Schon ein flüchtiger Blick auf das Leben des Künstlers Ingo Glass lässt uns staunend zurück, denn man begegnet einem wahren Europäer, dessen Werke weit verstreut im alten Großreich der k. u. k. Monarchie anzutreffen sind. Aber auch sein künstlerischer Lebenskreis führt geradezu quer durch die Regionen dieses Vielvölkergebildes. Und dennoch bleibt Ingo Glass zeitlebens auch ein Banater Künstler, wenn auch in einem neuen, modernen Gewand und Sinne, doch stets bekennend.
Der große Strukturwandel, der sich im letzten Jahrhundert in der Wissenschaft und Technik, gleichwohl auch in der Wirtschaft und der Politik vollzogen hat, bewog viele Künstler, nach neuen bildnerischen Sprachen zu suchen. Diese neuen Stilmittel tragen ihren Gehalt in sich selbst, denn sie schaffen neue Wirklichkeiten. Auch wenn sie oft spontan, sogar rein intuitiv entstehen, gewinnen sie im Prozess des Gestaltens ihre eigentliche Reife und erhöhte Sinnhaftigkeit.
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Auf der Suche nach einer eigenen Bildsprache
„Unsere Umwelt, unsere Städte zeigen Rhythmen und Strukturen voller Dynamik, Programmatik und Permutation. Ich meine, was wir täglich erleben, sind programmierte Gesetzmäßigkeiten, welche sich eigentlich auf elementarste Formen reduzieren lassen. Diese linearen und flächigen geometrischen Grundformen bilden ein bestimmendes räumliches Gefüge unseres Lebensraumes. In dieses sich stetig veränderndes Gebilde tritt der Künstler ein, indem er mit seiner – nicht selten sehr eigenen – Bildsprache, seine ‚neue‘ Raumfindung vorstellt. Das künstlerische Werk bezieht sich stets auf das vorgefundene Umfeld, indem er dieses versucht zu ergänzen“, so Ingo Glass, zitiert nach Siegfried Salzmann.
Der Nährboden für Ingo Glass war seine erste Dienststelle in Galatz als Konservator am neu gegründeten Museum für Moderne Kunst. Seine Beobachtungen am Donau-Kai der Stadt zogen den Künstler unaufhaltsam in die Werkhallen des größten rumänischen Walzwerkes für Schiffbau. Hier begann er den Umgang mit dem Material Eisen zu üben und erlag dem Oberflächenreiz des form-baren Metalls. Der suchende Künstler begegnete „seinem“ Werkstoff, mit dem er sich in den folgenden Jahrzehnten stetig auseinandersetzen und dessen er sich bedienen wird: das Eisengestänge und vor allem die Stahlplatten.
Der Verzicht auf die Gegenständlichkeit bleibt die bedeutendste künstlerische Errungenschaft der Moderne. Als die stilbildenden Ismen-Gruppen sich allmählich auflösten, zerfiel die Kunstszene in egozentrierte Individualitäten. Damit begann eine völlig neue Etappe der Kunstgeschichte, welche auch den rezipierenden Betrachter herausforderte. Der Künstler sucht seine Inspiration sowie auch die geistige Rechtfertigung seines Schaffens nicht mehr im bildnerischen Erbe der Menschheit, auch nicht im Unterbewusstsein, sondern in der Welt der Wissenschaft und Technik. Ungewollt wird die individuelle Eigenart eines Künstlers aber auch vom Weltbild seiner Zeit geprägt. Diese liefert ihm sowohl die Sprache als auch die Stilrichtungen, in denen er sich bewegen wird. Für den jungen Kunststudenten Ingo Glass – er studierte in Klausenburg – wurde zum Beispiel die Begegnung mit der Gedankenwelt Brâncușis zur inneren Erweckung. Auch wenn dies nur hinter einer ideologisch blinden Wand des Schweigens geschehen musste, fanden sich immer Wege, um aus dem Lehrwerk der Kunstakademie auszuscheren.
Die bildnerische Gestaltung versucht die unsichtbare Wirklichkeit unserer Zeit aufzuzeigen, um eine schlüssige Ordnung zu schaffen. Dazu sollen die Eigenwerte des verwendeten Materials, der Farben und der Stereometrie aufgezeigt werden, um wahrnehmende Vorstellungen von dem konkreten Objekt, das neu geschaffen wurde, zu gewinnen. Die besondere Fragwürdigkeit allen menschlichen Tuns soll der Illusion der absoluten Gewissheit weichen. Für den Betrachter bleibt das Erlebnis, letztlich nur eine Findung des „Wahren“. Man muss nämlich die Bereitschaft zur Aufnahme, die Neu-Gier mitbringen oder von Natur aus haben.
