die Inkompetenz und moralische Verwerflichkeit öffentlicher und politischer Akteure, sondern auch um strukturelle Probleme wie Bürokratismus statt bürokratischer Rationalität, „Dysfunktionalität“ des Verwaltungsapparats oder „Überpolitisierung“ des Personals. Ebenso um notorische Ablenkungsmanöver, die die Schuld stets bei den „Anderen“ suchen oder um „Altväterherrlichkeit“ statt „Dialogkultur“. Und schließlich auch um populistische Prinzipienlosigkeit und Wertekrisen statt dem, das Werner Kremm „Ideologie“, ich aber lieber „grundwertegeleitete programmatische Politik“ nennen würde. Bei aller Übereinstimmung, die ich mit dem Autor und seinem schonungslos kritischen analytischen Blickwinkel habe, würde ich es doch als eine eher offene empirische Frage betrachten, ob es sich bei den aufgezeigten Deformationen der „rumänischen Gegenwartspolitik“ tatsächlich um so einmalige oder nicht doch mit anderem in der Welt vielfach Übereinstimmendem oder zumindest Vergleichbarem handelt. Dabei hat Kremm gewiss viele gute Argumente auf seiner Seite, wie ich kurz exemplarisch aufzeigen möchte. 

Aus dem Kapitel „Überzeugungen und Mentalitäten“ möchte ich – sicherlich etwas willkürlich, aber aus soziologischer Sicht interessant – den Einzelbeitrag „Auch Bildungsmangel geriert Korruption“ (S. 36 f.) herausgreifen. Er zeigt am Fallbeispiel des einst mächtigen, fast allmächtigen Lokalpolitikers des Banater Berglandes Sorin Frunzăverde die paradoxe Neigung rumänischer Politiker auf, sich gerne mit Intellektuellen zu umgeben, aber zugleich ihnen selbst intellektuell überlegene zu meiden und zu verdrängen. Dies entspricht einer empirischen Studie nach der Tendenz eines sinkenden Bildungsniveaus rumänischer Abgeordneter und Politiker und korreliert mit deren Korruptionsanfälligkeit, wobei „Minderwertigkeitskomplexe“ ein psychologisches Bindeglied zwischen „Bildungs- und Kompetenzlosigkeit“, fallweise erschwindelten Hochschulabschlüssen und Titeln, fehlender moralischer Integrität und Korruption zu sein scheint (S. 37). 

Ein nächstes Kapitel ist mit „Beugung des Rechts“ überschrieben. Darin geht es um Fallbeispiele der Unterlaufung des Rechts und der Willkür der Justiz. Der Knotenpunkt ist dabei, wie in dem Beitrag „Das Damoklesschwert des Tudorel“ (S. 81 f.) ausgeführt wird, der letztlich zumindest teilweise gescheiterte Versuch, „Gesetzesbrecher“ an der Spitze des Parlaments und des Staates durch neue, fragwürdige Gesetze vor Strafen zu schützen. Wenn der Autor an den Spruch der alten Römer erinnert, „Die Summe aller Gesetze ist die Summe von Ungerechtigkeiten“ (S. 81), so macht er gleichsam am Fallbeilspiel der rumänischen Justiz darauf aufmerksam, dass Recht stets offen oder subtil von Herrschaftsinteressen geleitet erscheint. 

Ein fundamentaler und zugleich unabdingbarer Prozess, an dem die erfolgreiche Modernisierung in vielen Teilen der Welt bis heute scheiterte, betrifft die moderne Staatlichkeit. In dem Kapitel „Der wahrhaftige Parallelstaat“ wird anhand vieler Fallbeispiele und unter verschiedenen Gesichtspunkten erkennbar gemacht, welche Deformationen solcher funktionstüchtiger Staatlichkeit in Rumänien vorliegen. Sei es, dass diese als Tendenz der rücksichtlosen Privatisierung staatlicher Ressourcen und eines schamlosen Klientelismus, sei es als allen „autokratischen“ Neigungen stets beige¬gebene „Ignoranz“, sei es als mit „alternativen Wahrheiten“ operierender „Parallelstaat“ (S. 114 f.) in Erscheinung treten. 

