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Erinnerungsbilder einprägsam festgehalten: „Zwischen Herkunft und Neuanfang“

Man könnte zunächst feststellen, dass der vorliegende Band geradezu mustergültig die Grundzüge und Wendepunkte in der Biographie eines aus dem Egerland (Böhmen) als Kind Vertriebenen, dessen nicht ganz einfache Aufnahme und Eingliederung in der Bundesrepublik Deutschland wie auch markante Umrisse der Herkunft und des Schicksals seiner Familie skizziert. Dem sollte man dann allerdings hinzufügen, dass sich diese Ausführungen dann doch durch den geschärften Beobachtungssinn, die hintergründige, professionelle Informiertheit und das kritische Reflexionsvermögen eines emeritierten Professors für Wirtschafts- und Sozialgeographie auszeichnen und entsprechend zusätzlich gewinnbringend zu lesen sind. Dazu tragen nicht nur sozial- und wirtschaftshistorische Exkurse, sondern auch ein besonders aufmerksam und sorgfältig ausgewähltes Bildmaterial bei, durch das der Band anschaulich illustriert wird. 

Das dem Großvater mütterlicherseits Simon Lorenz (1976-1925) gewidmete Buch gliedert sich – hauptsächlich einem chronologischen Leitgesichtspunkt folgend – in sechs Hauptkapitel, davon zwei gesonderte, nämlich einer kurzen Einführung in die Anliegen der Schrift und einem abschließenden Anhang mit Literatur- und Quellenangaben. Zudem umfasst der Band vier weitere Hauptkapitel mit insgesamt 25 Unterkapiteln.

Mit der Auskunft in der Einleitung „Meine Heimat ist Deutschland und ich stamme aus dem Egerland“ (S. 9) gibt uns der Autor wohl bedachte Identitätshinweise, die sowohl seiner vielfachen Mobilität in Deutschland wie auch seinen „Wurzeln“ im Egerland Rechnung tragen und die gleichsam auch den Spannungsbogen seiner Ausführungen übergreifen.

Um das Egerland als Herkunftsgebiet im weiteren und den Geburts- und Heimatort im engeren Sinne geht es zunächst im zweiten Hauptkapitel. Dabei werden das „Historische Egerland“, das Gebiete um die Stadt Eger in Böhmen wie auch Teile der Oberpfalz und Sachsens umfasst, das „Egerland“ als „Mundartregion“ sowie der nach dem Anschluss des Sudetengebietes 1938 an das Deutsche Reich bis 1945 bestehende „Regierungsbezirk Eger“ räumlich knapp umrissen und in ihren Besonderheiten erläutert.

Neben dem mittlerweile verschwundenen Geburtsort „Littmitz“ und dem Geburtshaus des Autors in diesem Ort werden zudem mit großem Einfühlungsvermögen wie auch einer gewissen Nostalgie merkwürdige und aufschlussreiche Einblicke in die Reihe seiner Vorfahren und ihrer Herkunftsorte in der „Mundartregion Egerland“ vermittelt. Dabei erfahren wir unter anderem zur Etymologie des Namens „Heller“: „Der Landwirt, der die gerodeten Waldstücke bewirtschaftete, wurde Heller genannt.“ 
(S. 28) In diesem Kapitel wird sodann auch der erzwungene Abschied vom Heimatort und dem Egerland im Zuge der Vertreibung, nicht zuletzt aus der subjektiven Erlebnisperspektive des vierjährigen Autors, behandelt.

Das folgende Kapitel ruft zunächst die Aussiedlung im Jahre 1946 in Erinnerung, die Niederlassung der Familie in Ramsau bei Berchtesgaden, mit einem kurzen informativen Exkurs zur Siedlungs- und Wirtschaftsgeschichte dieses Gebietes und des wirtschaftlichen Lebens vor Ort. Ebenso werden der soziale Mikrokosmos der Wohn- und Lebensbedingungen der Familie des Autors im neuen Lebensumfeld, der Wegzug und weitere Lebensweg der Schwester, die Schwierigkeiten und Hindernisse der sozialen Eingliederung von Heimatvertriebenen, die Bedeutung des „Lastenausgleichs“ sowie Episoden des Bildungswegs angesprochen, um letztlich auch einen lebendigen, abgerundeten und reflektierten Rückblick auf die unter diesen Umständen erlebte Kindheit und Jugend zu vermitteln.

