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Ein anderer Stefan Jäger - Zum 60. Todestag des beliebten Malers

Das Bild könnte Stefan Jäger als Modell gedient haben.

Stefan Jäger, Bettlerjunge https://jaeger.banater-archiv.de; WK 2335

Begriffe wie Meister oder Stümper, Original oder Kopie, echt oder falsch lösen in der Kunstgeschichte heftige Diskussionen aus. Gegensätze wie Freiheit und Zwang, reich und arm, hilfreich und habgierig lassen im alltäglichen Leben Wortgefechte und Gedankenspiele aufkommen, die Fragen aufwerfen, die aber ungelöst bleiben und in einem Rätsel enden.

Vor gut drei Jahren, in der Ausgabe der „Banater Post“ vom 20. Januar 2018, ist der von Nikolaus und Herwig Horn gezeichnete Beitrag „Stefan-Jäger-Archiv bittet um Unterstützung“ erschienen. Als Illustration diente ein bisher unveröffentlichtes Bild von Stefan Jäger, „Bettlerjunge“, im digitalen Stefan-Jäger-Archiv unter der Nummer 2335 gelistet. Darauf soll nun näher eingegangen werden.

Bildbeschreibung
Vor der offenen Tür zum Klassenraum steht ein ärmlich gekleideter Junge. Er trägt eine viel zu große braune Jacke und helle Hosen, deren Beine an den Waden zugebunden sind. Auf dem Rücken hängt rucksackartig ein verschnürter Sack. Eine Tragetasche aus Stoff, die Schnur liegt über Brust und Rücken, baumelt unterm linken Arm. Beide Hände umfassen das obere Ende eines Stocks. Die Kopfbedeckung ruht auf dem Unterarm. Ungepflegtes, dunkles Kopfhaar fällt auf. Die dürftige Fußbekleidung unterstreicht den Status des Trägers.

Folgt der Bildbetrachter dem Blick des Jungen, so gewahrt er im Klassenzimmer Schulmobiliar und Lehrmittel als Wandschmuck. In den Bänken sind schemenhaft die Schüler zu sehen.

Entstehungsgeschichte

Aus mündlicher Überlieferung der Bildbesitzer wurde bekannt: Der Großvater, Spengler Stefan Mistrik, genannt Mistrik Bácsi, hat für Hatzfelder arme Leute Reparaturen an schadhaft gewordenen Haushaltsgegenständen gratis ausgeführt.

Kleine Aufträge hat er auch für den Kunstmaler Stefan Jäger entgegengenommen. Da beide etwas schrullige Originale waren, sind sie sich in Gesprächen nähergekommen und haben füreinander – ihre Lebensphilosophie – Verständnis gefunden. Der Handwerker gestand, dass er sehr gerne gelernt hätte, doch ihm war durch die familiären Verhältnisse der Weg zur Bildung verwehrt. Als zwölftes Kind in der dreizehnköpfigen Kinderschar war ihm kein regelmäßiger Schulbesuch möglich. Dankbar sei er für die Ausbildung zum Handwerker. Hingegen blieb der Wunsch zum Lernen. Den erfüllte er sich als Autodidakt. Er wurde ein fleißiger Leser, dessen Interessengebiete sich stets erweiterten.

Stefan Jäger war von dieser ‚Persönlichkeit‘ beeindruckt und hat sich seinerseits revanchiert. Er schenkte dem Spenglermeister aus seiner Skizzenmappe ein Aquarell (16 x 26 Zentimeter), das er schon früher angefertigt hatte. Das Werk blieb unsigniert und undatiert. In Familienkreisen wurde später das kleine Gemälde „Bettlerjunge“ benannt.

Bildaufbau und -aussage

Die Zentralfigur, der „Bettlerjunge“, nimmt fast die ganze Höhe des hochformatigen Bildes ein. Er steht leicht nach rechts gerückt im Vordergrund. Auf der Höhe von Hals und Brust ist in Perspektive gesehen die Masse der Schulbänke und darin ein halbes Dutzend Schülerköpfe.

Gestalten und Gegenstände ruhen in Bewegungslosigkeit, dadurch wird eine gesellschaftliche Situation, ein Zustand, veranschaulicht. Damit taucht die Frage auf: Hat der Dargestellte sich selbst in diese triste Lage gebracht oder wurde er ausgeschlossen?

Weit in den Vordergrund gerückt ist eine offene Tür. Türstock und Türflügel stehen im rechten Winkel zueinander. Schwelle und unterer Querrahmen bilden eine Ecke. Die Tür als Ganzes ist als Eingang zu einer neuen Welt zu verstehen. Erreicht wird diese, indem die Schwelle überschritten wird. Die beiden Bereiche sind durch die Tür getrennt: Bekanntes einerseits und Unbekanntes andererseits, Licht und Finsternis stehen sich gegenüber. Die Tür lädt zum Durchschreiten ein. Bewusst sind die beiden nebeneinanderstehenden Fußbekleidungen vor die Schwelle gesetzt, in den zum Bildbetrachter liegenden dunklen Bereich. Der schräg gestellte Bettelstab ist mit seinem unteren Ende hinter die Schwelle gestellt. Ein Zeichen, dass er etwas erreichen will. Das obere Ende wird von beiden Händen umschlossen. Die Kopfbedeckung ruht auf dem linken Unterarm. Ein Hinweis, dass hier nicht um Almosen gebettelt wird. Das Verlangen liegt verdeckt (unsichtbar) im Herzen.

