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Hörst du die Glocken da oben im Turm

Zur Ankunft der drei bei der Arader Glockengießerei Friedrich Hönig bestellten Kirchenglocken hatten sich 1925 auf dem Bahnhof in Tschakowa viele Schaulustige eingefunden.

Zeitungsinserat der Glockengießerei Anton Novotny Die Illustrationen wurden von Günther Friedmann zur Verfügung gestellt.

Volker Wollmann legt Dokumentation zu den Glockengießereien auf dem Gebiet des heutigen Rumänien vor. „Im Unterschied zur Orgel- steckt die Glockenforschung im Bistum noch in den Kinderschuhen. Dies mag auch daran liegen, daß die Glocken hoch im Kirchturm hängen und ein Aufstieg schwierig bis lebensgefährlich sein kann. Zum anderen waren die Glockengießereien – ähnlich wie auch die Orgelbauwerkstätten – privater Natur, die Meister praktische Menschen, die für ein sachgemäß geführtes Archiv wenig Neigung hatten. Dokumente zur Glockengeschichte finden sich daher verstreut in den Pfarrchroniken wie auch in den kirchlichen Archiven, bisher aber kaum geordnet, gesammelt, sodaß eine Übersicht bislang nicht gegeben ist“, bemängelt Martin Roos, emeritierter Bischof der Diözese Temeswar und Kirchenhistoriker, in dem der Zeitspanne 1890-1914 gewidmeten Band I, 3b/1 der Buchreihe „Erbe und Auftrag. Momente aus der Vergangenheit der Diözese Csanád und ihrer Nachfolgebistümer“ (2016).

Von den Glockengießereien im Banat wurde bisher nur jene von Anton Novotny (Vater und Sohn) in Temeswar eingehender erforscht, was daran liegen mag, dass es sich dabei zum einen um den größten und bedeutendsten Handwerksbetrieb dieser Art in der Region handelte und zum anderen die Quellenbasis in diesem Fall etwas solider ist. Während Martin Roos in dem oben genannten wie auch in Band I, 3a nur grundlegende Informationen zu der Novotny’schen Werkstätte zu bieten vermag, was der dem Werk zugrundeliegenden Konzeption geschuldet ist, geht János Szekernyés in seinem im „Banater Kalender 2015“ erschienenen Beitrag „Die Lebenden rufe ich, die Toten beklage ich, den Blitz banne ich!“ ausführlicher auf deren Leistungen und Produkte ein.

Bisher fehlte eine zusammenhängende, auf systematischer Forschung beruhende Darstellung der Geschichte des Glockengießergewerbes nicht nur für das Banat, sondern für ganz Rumänien. Abhilfe schafft nun eine vor kurzem erschienene Arbeit des aus Siebenbürgen stammenden, in Obrigheim beheimateten Historikers Volker Wollmann. Der achte Band seiner Buchreihe „Patrimoniu preindustrial și industrial în România“ (Vorindustrielles und industrielles Kulturerbe in Rumänien) ist nämlich der Tätigkeit der Glockengießer auf dem Gebiet des heutigen Rumänien von ihren Anfängen bis Mitte des 20. Jahrhunderts gewidmet. Wollmann befasst sich seit seiner Pensionierung mit der Erforschung und Dokumentation von Denkmälern der Wirtschaftsgeschichte und Industriekultur in Rumänien. Die inzwischen zum Standardwerk gewordene Buchreihe ist über einen Zeitraum von zehn Jahren auf acht Bände mit einem Gesamtumfang von über 3100 Seiten und einigen Tausend Fotos angewachsen. Ihr dokumentarischer Wert ist schwer überschätzbar.