Die Grenzen rationaler Politik und problemlösend funktionierender Staatlichkeit – keineswegs nur in Rumänien – werden angesichts der Herausforderungen der Pandemie in dem Kapitel „Pandemie und Politik“ aufgezeigt. Dabei geht es auch um Irrationalitäten der öffentlichen Meinung, um Populismus oder religiös begründete fatalistische Fügung („Gehorsam“, S. 141 f.), etwa im Hinblick auf das präventive Impfen, also zugleich um Tiefenströmungen der politischen Kultur Rumäniens. 

Unter der Überschrift „Der ‚Duft‘ des frischen Windes“ werden im Rahmen eines weiteren Kapitels ereignis- und akteurnah wie auch analytisch umsichtig neuere politische Entwicklungen in Rumänien verfolgt, von der Konstellation der Präsidentschaftswahl („Einsame Eiche auf weitem Feld“, S. 186 f.), über die Zwischenergebnisse der Europawahlen („Vom Auftun politischer Sackgassen“, S. 190 f.) bis zum Aufstieg der rechtsextremistischen Partei AUR („Extremisten im Prokrustesbett“, S. 205 f.). Dabei wird die bekannte geringe sozialstrukturelle Verankerung, die Instabilität und Personenabhängigkeit, die von egozentrischen individuellen Ambitionen und politischem Misstrauen geprägte „Koalitionsschwäche“ und die Anfälligkeit des rumänischen Parteiensystems für populistische und nationalistische Stimmungen erneut sichtbar gemacht und in manchen Hintergründen ausgeleuchtet. 

Wie bereits im ersten Band wird auch und insbesondere im letzten Kapitel dieses Bandes „Abendland als Vor-Bild“ das Blickfeld auf das internationale Geschehen ausgeweitet, wobei keineswegs nur der Westen, sondern beispielsweise auch das Ungarn Viktor Orbáns („Die Trianon-Wunde“, S. 243 f.), die Türkei Recep T. Erdoğans („Dollars versus Gott, S. 249 f.) oder Erinnerungen an Srebrenica (S. 255 ff.) angesprochen und scharfsinnig kommentiert werden. Der letzte Satz des Buches lautet: „Im Grunde aber würde es schon reichen, wenn wenigstens die Europäer zitternd und bebend, aber klaren Kopfes aus der sich anbahnenden Weltkrise der Wirtschaft, der menschlichen Psyche, der Kommunikation und des Selbstverständnisses eines Lebens in der Demokratie hervorgehen.“ (S. 284). Angesichts dessen, was wir gegenwärtig auch und gerade im Westen – nicht zu einem geringen Teil selbstverschuldet, ohnmächtig und ideologiengeblendet – erleben, ist dies wohl mehr Wunschdenken als Prognose. 

Werner Kremm erweist sich in diesem Band erneut als sachorientierter, kenntnisreicher, analytisch eindringlicher und scharfsinniger, abgewogen bis zugespitzt wertender, unbestechlich kritischer, nicht zuletzt die Dummheit, Unfähigkeit und moralische Verwerflichkeit rumänischer und anderer Politiker sowie die gravierenden Funktionsstörungen und Krisen der Politik enthüllender Journalist, der zugleich als Intellektueller sein Handwerk vorzüglich beherrscht, dessen Auftrag bekanntlich die „Kritik als Beruf“ und dessen außerordentliche Fähigkeit der überzeugende Umgang mit der Sprache ist. Wurde unlängst vielfach an das 50-jährige Bestehen der „Aktionsgruppe Banat“ erinnert, so wurde dabei wohl auch deutlich, welcher Geist, welche Grundhaltungen und welche Schreibneigungen Werner Kremm intellektuell mitgeprägt haben und auch in diesem Band ihren maßgeblichen Ausdruck finden.     

Werner Kremm: Vom Herumirren des Diogenes. Randbemerkungen eines kritischen Bürgers zu Rumänien und der Welt. Momentaufnahmen (II). Rumänien unter der Lupe. Reschitza: Banatul Montan-Verlag, 2022. 304 Seiten. ISBN: 978-606-9656-19-8.