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„Ich lese die Erde, ihre Schrift, ihre Farben…“ Zum Reisebuch von Ilse Hehn: „Diese Tage ohne Datum“

Es gibt Werktage und Feiertage. Sie stehen wohlgeordnet im Kalender. Laut Ilse Hehn gibt es aber auch noch ganz andere Tage, nämlich jene ohne Datum, Tage der vollkommenen Freiheit, Tage, die keinen Namen brauchen und keine Zeitangabe. Das sind die Tage, wenn Herz und Seele die Flügel ausbreiten und der Mensch auf Reisen geht.

Das Buch „Diese Tage ohne Datum“ lädt seine Leser ein, mitzugehen mit einer vielgereisten Schriftstellerin und Künstlerin, mit einer schicksalserfahrenen Frau, die weder Augen noch Mund vor den Problemen der Welt verschließt.

Es gibt viel zu erfahren, zu sehen und zu reflektieren auf den 14 Reisen, die auf 320 Seiten die Leser Landschaften mit allen Sinnen wahrnehmen lassen, sie an Orte führen vom hohen Norden, nahe dem Polarkreis, bis in die heiße Wüste Ägyptens.
Ilse Hehn schreibt nicht zum ersten Mal ein Reisebuch, aber dieses ist das komplexeste. Klappentext und Cover wiedergeben die Worte namhafter Banater Kulturschaffender: Eduard Schneider, Franz Heinz, Herbert Bockel. In „Anstelle eines Vorworts“ stellt Ulrich Steenberg die Reisen vor, ein guter Einstieg in die Lektüre des Buches.

Ilse Hehn, geboren in Lovrin (Banat, Rumänien), war nach dem Studium der Bildenden Kunst an der West-Universität Temeswar bis zu ihrer Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland 1992 in Mediasch (Siebenbürgen) als Gymnasiallehrerin für Kunst und Kunstgeschichte tätig. Ihr literarisches Debüt fand 1973 mit einem Gedichtband (Kriterion Verlag, Bukarest) statt. „Diese Tage ohne Datum“ ist ihre 22. Buchveröffentlichung. Sie lebt heute in Ulm und ist Dozentin für Kunst. Im Laufe der Jahre erhielt sie zahlreiche Preise, zuletzt 2017 den Donauschwäbischen Kulturpreis des Landes Baden-Württemberg. Sie ist Mitglied in mehreren Schriftstellervereinen und war von 2011 bis 2021 Vizepräsidentin des Internationalen Exil-P.E.N., Sektion deutschsprachige Länder.

In die Prosa streut Ilse Hehn Gedichte mit großer Sensibilität und Tiefe ein. Auch die 50 bildnerischen Arbeiten sind voller tiefgehenden Aussagen.

Das Buch beginnt mit der Rückbesinnung auf die Diktatur in Rumänien, in der es war, wie sich in einem Fluss zu befinden, der „ins Offene“ will. Wie diesen Hinweis auf Hölderlin hält Ilse Hehn für die Aufmerksamen auf Schritt und Tritt Perlen aus dem Bereich der Kunst und Literatur bereit. Auf den meisten Reisen wird die Autorin von einem Freund begleitet, den sie diskret B. nennt, einige unternimmt sie allein oder mit der Schwester und deren Mann. 

Die erste Reise führt nach Lappland, „eine Landschaft komponiert aus Schnee und Wind“. Genau beschreibt die Autorin die Schlittenfahrt mit den Huskys, die durch 260 Kilometer Einöde geht, die sehr einfachen Lebensbedingungen. Die zweite Reise führt nach Frankreich, in die Bretagne. Wunderbar sind die Begegnungen mit der Malerei von Claude Monet in Giverny. Es ist immer die Malerin Ilse Hehn, welche die Texte mitschreibt. Da heißt es: „Farben lösen sich auf, Sand und Himmel verschmelzen zu einer weichen Stille“. 