Nach einer Einführung in die Thematik des Bandes, in der unter anderem die Schwierigkeiten und Herausforderungen des Unterfangens aufgezeigt werden, geht der Autor in den beiden ersten Kapiteln auf die Technik des Glockengießens und auf die großen Verluste ein, die der historische Glockenbestand infolge von politischen und militärischen Ereignissen (Revolution von 1848/1849, Erster Weltkrieg) erleiden musste. Ab dem dritten Kapitel werden die Glockengießereien in Siebenbürgen, dem Banat und im rumänischen Altreich in chronologischer Reihenfolge und topografisch nach Städten geordnet vorgestellt. Die im Zuge der Recherchen identifizierten Glocken werden nach Ortschaften und Werkstätten in zeitlicher Reihenfolge aufgelistet, wobei die Kirche genannt wird, in der sich die Glocken heute befinden oder befunden haben, und die Glocken beschrieben werden. Angeführt werden die technischen Daten (Gewicht, Maße) sowie die Glockeninschriften, denen – angesichts ihres dokumentarischen Wertes – das Hauptaugenmerk des Autors galt.

In Siebenbürgen kann das Glockengießerhandwerk auf eine lange Tradition zurückblicken, die im 14. Jahrhundert in Hermannstadt ihren Anfang nahm und sich später auch auf Schäßburg und Kronstadt ausweitete. Beginnend mit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verzeichnet die Glockenproduktion in den siebenbürgischen Manufakturen einen explosionsartigen Zuwachs, wobei sich Kronstadt zu einem wichtigen Zentrum entwickelte. Zu Beginn des 18. Jahrhundert verliert Kronstadt seine Vorrangstellung zugunsten Schäßburgs, während in Hermannstadt die Tradition der Glockenherstellung eine langsame Wiederbelebung erfährt. Auch im darauf folgenden Jahrhundert bewahrt Schäßburg seine Position dank der Tätigkeit von Glockengießern wie Johannes Baumgaertner, Friedrich Lootz, Michael Manchen sen. und Michael Benjamin Manchen jun. Die wichtigsten Werkstätten in Hermannstadt waren jene von Josef Graef, Johann Georg Graef und Wilhelm Gottschling. Ab 1781 wurde auch Klausenburg zu einem bedeutenden Zentrum der Glockenproduktion, was auf das Wirken der Glockengießerdynastie Andraschofsky zurückzuführen ist. Weil ein Großteil der Kirchenglocken während des Ersten Weltkriegs zu Kriegszwecken requiriert worden war, verzeichnete die Glockenproduktion überall einen gewaltigen Aufschwung. In der Zwischenkriegszeit gab es mehrere größere Glockengießereien in Hermannstadt (Hans Schieb, Fritz Kauntz, Berger & Spindler, „Ferroagricola“, Andreas Paksa), Cugir (Oskar Klein) und Klausenburg. Allerdings wurden im Laufe der Zeit auch viele Glocken vor allem aus Deutschland und Ungarn nach Siebenbürgen importiert. Diesem Aspekt ist ein separates Kapitel gewidmet.  

In den Kapiteln 9 bis 12 befasst sich Volker Wollmann mit den Glockengießereien im Banat. Wertvolle Daten sowie historische und aktuelle Fotos stellten ihm dabei der Archivar der Römisch-Katholischen Diözese Temeswar Dr. Claudiu Călin, der Bundesvorsitzende des Heimatverbandes der Banater Berglanddeutscher Günther Friedmann (Sindelfingen) und Oliviu Gaidoş aus Lugosch zur Verfügung.

Im Banat sind die ersten Glockengießereien nicht im Bergland entstanden, wie man annehmen könnte, zumal sich dort im 18. Jahrhundert eine fortschrittliche metallurgische Industrie entwickelt hatte, sondern in Temeswar. Der erste Glockengießer, dessen Erzeugnisse Wollmann dokumentieren konnte, war der aus der Steiermark stammende Joseph Egartner (Egardner), der sich um 1800 in Temeswar niederließ und eine Glockengießerei gründete. Nach seinem Tod 1831 wurde die Werkstatt von seinem Sohn Ignaz übernommen (verstorben 1846) und später von Michael und Karl Egartner weitergeführt. Die letzte identifizierte Glocke von Karl Egartner wurde 1869 gegossen.