In Galatz begann der Donau-Weg des Künstlers
Der Weg, den Ingo Glass gehen wird, war weder vorgezeichnet, noch gab es in seiner Umgebung je konkrete Anlässe dazu. Doch er erkannte sehr schnell, wie man sich diese zu schaffen vermag. Auch in der hermetisch abgeschlossenen ideologischen Welt fand er, gerade durch die ihm zugewiesene Aufgabe, Künstler um sich zu versammeln, Mitstreiter und Begleiter. Sein Hang zum Ausbrechen aus den Bahnen der sozialistischen Selbstbespiegelung begann mit der Findung einer neuen Bildsprache, die den jeweiligen Aufpassern fremd und meistens unzugänglich blieb. Allein schon die erhabene „Größe“ der Umsetzung forderte Respekt vor der technischen Leistung, die Sinnhaftigkeit der Gestaltung rückte bei den oft bildungsfernen Genossen in den Hintergrund. Denn wer konnte schon nach „Septenarius“ (1976) – dem „Dom des 20. Jahrhunderts“ am Donau-Kai in Galatz (Stahlplastik, 25 Tonnen, 1500 x 1300 x 1100 cm) – erkennen, dass damit der Weg des jungen Künstlers donauaufwärts gerade begonnen hatte? Er wird diesen seinen sogenannten Donau-Weg konsequent weitergehen.
Was folgte, war dennoch erstaunlich. Waren es noch die „Blinden“ und „Stummen“ im Frühwerk, so erhellte sich das Spektrum plötzlich in den gewagten astralen Türmen und Pyramiden. Filigrane Gestänge und Streben tragen kleinflächige Nischen, welche wie Segel im Wind stehen. Die spitz auslaufenden Bögen greifen wie Vogelschnäbel in den Himmel, der schier fern und unerreichbar bleibt. Hier erklingt plötzlich eine stille Sehnsucht, ein Aufschrei der Künstlerseele, die eher den Vogelflug antreten möchte als weiter in bleierner Stille zu verharren. Es ist eine neue Bildsprache, die nur der Eingeweihte verstehen kann.
Aus den wuchtigen schweren Türmen des Anfangs entwickelten sich plötzlich offene Formen, die einfach im Zusammenstehen zur Ganzheit zur Raum-Form werden. Das aus Erz gewalzte Metall verliert seine Schwere, wird sanft und anschmiegsam. Nur der innere Antrieb bleibt erhalten, das eigene Streben nach oben, die offene Weite der Fantasie. So entstehen unwillkürlich gotisch anmutende Licht-Tore. Neben dem sinnlichen Reiz des gewalzten Erzes boten sich dem Künstler neue Möglichkeiten an: das Biegen und Falten, das Schweißen und Nieten, das Feilen, Fräsen und Polieren. Später, in seiner Reifezeit, kam auch noch die Farbe hinzu. Die Farbzuordnung zu den Urformen der Fläche – Viereck, Kreis und Dreieck – blieb unumgänglich.
Fruchtbare Münchner Jahre: Glass wird weltbekannt
Der Umzug nach München im Jahre 1979 kam dann doch rascher als erwartet. Die Bekanntschaften aus der Zeit als künstlerischer Kurator am Bukarester Deutschen Kulturhaus „Friedrich Schiller“ (1976-1979) erwiesen sich als sehr fruchtbar. Aber seine Beziehungen zu den Kollegen in Rumänien und Ungarn blühten jetzt erst richtig auf, denn er wurde im städtischen Kulturamt angestellt und übernahm ab 1980 die Betreuung des „Üblacker“-Häusls in Haidhausen. Das Häusl wurde in den folgenden 30 Jahren nicht nur zu einer sehr beengten Wohn-„Residenz“ der Familie Glass, sondern zeitweise auch zur Anlaufstelle, gelegentlich auch „Herberge“ für südosteuropäische Künstler, die in München gestrandet oder verblieben waren. Über 375 Vernissagen fanden im Üblacker-Häusl unter der Regie von Ingo Glass statt.
Als Schaffensraum dienten dem Künstler zusätzlich die Werkhallen in der nahen Lothringer Straße 13. Es sind die von ihm betreuten städtischen Ausstellungsräume, die nach der Sanierung des Stadtviertels entstanden waren. Hier war Glass unermüdlich tätig, und hier begannen neben den beruflichen und größtenteils auch ehrenamtlichen Verpflichtungen seine fruchtbarsten und erfolgreichsten schöpferischen Jahre. Und es kommen stets neue Impulse auf ihn zu, durch die zahlreichen Begegnungen mit jungen, aufstrebenden Künstlern aus der ost- und südosteuropäischen Kunstszene, die sich nach der Wende endlich auch im Westen vorstellen wollen.
