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Am Nabel der Erde

In mehreren rumänischen Märchen heißt der Schacht, durch den die Knaben und Mädchen vermeintlich in die Unterwelt kletterten, buricul pământului – „Nabel der Erde“. Sie hangelten sich an einem aus Weidenrinde geflochtenen Seil in die Tiefe. Es war das aufregendste Abenteuer der archaischen Jugendweihe, die in weiten Teilen Europas bis in die Späte Bronzezeit (1200 bis 800 v.Chr.) abgehalten wurde. Dieser Abstieg galt als Mutprobe. Die Gehilfen der Initiationsleiter schreckten die Teilnehmer, indem sie unheimliche Geräusche erzeugten, für stickigen Rauch sorgten, Wasser verspritzten und Kröten, Ringelnattern, Ratten und Wespen in den Schacht warfen.

Der Stammeszauberer und die Stammeshexe verwandelten die Teilnehmer an der Jugendweihe rituell in Erwachsene. Doch um von der Dorfgemeinschaft anerkannt zu werden, mussten diese bis zu ihrer Entlassung an einem komplexen Unterricht teilnehmen und bei der Rückkehr ins Dorf Proben für ihr Können vorzeigen: Gebrauchsgegenstände wie Schuhe, ein getöpfertes Gefäß oder einen geschmiedeten Ring, außerdem einen Tanz (weil Tänze vermeintlich magische Wirkung hatten und im Stammesleben eine große Rolle spielten).

Dem Leser wird der Brauch der archaischen Jugendweihe anhand eines in ganz Europa verbreiteten Märchentypus erläutert, er heißt „Die drei geraubten Königstöchter“ oder „Die Prinzessinnen in der Unterwelt“. Dieser Typus bot sich als Ausgangspunkt an, weil er relativ viele Motive umfasst, nämlich 39, und sich sowohl auf die Erlebnisse der Mädchen als auch auf jene der Knaben bezieht.

Um den Sinn mancher Szenen zu kommentieren, stützt sich der Verfasser auf gut dokumentierte Bräuche der Naturvölker. Allem Anschein nach mussten die Absolventen ihre Teilnahme an der Jugendweihe vor der Heirat durch ein Zeugnis beweisen, das wohl ein rundlicher Gegenstand von der Größe einer Männerfaust war. Er wird als Apfel, Ball, Ei, Knäuel, Nuss oder Orange bezeichnet und kommt in Schlüsselszenen vor. In einem schwedischen Märchen überreicht ein Bauer jedem seiner drei Söhne einen goldenen Apfel mit dem Auftrag, eine Braut zu suchen und sie samt dem Apfel vor ihn zu bringen. In den Märchen vom Glasberg befindet sich der Apfel gewöhnlich in der Hand der Prinzessin, sie soll ihn dem Freier geben, der zu Pferd den Gipfel erreicht, doch abweichend davon wechselt das Objekt den Besitzer in einer lettischen Variante in umgekehrter Richtung: Das Dummchen wirft seinen Apfel in den Schoß der Prinzessin. Das Motiv des Apfels konnte durch den Hochzeitsbrauch eines im Kongobecken lebenden Stammes aufgeklärt werden. Bei den Ohendo müssen Bräutigam und Braut den Verwandten ein Brettchen zeigen, auf dem der Initiationsmeister ihre Teilnahme an der Jugendweihe bestätigt hat.   

In Mitteleuropa wurde die archaische Jugendweihe bis ins frühe Mittelalter praktiziert, bis zur Ausbreitung des Christentums. Auf dem Gebiete Rumäniens und der Ukraine ist sie eine Symbiose mit dem Christentum eingegangen. In abgelegenen rumänischen Dörfern erhielten sich Ausläufer in Form der Mädchen-Spinnstube bis ins 20. Jahrhundert. Die Volkskundlerin Monica Brătu-lescu hat im Jahr 1978 eine Studie über diesen Brauch veröffentlicht.

Etwa vier Jahre lang – vom Beginn der Pubertät an bis zur Heirat – nahmen die Mädchen in den Wintermonaten an einem komplexen Unterricht teil. Sie wurden über die Pflichten und Rechte der Frauen informiert, sexuell aufgeklärt und mit der Verwendung gewisser Pflanzen bei der Ausübung von Liebeszauber und Abwehrzauber wie auch bei der Behandlung von Krankheiten bekannt gemacht. Leiterin der Mädchen-Spinnstube war eine angesehene, in den Bräuchen bewanderte ältere Frau.

Laut Monica Brătulescu beherrschte die Mädchenschar die gesamte dörfliche Jugend. Das ist auf den ersten Blick unverständlich, weil die Mitglieder 14 bis 18 Jahre alt waren und bloß drei bis vier Jahre lang in der Gruppe blieben. Brătulescu begründet die Autorität der Mädchenschar mit deren Einsatz für die vitalen Interessen beider Geschlechter und mit ihrer Einstellung zur Heirat (was dazu führte, dass es im traditionellen rumänischen Dorf praktisch keine Ledigen gab). Dem Verfasser reicht das als Erklärung nicht aus. Seiner Ansicht nach bildete die Mädchen-Spinnstube nicht nur den Rahmen für die Jugendweihe, sondern vertrat auch den archaischen Frauenbund, der als Organisation nicht mehr existierte.

Hans Fink: Meine Ur-Oma in der Buschschule. Hintergründe der Zaubermärchen von den geraubten Königstöchtern. Norderstedt: BoD – Books on Demand, 2022. 236 Seiten. ISBN: 978-3-7562-2989-5. Preis: 9,99 Euro.