Geschickt ist die Zugehörigkeit des Bettlers zu einer (un)bestimmbaren Bevölkerungsgruppe gelöst, weder Kleidung noch Schuhwerk bieten eindeutige Hinweise, noch kann auf dem Lehrmaterial an der Wand ein Schriftzug oder eine klare Kontur erkannt werden. 

Der Gebrauch von Ocker und schmutzigem Weiß unterstreicht die Stimmung und lässt den Meister die ungewöhnliche Situation mit einem verschmitzten Lächeln  darstellen.

Die Überraschung

Für Überraschung sorgte der Eingang eines Bildes beim Jäger-Archiv, Format 40,5 x 60 Zentimeter, Pastell auf geripptem Karton. Die wenigen erhaltenen Informationen waren dürftig und eher verwirrend denn aufschlussreich. Die Familie aus Berlin, die in keinerlei Beziehung zum Banat steht, hatte über Jahre das genannte Bild in ihrem Besitz. Sie sah die frappierende Ähnlichkeit mit der Skizze im Jäger-Archiv und regte damit eine nähere Untersuchung an. Man wusste nur, dass in deutschen (sic!) Schulklassen ein gleiches, großformatiges Bild ausgehängt war. Das Schulmuseum weiß davon nichts. Rätselhaft bleiben die Zusammenhänge.

Das dargestellte Thema (Bettlerjunge), die Komposition (vor der Klassentür) und die Personen (Außenstehender und Schüler) stimmen überein, dennoch sind zahlreiche Abweichungen erkennbar.

Auf welchem Wege kam das Bild in den Familienbesitz? Weder diese Frage noch die Frage nach dem Original konnte bisher geklärt werden. Deshalb gehen wir davon aus, dass Stefan Jäger (möglichweise) – wie der Gewährsmann berichtet hat – eine ‚fremde‘ Idee künstlerisch (nach)gestaltet hat.

Die auffälligsten Abweichungen wären: der Zustand der Kleidung des Bettlerjungen, die Fußbekleidung (Größe und Verschnürung), die Frisur, die Deckenlampe hier kaum erkennbar, dort strahlt sie Licht aus, das genau auf den Scheitel des Jungen fällt, die Schüler in den Bänken (Ordnung und Eifer). Licht und Schatten, so wie die Farben, tragen zur Stimmung und zur Wärme der Aussage bei.

Die Recherche

Die Suche nach dem eventuellen Original führt zum ungarischen Maler Kováts, von dem recht wenig bekannt ist. Sein Werk A kis bicebóca (Der kleine Hinkefuß), Öl auf Karton, 34 x 24 Zentimeter, ist eines unter vielen Kunstwerken der Welt (unbeachtet) geblieben. In welcher Form – Original oder Kopie – Stefan Jäger es gekannt hatte, bleibt uns verschlossen. Jedenfalls hat er es für würdig empfunden, davon – oder von einem anderen Original – für seine Skizzenmappe ein Blatt anzulegen. In diese Arbeit hat er eigene „Ansichten“ eingearbeitet.

Eine zweite Spur führt zu dem Kinderbuch Kincskereső kisködmön (Schatzsuche auf kleinem Nebel), 1918 veröffentlicht von Ferenc Móra, mit Illustrationen von Károly Reich. Aus der Erlebniswelt eines Kindes werden die Folgen der Kriegsereignisse des Ersten Weltkrieges erzählerisch dargestellt. Darin auch ein Kapitel, in dem der Wunsch zum Lernen, der Wunsch nach Bildung, ereignisreich gestaltet wird, um aus der Armut auszubrechen. Stefan Jäger war selbst vier Jahre im Feld und hatte eigene Erlebnisse zu verarbeiten.

Schlussfolgerung

Die bäuerlich-kleinstädtische Welt seiner Wahlheimat sah im Meister eher einen „Eigenbrötler“, der sich weder ihrer Alltagssprache (Mundart) bediente noch ihre Kleidung trug. Seine Beschäftigung zum Broterwerb führte er abseits vom Üblichen aus. Stellte er sich selbst bewusst vor die Tür oder wurde er von anderen dorthin gestellt?

Der pädagogische Grundsatz, die erzieherische Idee, liegt in der Thematik der Aquarellskizze: In schwierigen Lebenssituationen hilft nur die Selbstverwirklichung. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied, dafür muss er ‚tätig‘ werden.