Auf der Insel Capri, oft aus zynischer Distanz betrachtet, holt sie die Vergangenheit ein. Eine Stele mit dem Flachrelief Lenins genügt, dass die Angst und die Drohungen der Securitate wieder lebendig werden. Amsterdam erlebt sie als bunte, fröhliche und tolerante Stadt, sie sagt: „Wo sonst in Europa ist je eine Stadt so frei, derlei verschiedene Menschen aufzunehmen?“

Schottland ist für Ilse Hehn Anlass, tief in die Geschichte und Kultur dieses umkämpften Landes einzudringen. Florenz wirft die Autorin schmerzhaft zurück in sich selbst: „Unser Fernsein miteinander am Rand möglicher / Wälder, mit Adern durchzogen wie Blätter, / löwenköpfig die Stadt, ein Sarg aus piatra dura“. Auch kann Dantes Ruhm sie nicht davon abhalten, die sozialen Probleme zu sehen: „Bahnhofsrevier, Postkartenverkäufer, Nutten, einige Bäume, Tristesse des Ortes“.

In Ägypten taucht die Kunsthistorikerin Ilse Hehn voll ein in die reiche Geschichte und Architektur des Landes. Wir lernen die Götterwelt Ägyptens kennen, die uralte Kultur des Landes, aber auch das Elend der Landbevölkerung.

In Sizilien, das mit Mittelmeer und Ätna wirbt, mit Tempelruinen und Palermo lockt, erkennt Ilse Hehn auch „die aufgedunsene Krake der Mafia, die existenzielle Komödie Pirandellos, das teatro dei pupi Siziliens“. 

Die Reise nach Temeswar ist schmerzlich. Der Heimatbegriff wird sehr kritisch betrachtet. Die Revolution von 1989 ist noch präsent, denn „in den Steintreppen erinnern Einschusslöcher an Minusgrade…“, aber die Autorin ist sich bewusst, dass die Revolution gestohlen wurde: „Über demokratischen Schlamm schiebt sich langsam das Roma-Gold (…), die Pferde sind tot, es lebe der Gaucho, die Pampa verloren an den Westen“.

In Norwegen erfährt die Autorin weglose Landschaften und die schwere Düsternis der Bilder von Edward Munch. „Am Himmel die Drohung von Schnee / fließend und weitschweifig / verlaufen Erinnerungsströme / der Fjord unter mir eine / Falltür zur Ewigkeit“.

Samos hingegen, die Insel der Seligen, fasziniert mit ihren Farben, ihrem Duft, dem offenen Himmel. Liebhaber der griechischen Mythologie kommen bei dieser Reise voll auf ihre Kosten. Am Bodensee lässt die Schönheit von Meersburg, Reichenau, Oberzell und Mainau die Autorin dennoch feststellen: „Kommerz legt die Geige an die Wange, spielt.“ In Meersburg ist der Besuch im Turm bei Anette Droste Hülshoff ein literarischer Genuss.

Rom, des Öfteren Reiseziel der Autorin, wird mit seinen Sehenswürdigkeiten präsentiert, gut dokumentiert informiert die Autorin über die Stadt, die sie auch „in flagranti“ erwischt. Ins spätherbstliche Venedig führt die letzte Reise im Buch. Die kritische Autorin spricht von der Markuskirche als ein „Trip in mosaikgoldene Ewigkeit“ oder von der Fassade des Dogenpalastes als „Grazie und Eleganz, sommers Melodie in Dur, heute in Moll“.

Bestimmt kann man das Buch von Ilse Hehn mit auf die Reise nehmen, wenn man die beschriebenen Ziele anstrebt, aber es ist auch ein Genuss für jene, die mit ihrer Sehnsucht und „Sehensucht“ mit der Autorin lesend reisen. Es ist ein Buch, das durch seine poetische Sprache fasziniert („eine Sprache aus Überzeugung, Nähe und Anmut“, so Ulrich Steenberg), manchmal humorvoll, manchmal ironisch, aber immer geistreich und informativ. Und wer möchte nicht die Erde lesen, ihre Schrift, ihre Farben…     

Ilse Hehn: Diese Tage ohne Datum. Mit bildnerischen Arbeiten der Autorin. Ludwigsburg: Pop Verlag, 2022. 320 Seiten. ISBN 978-3-86356-353-0. Preis: 23 Euro