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„Nominentur Neoplanta“ - Ein Buch über Neusatz/Novi Sad, das mehr ist als eine „kleine Stadtgeschichte“

„Neusatz ist eine weise und geduldig ertragende echte Stadt des europäischen Rands“, so beschreibt der Schriftsteller László Végel die Stadt an der Donau, die 2022 Kulturhauptstadt Europas ist. In einem Essay mit dem Titel „In einer aus den Fugen geratenen Welt“ nähert er sich seiner Heimatstadt und erklärt deren Beschaffenheit einem Besucher, der sich auf den Spuren seines donauschwäbischen Großvaters befindet. Dabei gelingt es ihm, nicht nur die wechselvolle Geschichte der Stadt in Literatur zu überführen, sondern auch das Leben der „am Rand“ lebenden Menschen nachvollziehbar zu machen. Végel, einer der bekanntesten Intellektuellen ungarischer Nationalität in Serbien, krönt mit seinem Text ein Buch zur Stadtgeschichte von Neusatz/Novi Sad, das pünktlich zum Europäischen Kulturhauptstadtjahr 2022 erschienen ist und vom Donauschwäbischen Zentralmuseum Ulm herausgegeben wurde.

Die präzise Historie zum Leben in dieser Stadt am „Rande Europas“ liefert eine mindestens genauso bekannte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens von Neusatz: die Historikerin Dr. Ágnes Ózer, ehemalige Leiterin des Stadtmuseums Novi Sad sowie des Museums der Wojwodina. Von den Anfängen, die bis in die Römerzeit zurückgehen, verfolgt die Autorin die Entwicklung des Ortes zu einem florierenden multiethnischen Handelsknotenpunkt sowie zu einer kulturellen und geistigen Hochburg, die bis in unsere Tage als „serbisches Athen“ gepriesen wird. Die Matica Srpska (Akademie der Wissenschaften), die wichtigste Vereinigung serbischer Intellektueller, hat hier ihren Sitz.

In der lateinischen Gründungsurkunde von 1748, in der Maria Theresia den Ort zur „königlichen Freistadt“ erhebt und ihn „Neoplanta“ nennt, ist bereits das wichtigste Erbe der Stadt sowie der gesamten Region festgeschrieben: die Vielfalt. Mit ihrem berühmten „Nominentur Neoplanta“ („Nennen wir es fortan Neoplanta“) ruft die Habsburgerin zudem jede hier beheimatete ethnische Gemeinschaft dazu auf, den lateinischen Ortsnamen in ihre eigene Sprache zu übersetzen. So kommt es, dass der Ort selbstverständlich und von aller Anfang an für die Serben Novi Sad, für die Ungarn Újvidék und für die Deutschen Neusatz heißt.

Bis zum Zerfall der Habsburgermonarchie war das Zusammenleben der verschiedenen Ethnien in dieser bunt gemischten Stadt – auch Griechen, Juden und Armenier betrachteten sie als ihr Zuhause – meist friedlich und harmonisch. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs jedoch nahm die „Mehrsprachigkeit“ ein jähes Ende und das dreisprachig geführte Schild des Hauptplatzes von Neusatz „Franz-Joseph-Platz – Ferenc József tér – Trg Franca Jozefa“ wurde durch ein einsprachiges Schild „Trg oslobodjenja“ („Platz der Berfreiung“) und später „Trg slobode“ („Freiheitsplatz“) ersetzt. Mit Humor und einer Prise Ironie beschreibt Végel dieses Phänomen anhand der „Hauptstraße – Fő utca – Glavna ulica“: „Auch die Zmajstraße hatte ebenso wie die anderen Straßen ihre Existenz als mehrsprachige begonnen. […] Zwischen 1918 und 1941 allerdings war daraus eine I. Petar Karadordević Straße geworden. In der ‚ungarischen Periode‘ aber, zwischen 1941 und 1944, war sie für kurze Zeit in Mussolini utca umgetauft worden. Schon möglich, dass sie für ein paar Monate den Namen I. Petar Karadordević zurückbekam. Doch alsbald wurden sich die Stadtväter dessen bewusst, dass das Königreich nicht wieder herzustellen, dass also bei der Taufe ein Fehler geschehen sei. Schnell vergaßen sie den Namen des Königs, und in einer einzigen Nacht wurde aus der königstreuen eine kommunistische Straße. Damit hatte sie den Namen von Marschall Tito verdient. Später erhielt Marschall Tito eine sehenswürdigere Avenue zugewiesen. Deshalb wurde infolge der berechtigten Verehrung eines großen Dichters aus der Titostraße eine Zmaj Jovana Straße.“

