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Ergänzungen zu Herodot. Zig Anekdoten aus der alten Geschichte

Das deutsche Wort Enkel (mittelhochdeutsch enenkel) bedeutet „kleiner Ahn“ oder „Großväterchen“. Es hängt zusammen mit der ehemals weitverbreiteten Vorstellung, dass in einem Kind ein unlängst verstorbener Ahne wiedergeboren wird. Das Neugeborene erhielt dessen Namen. In der Anthologie „Was einmal war“ schildert Hans Fink die Umstände dieser zeremoniellen Handlung.

Einst wurde in allen Balkanländern am dritten Tag nach der Geburt eines Kindes das Zimmer neben dem der Wöchnerin mit größter Sorgfalt für den Empfang ranghoher Gäste vorbereitet, obwohl seit Menschengedenken keine solchen Besuche mehr stattgefunden hatten. In der Überlieferung schwankt die Zahl der Erwarteten zwischen den symbolischen Zahlen drei und neun. Auf dem Tisch befand sich das gesamte Silbergeschirr des Hauses, in der Mitte ein mit Honig gefüllter Becher, ferner Teller mit Essen, Brotschnitte, Messer und Gabeln sowie Mundtücher. Man erwartete die Schicksalsfrauen, die sich bei näherer Betrachtung als die Sippenältesten entpuppen. Die Hausleute ließen Türen und Fenster offen; sie schafften für eine Nacht die Hunde aus dem Gehöft; sie räumten alle Gegenstände aus dem Weg, über die ein Besucher hätte stolpern können; sie ließen eine Kerze brennen, damit die Gäste Licht haben.

Wie im Dornröschen-Märchen geschildert, lud man ehemals auch in Lothringen, wo Johanna von Orléans ihre Kindheit verbrachte, die Schicksalsfrauen zu den Tauffeiern ein. In Böhmen erhielt sich der Brauch, sie festlich zu empfangen, bis ins 19. Jahrhundert. In Rumänien war der Druck der Tradition so mächtig, dass Bäuerinnen, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Möglichkeit hatten, in einem Krankenhaus zu entbinden, ihr Nachtkästchen für den Besuch der Schicksalsfrauen schmückten.

Aus Bräuchen und Zaubermärchen, die sich auf dasselbe Ereignis beziehen, rekonstruiert der Verfasser, was die Sippenältesten bei ihrer Zusammenkunft besprochen haben: Sie stellten fest, wer der kürzlich verstorbene Ahne ist, dessen Seele in das Neugeborene Einzug gehalten hat. – Sie überlegten, innerhalb welcher anderen Sippe man im Einklang mit den Heiratstabus nach einem Ehepartner für das Kind Ausschau halten könne. – Sie kamen überein, wer die Zahlung leistet, damit das Neugeborene formell in den Männerbund oder in den Frauenbund aufgenommen wird.

Ein Schwerpunkthema der vorliegenden Anthologie ist die archaische Jugendweihe, vormals das größte Ereignis im Leben eines Menschen, neben dem sogar die Heirat verblasste. Ein Relikt dieses Brauchs waren die spätherbstlichen Schreckgestalten, mit denen man noch unseren Großeltern drohte – sie vertraten die Gehilfen des Zauberers, die herangewachsene Kinder zur Initiationsstätte führten, so wie der Rattenfänger von Hameln. Der Jugendweihe sind mehrere Texte gewidmet. Ihre Momente spiegeln sich mehr oder weniger deutlich in den Motiven bekannter Märchen, auch in Märchen der Brüder Grimm. Schauplatz der Jugendweihe war ein im Wald verborgenes, von einer undurchdringlichen Hecke umgebenes Gebäude, man denke an Dornröschens Schloss. Es hatte keinen Eingang zu ebener Erde so wie Rapunzels Turm.

Dort im Wald wurden die herangewachsenen Kinder rituell in Erwachsene verwandelt sowie in die Rechte und Pflichten eines Stammesmitglieds eingeführt. Sie lernten jagen, die Getreidekörner von Unkrautsamen trennen, nähen, töpfern und schmieden. Nach dem vermeintlichen Abstieg in die Unterwelt setzten sie eine Tier-Maske auf, um zu verdeutlichen, dass sie sich bei ihren verstorbenen Ahnen befinden. Die Vorstellung, dass Tote sich in Tiere verwandeln, war ein über die ganze Welt verbreiteter Aberglaube. Wahrscheinlich entsprach die Maske dem Totem des Stammes. In den europäischen Märchen tritt der Held beziehungsweise die Heldin unter anderem als Löwe, Hirsch, Igel, Maus, Rabe, Schwan oder Frosch in Erscheinung – aber auch als Kürbis, Birke, Apfelbaum oder Majoranstrauch. Der Verfasser hält dies für eine europäische Besonderheit.
In Mitteleuropa überdauerte die archaische Jugendweihe bis ins frühe Mittelalter, dann setzte ihr die Verbreitung des Christentums ein Ende. Der Verfasser demonstriert, dass die hilfreichen Zwerge des Typus Heinzelmännchen Abbilder von Kindern sind, die Hilfsarbeiten verrichten.

Ein anderes Schwerpunktthema ist die Verdrängung der Frauen von der Macht und aus dem politischen Leben, beginnend mit der Antike. Was in der Fachliteratur immer bestritten wird, nämlich die Existenz eines Matriarchats in Verbindung mit der mütterlichen Erbfolge, die Existenz eines Reiches, in dem Frauen die Regierung bildeten, ist durch chinesische Chroniken für das Volk der Moso in den Jahrhunderten 7-9 n.Chr. bezeugt. Um das Jahr 2000 machten die Völker mit mütterlicher Erbfolge noch rund 13 Prozent der weltweit 1300 ethnischen Gesellschaften aus.

Die Anthologie umfasst 69 Texte, deren Schauplatz ist die ganze Welt. Die ältesten zitierten Mythen, jene über die Entstehung der Erde, wurden in Europa, bei etlichen asiatischen Völkern und bei mehreren Indianerstämmen in ähnlicher Form erzählt – sie sind zehntausend Jahre alt.     

Hans Fink: Was einmal war. Das Körnchen Wahrheit in Märchen und Sagen. Norderstedt: BoD – Books on Demand, 2022. 394 Seiten. ISBN: 978-3-7543-4614-3. Preis: 12,99 Euro