Für die Banater Künstler organisierte er mehrere Gemeinschaftsprojekte und große Ausstellungen, die zu den Landestreffen der Banater Schwaben in Bayern 1983 in Landshut und 1988 sowie 1993 in Nürnberg gezeigt wurden und mit der Ausstellung „50 Jahre danach – Banater Künstler heute“ ihren Höhepunkt erreichten. Dem 50. Jahrestag des Endes des Zeiten Weltkriegs gewidmet, war die Ausstellung 1995 in Temeswar, Budapest und München zu sehen.
Eines Tages nahm Professor Rudolf Ortner Ingo Glass mit zum Dessauer Bauhaus und führte ihn an den Farbtafeln von Kandinsky und Itten vorbei. Da sagte Glass leicht schmunzelnd, dass er mit der Deutung der Farbsymbolik – blauer Kreis, rotes Quadrat und gelbes Dreieck – nicht übereinstimme. Er finde, das Rot gehöre zur Grundform Kreis und das Blau zum Quadrat. Dazu meinte später Peter Volkwein, der damalige Direktor des Ingolstädter Museums für Konkrete Kunst: „Da warten wir mal erst das Urteil der Kunstgeschichte ab“, ein Standpunkt, den auch ich teile.
Planvolles Spiel mit Grundformen und -farben
Den Anfang der Farb-Raum-Analysen von Ingo Glass machen zunächst kleinere reliefartige Kombinationen in einem strengen, rhythmisch veränderten System. Man erkannte den Großraum-Plastiker kaum wieder, nur vereinzelt klangen noch gotische Bögen nach. Doch die Entwicklung krönte sich alsbald in kubisch anmutenden Raumwürfeln, die aus kreisförmigen, quadratischen oder eckigen Metallplatten bestanden. Bestechend in der klaren Grundform, waren sie so ineinander verschachtelt, dass sie zu einem faszinierenden Ganzen zusammenwuchsen. Man ging um die Elemente herum und erlebte einen neuen Kosmos. Man stand in stiller Zwiesprache mit sich selbst, ging zaghaft im Raum umher, als wäre gerade ein Wunder geschehen. Es war ein planvolles Spielen mit den Formen, als würde man eine Blume entblättern. Jeder Künstler ist letztlich ein verkappter Spieler, der uns in dieser verschlüsselten Welt durch seine Kunst zum Nachdenken auffordert, ohne uns zugleich den Schlüssel zur Lösung anzuvertrauen.
In den folgenden Jahrzehnten stellt Glass eine Vielzahl von neuen Objekten aus. In einem penibel ausgetüftelten System benutzt er sowohl die ausgeschnittenen Formen (die Positiven) als auch die als Negative übriggebliebenen Platten, die er ersteren gleichfalls als Pendant dagegensetzt. Dies stellte höchste Ansprüche an die Herstellung. Die drei Zentimeter dicken beschichteten Platten aus Stahl, später aus Aluminium sind leicht zusammenfügbar, die Kerbstellen kaum erkennbar. Auch dies wird zu einem Kennzeichen seiner Kleinplastik. Die Werke sind leicht transportierbar und werden auch in Sammlungen zerlegt, um sie besser archivieren zu können. Glass’ Formen und Farben bleiben konstant und unverwechselbar. Die Reduktion auf die drei Grundformen Kreis, Quadrat und Dreieck fordert geradezu eine Verwendung der drei Grundfarben Rot, Blau und Gelb. Da hat der Künstler, wie bereits erwähnt, eine eigene Deutung der Farbsymbolik entwickelt.
Monumentale Skulpturen im öffentlichen Raum
Allein im süddeutschen Raum stehen in unzähligen Orten Plastiken von Ingo Glass. Ob im Skulpturenpfad in Vaterstetten, am Thomas-Wimmer-Ring und im Alten Botanischen Garten in München, vor dem Donauschwäbischen Zentralmuseum in Ulm, am Donauufer in Neu-Ulm, in Gundelfingen oder Kulmbach – man ist stets freudig überrascht, wenn man vor einem seiner Werke steht. Ich persönlich ärgere mich hier in München, wenn ich am Effner Platz an der „Mae West“, einem Werk der Künstlerin Rita McBride, vorbeifahre. Wie war es möglich, dass dieser Auftrag nicht an Ingo Glass ging, an einen Künstler, der für seine Monumentalplastiken weltweit bekannt war und der zudem 30 Jahre in Haidhausen wohnte? Wie hätte zum Beispiel eine „Sonnenpyramide“ hier wohl gewirkt? Aber welcher Künstler wurde in seiner Heimat schon geehrt? Da Glass gewöhnlich bei der Auswahl als Juror dabei war, konnte er sich nicht selbst vorschlagen, doch hätten die Kenner der Münchner Kunstszene wohl auf die Idee kommen können. Es reichte immerhin zu dem von der Landeshauptstadt München gestifteten Seerosenpreis für Bildende Kunst 1984 und 2010 wurde ihm sogar der vornehme Seerosenring von Bürgermeister a.D. Dr. Hans-Jochen Vogel persönlich an die Hand gesteckt. Die Laudatio hielt Ex-Kultusminister Dr. Thomas Goppel.