Die unruhigen Zeiten spiegelten sich nicht nur auf den Straßenschildern wider: Sie schlugen sich auch im Leben der Menschen nieder und zerschlugen das gesellschaftliche Miteinander in der Stadt. Mit den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs brach für die deutsche Minderheit, die jener Nation angehörte, die das größte Leid und Elend über die Welt gebracht hatte, die schlimmste Zeit an. Aushebungen und Internierungen waren an der Tagesordnung: Wer nicht rechtzeitig seine Heimat verlassen hatte, weil er sich für unschuldig hielt, traf die Kollektivschuld. – So will Végels Gast aus Wien, der sich in Neusatz auf Spurensuche befindet, zu Recht wissen, ob sein donauschwäbischer Großvater, dem seinerzeit die Flucht nach Wien gelungen war, Schuld auf sich geladen hat. Durch seinen lebensklugen Reiseleiter Végel erfährt er: „Wo mehrere Nationen zusammenleben, dort sind auch die moralischen Fallstricke viel größer und zahlreicher“, und in den Archiven der Stadt – den Rest.

Über die zweitgrößte Stadt Serbiens und den Verwaltungssitz der Autonomen Provinz Wojwodina liegt mit dieser „Kleinen Stadtgeschichte“ ein handlicher und informativer Reisebegleiter vor, der mehr ist als eine Stadtgeschichte. Sowohl in ihrem historischen wie auch in ihrem essayistischen Teil steht das Leben der Menschen im Mittelpunkt. An diesem Ort hatte sich ein „gut funktionierendes Neben- und Miteinander unterschiedlicher ethnischer Gruppen“ etabliert, wie Christian Glass, Direktor des Donauschwäbischen Zentralmuseums Ulm, in seinem Vorwort hervorhebt. Doch: „Seit dem 19. Jh. zerstörten aufkommender Nationalismus und in den 1940er Jahren der Eroberungskrieg des Deutschen Reiches vieles von dieser multikulturellen Stadtgesellschaft. Die Geschichten von Neusatz im 20. Jh. vom ersten Weltkrieg bis zu den Nato-Bombardements 1999 kann auch als eine Aufeinanderfolge von immer neuen Verwundungen angesehen werden. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass alle Donaubrücken, die im 20. Jh. gebaut wurden, auch im 20. Jh. wieder zerstört wurden.“ 

Und wie geht es im 21. Jahrhundert weiter? Die Brücken sind wieder da – reell und ideell! Für das junge Team der „Foundation Novi Sad 2022“, dessen konzeptionelle Arbeit unter dem Motto „4 new bridges“ läuft, sind die vier Brücken über die Donau zur Inspirationsquelle geworden. Jede Brücke steht für einen thematischen Schwerpunkt des Kulturhauptstadtjahrs 2022: „Regenbogen – Freiheit – Liebe – Hoffnung“ (https://novisad2022.rs/en/programme-concept). Klangvoll – die Begriffe, gehaltvoll – das Programm. Möge die Umsetzung gelingen!  

Ágnes Ózer: Neusatz/Novi Sad. Kleine Stadtgeschichte. Mit einem literarischen Essay von László Végel. Regensburg: Pustet Verlag, 2022. 176 Seiten, 30 Abb. ISBN 978-3-7917-3224-4. Preis: 14,95 Euro