In einem weiteren Hauptkapitel stehen die Studienzeit und die anschließende Berufstätigkeit als Wissenschaftler – als erfolgreicher Wissenschaftler, kann man dem als Rezensent hinzufügen – im Mittelpunkt. Beeindruckend ehrlich und ebenso aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang denn auch das Geständnis: „Im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit habe ich mich bis in die 1980er Jahre hinein und noch für viele Jahre danach nicht mit meiner Heimatregion Egerland befasst. Ich habe sogar die ganze Tschechoslowakei nicht berücksichtigt und mich auch ansonsten nicht mit der Geschichte der Heimatvertriebenen beschäftigt, aus heutiger Sicht wohl deshalb, weil mich die Erinnerungen an die Zeiten der Eingliederung in Bayern noch belasteten.“ (S. 91) Allerdings hinterließ die eigene Lebenserfahrung des Autors doch auch ein nachhaltiges berufliches Interesse an der Migrationsproblematik. 

Ein wiedererwecktes und gesteigertes Interesse an der eigenen Herkunftsregion und Herkunftsgeschichte lösten sodann bei dem Autor der demokratische Wandel in Europa nach 1990 und ebenso Exkursionen und Reisen, nicht zuletzt zu Landsleuten aus dem Egerland in Neuseeland aus, wie in einem anschließenden Hauptkapitel ausgeführt wird. Und dies hatte auch beachtliche Auswirkungen: „Als Folge der von mir aufgenommenen Kontakte zu Egerländern und Sudetendeutschen in Deutschland wurde ich auch an das Thema Vertreibung aus der Heimat und zum Umgang von Politik und Gesellschaft mit dem Thema herangeführt. Leider musste ich dabei feststellen, dass die Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat nach dem Zweiten Weltkrieg kaum noch angesprochen wird und dass das Unrecht der Vertreibung von den Vertreiber-Staaten Polen, Sowjetunion bzw. Russland und Tschechische Republik offiziell nicht eingestanden wird.“ (S. 100f.) Der Autor plädiert daher, sich auf allen Seiten ehrlich, unvoreingenommen und gewissenhaft der schwer belasteten Geschichte zuzuwenden und dabei keine Schuld und kein Unrecht zu verharmlosen, sondern alles gründlich aufzuarbeiten und möglichst sachgerecht zu klären. Der Schlusssatz des Buches lautet demnach: „Auch im Egerland sowie in Böhmen und Mähren insgesamt und in deren Nachbarländern sollten die verantwortlichen Personen und Institutionen bei ihrem Handeln im Sinne des europäischen Geistes vom Respekt für die jeweils anderen Gruppen geleitet werden.“ (S. 103)

Jetzt an der Schwelle einer Zeit, da die Angehörigen der Zeitzeugengeneration des Zweiten Weltkriegs, der Deportationen, der Flucht und der Vertreibungen bereits vielfach verstorben sind oder in einem vorgerückten Alter stehen, erscheint es besonders wertvoll und wichtig, dass solche, auf eigene authentische Erfahrungen und Erlebnisse gestützte, gründlich erwogene Aufzeichnungen und Reflexionen entlang persönlicher, biographisch verbürgter Erinnerungen festgehalten werden, ehe sie ins Dämmerlicht und dann auch bald in die Dunkelheit des Vergessens verschwinden. Dies ist der besondere Wert und Stellenwert eines Buches wie dem hier vorliegenden – nämlich einprägsame Erinnerungsbilder und Stützen des kollektiven Gedächtnisses zu vermitteln und damit auch substanziell zu einer nachhaltigen Erinnerungskultur beizutragen.

Wilfried Heller: Zwischen Herkunft und Neuanfang. Biographische Skizze eines Vertriebenen aus dem Egerland (Böhmen). Berlin: Verlag Inspiration Un Limited, 2021. 112 Seiten. ISBN 978-3-945127-322. Preis: 12,90 Euro