Doch auch die ursprünglichen Ziele der Septenarius-Zeit sind nicht vergessen. Entlang der Donau entstanden in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine Reihe von Großplastiken von Ulm bis Budapest und hinunter nach Galatz. Sie stehen in verschiedenen Orten entlang der Donau, in sieben angrenzenden Donauländern. Ein „Tor zu Serbien“, welches aus politischen Gründen nicht mehr zum Standort kam, steht heute in Temeswar.
Man könnte weitere Beispiele aufzählen, doch würde ja jedes Werk für sich genügen, um einen Platz in der Kunstgeschichte einzunehmen. Was Ingo Glass’ Ringen um Form und Farbe ausmacht, ist die unglaubliche Zähigkeit, mit der er seine Ziele verfolgte. Manche Ideen trug er Jahrzehnte mit sich, eh er sie verwirklichen konnte. Jeder Mensch hinterlässt eine Spur in der Welt, es kommt nur darauf an, wie tief er seine Furchen zieht. Und Ingo Glass’ Spuren sind wahrlich tief. Dazu trugen nicht nur seine biologischen Wurzeln als deutscher Künstler bei, auch das Kulturerbe seiner Heimat prägte ihn tief. Glass, in Temeswar geboren, wuchs in der Banater Stadt Lugosch auf und kam dann nach Klausenburg in ein stark ungarisch geprägtes Gebiet. So wirkt es kaum verwunderlich, dass der Künstler Ingo Glass sich stets dem südosteuropäischen Kulturraum zugehörig fühlte und schon 1994 in Budapest eine eigene Wohnung bezog. Er fühlt sich heute noch als Lugoscher. Hier hat er die Schule besucht, das Gymnasium absolviert und die ersten künstlerischen Versuche gewagt. Der Stadt seiner Jugend schenkte er eine Monumentalplastik, ein seltenes Heldendenkmal zur Erinnerung an die Opfer des Zweiten Weltkrieges. Und siehe da, er ließ sich von den Veteranen überzeugen und gestaltete ausnahmsweise ein Mahnmal aus Marmor, das einzige, das wir von ihm kennen.
Banater Künstler von europäischem Format
Ingo Glass und seine Frau Ursula wohnen nunmehr in Budapest, wo sie eine geräumige Wohnung mit Atelier bezogen haben. Seit einer Rücken-OP 2007 ist er auf den Rollstuhl angewiesen, doch er arbeitet unverdrossen weiter an seinen Projekten. Und das alte Heim in München ist ja immer noch da, denn Tochter Krista Glass führt inzwischen das Üblacker-Häusl weiter als Kustodin.
Ingo Glass begeht am 9. April seinen 80. Geburtstag. Wir feiern unseren Banater Landsmann als Doyen der universellen Bildenden Kunst. Seine Kunst wird zunehmend anerkannt und von bleibendem Wert sein. Sein Gestalten wird auf uns einwirken, auch wenn das Abstrakte nicht immer leicht zugänglich ist und zunächst auf den Betrachter befremdlich wirkt. Unsere Gruppe verharrte zu lange in eingefahrenen Sehgewohnheiten, huldigte dem schönen Schein der Vergangenheit, der gefühlsbetonten Heimatkunst. Doch die wahre Kunst ist größer, sie huldigt dem Verstand und weniger dem Gefühl. Dass dieser Weg vielleicht glücksvoller sein kann, hat uns Ingo Glass’ Kunst gezeigt. Und so ist er herausgetreten aus dem engen heimatgebundenen Dasein in die Welt von Morgen, in die ungeahnten schöpferischen Gefilde der makel-losen, reinen Kunst. Wir können ihm nur dankbar folgen. Mögen die kommenden Jahre uns noch viele über-raschende Facetten seines künstlerischen Schaffens schenken. Und weil ich es so gewohnt bin, erwarte ich noch viele freudige Nachrichten, unter anderem, ob das mit dem Roten so bleibt. Oder werden wir doch allmählich „Blau“. Ad multos annos!