Zu Richard Wagners Lyrik-Anthologie „Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus“
Neben solider Sachkenntnis gehört eine gute Portion Selbstsicherheit dazu, heute eine Anthologie deutscher Lyrik herauszugeben. Der Markt scheint auf den ersten Blick gesättigt zu sein. Eifrige Herausgeber haben jedoch auch in jüngster Zeit, nicht selten unter dem Vorzeichen „meine deutschen Gedichte“, Sammlungen zusammengestellt, die zuweilen bis zu tausend Gedichte enthalten. Hinzu kommt die Überfülle lyrischer Präsenz im Internet. Doch für den Dichter und Prosaautor, Essayisten und politischen Publizisten Richard Wagner, geboren 1952 in Lovrin, sind das sichere Zeichen fortdauernder Beliebtheit des Gedichts bis in unsere Tage: „Deutsche Gedichte sind populär wie eh und je“, so Wagner im Nachwort seiner Anthologie „Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus“. Aber nicht allein die Popularität des Genres beflügelt den Herausgeber, sondern die von ihm überzeugend begründete Unverzichtbarkeit des Gedichts im Selbstverständnis einer Sprach- und Kulturgemeinschaft.
Richard Wagner benennt im Grunde keine Auswahlkriterien für seine Gedichtsammlung. Er spürt den Ursprüngen des Gedichtes nach. Nicht die „Kanonbildung“ oder die „hierarchische Sortierung“ interessiert ihn, sondern die Zauberkraft der Sprache, die sich im guten Gedicht entfaltet, so im uralten Volkslied „Es ist ein Schnee gefallen“, das dem ersten Abschnitt des Bandes vorangestellt ist, aber gleichermaßen in der Kunstdichtung, wie dies der vorliegende Band eindrucksvoll nachweist. Nicht von ungefähr gibt ein Vers aus Joseph von Eichendorffs anrührendem Gedicht „Mondnacht“ sozusagen den Ton der Gedichtsammlung an: „Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus“. Die Sammlung ist in acht Gedicht-Gruppen gegliedert, wobei die Überschriften der einzelnen Abschnitte fast ausschließlich auf Gedichttitel zurückgehen, die gleichsam Gemeinsamkeiten der poetischen Substanz, der Motive oder des vermittelten „Lebensgefühls“ zusammenfassend bezeichnen, zum Beispiel „Tränen des Vaterlandes“, „Hälfte des Lebens“, „Die Dämonen der Städte“, „Nach dem Weltende“.
Von den rund siebzig im Band berücksichtigten Autoren – aus West und Ost, aus Österreich und der Schweiz – sind Goethe, Heine, Eichendorff, Conrad Ferdinand Meyer, Johannes R. Becher und Georg Britting mit den meisten Gedichten vertreten. Die behutsame Auswahl spannt den ganz dezent angedeuteten literaturhistorischen Bogen, mit knappem Hinweis auf „Stationen des deutschen Gedichts“ in den „Zeitläuften“, von Walther von der Vogelweide (1170-1230) bis zu Durs Grünbein (geboren 1962), wobei die „gewaltigen Herausforderungen“, jene der großen Kriege, der Industrialisierung, der Großstadt usw., auf das kollektive Gedächtnis und auf das Lebensgefühl eingewirkt und auch die Themen und Grundhaltungen der Gedichte mitbestimmt
haben. Damit verknüpft sind sprachlich-stilistische und formale Entwicklungslinien, die an epochentypischen Gedichten in der Anthologie sichtbar werden.
Wie bei Anthologien unvermeidlich, wird der geneigte Leser den einen oder anderen Dichternamen vermissen, beispielsweise Nikolaus Lenau oder Eduard Mörike, Hilde Domin oder Rose Ausländer. Fast vergessene große Dichter – darunter selbst der vielgerühmte C. F. Meyer, Friedrich Rückert oder gar Agnes Miegel, die Königsbergerin – werden hingegen zu Recht in Erinnerung gerufen. Dann weist die Anthologie auf kaum bekannte Autoren hin. Dazu ist wohl der Bukowiner Ernst Cara (1902-1941) zu zählen, dessen Gedicht „Hymne an die heutige Frau“ der Herausgeber im „Jahrbuch deutscher Dichter und Schriftsteller Großrumäniens“ (Band 1, Temeswar 1928) entdeckt hat, und neben anderen auch die Schweizerin Silja Walter (1919-2011). Eine Besonderheit der Anthologie besteht in der pointierten Gruppierung der Gedichte innerhalb der Buchabschnitte, so dass aufhellende Kontraste zustande kommen, etwa zwischen Vergänglichkeit und Tod auf der einen Seite und der Heiterkeit und Leichtigkeit des Seins auf der anderen. Zu Heines „Lorelei“ gesellt sich Erich Kästners „Handstand auf der Lorelei“, zu Brechts „Radwechsel“ wiederum „Matti wechselt das rad“ von Yaak Karsunke und dazu von Fitzgerald Kusz das „Gegengedicht zu Brechts Radwechsel“ in fränkischer Mundart.
Mit dieser richtig schönen und übersichtlichen „Blütenlese“ verbindet Richard Wagner in seinem gediegenen Nachwort die Frage, was denn „deutsch“ am Gedicht sei. Dass sie nicht einfach zu beantworten ist, liegt auf der Hand. Doch um Missverständnissen zu begegnen, schreibt Wagner im Nachwort: „Deutsche
Gedichte sind nicht von vornherein vaterländische, also Deutschlandgedichte... Es sind vielmehr die rätselhaften und über die Ungewissheiten tragenden, über Zerrissenheit und Unentschiedenheit hinweg rührenden Verse, in Zeiten der Not und in Zeiten des Wohlstands, die uns beschäftigen.“
Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus. Hundert deutsche Gedichte. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Richard Wagner. Berlin: Aufbau Verlag, 2013. 186 Seiten. ISBN 978-3-351-03549-5. Preis: 12,99 Euro. Zu beziehen über den traditionellen oder den Online-Buchhandel.