In Arad eröffnete Friedrich König, „k. k. priv. Glockengießer und Mechaniker“, eine Glockengießerwerkstatt im Jahr 1840. Biografische Daten über ihn sind nicht bekannt, man weiß aber aus Zeitungsinseraten unter anderem, dass ihm das k. k. Handelsministerium am 7. Februar 1857 auf seine Erfindung, „große Glocken im Sand zu gießen und denselben die abgesondert gegossenen Kronen aufzuschrauben“, ein „ausschließendes Privileg für die Dauer eines Jahres“ verliehen hat, oder dass seine Produkte 1890 mit der großen Staatsmedaille ausgezeichnet wurden. Da die Aktivität der Glockengießerei Hönig bis ins Jahr 1937 nachgewiesen werden kann, ist davon auszugehen, dass die Firma nach dem Tod des Gründers von dessen Sohn, ebenfalls ein Friedrich Hönig, weitergeführt wurde. Die meisten der 106 identifizierten Glocken dieser Firma befinden sich heute im Szeklerland.

Dem „großen Glockengießer Anton Novotny aus Temeswar“ und seinem Patent widmet Volker Wollmann ein gesondertes Kapitel, und das zu Recht. Die 1872 von Anton Novotny (1840-1915) in der Temeswarer Fabrikstadt gegründete Glockengießerei entwickelte sich zu einer weithin bekannten, gefragten und anerkannten Firma. Bis 1936 wurden hier 6000 Glocken gegossen und bis zur Nationalisierung des Betriebs im Jahr 1948 dürften weitere hinzugekommen sein. Die Bedeutung der „Glocken- und Metallgießerei Novotny“ wird auch durch die Tatsache unterstrichen, dass hier die größte Zahl (168) von allen in diesem Band dokumentierten Glocken hergestellt wurde. Mit seinen Glocken überzog Novotny nicht nur das Tschanader Bistum, sondern er lieferte auch nach Siebenbürgen, in Gegenden jenseits der Karpaten und in westlicher Richtung in die gesamte Donaumonarchie wie auch in andere Länder Europas, ja bis nach Nordamerika.

Anton Novotny ist auch eine Erfindung zu verdanken, nämlich die Glocke mit durchbrochenem Mantel, die im oberen Teil mit S-förmigen Aussparungen versehen war. Deren Vorteile – einerseits Materialersparnis durch Gewichtreduzierung und damit ein niedrigerer Preis, anderseits ein stärkerer, reinerer und länger vibrierender Ton – wusste er werbewirksam anzupreisen. Diese patentierten Glocken waren wahre Meisterwerke und wurden mehrfach ausgezeichnet. Nach dem Tod des Firmengründers wurde die florierende Glockengießerei von dessen Sohn Anton Novotny weitergeführt. Garant für den Fortbestand der hohen Qualität war der erfahrene Glockengießer Anton Neduhal, dessen Namen in den 1920er Jahren auf sämtlichen Glocken ebenfalls angeführt wurde. Die größte Glocke in der Geschichte der Novotny’schen Gießerei – sie wiegt 3505 Kilogramm – wurde 1936 für die damals in Bau befindliche rumänisch-orthodoxe Kathedrale in Temeswar gegossen. Die Enteignung im Jahr 1948 besiegelte das Ende der Firma. Die Novotny-Glocken, die im Banat und andernorts noch heute erklingen, zeugen von dem einst im Banat hochstehenden Glockengießergewerbe.

Ein weiterer Standort der Glockenproduktion, der in Kapitel 12 behandelt wird, war die Industriestadt Reschitza. Hier wurden bereits 1871, genau 100 Jahre nach der Inbetriebnahme der ersten Hochöfen, im Eisenwerk drei Glocken aus Stahlguss für die   katholische Kirche in Reschitza produziert. Bis 1916, als sich die Stahlglockenproduktion zu verstetigen begann, wurden nur noch gelegentlich Glocken gegossen. In Reschitza hergestellte Glocken (die letzte konnte für das Jahr 1938 nachgewiesen werden) finden sich in mehreren Kirchen und Friedhöfen des Banater Berglands, aber auch andernorts, beispielsweise in der evangelischen Kirche in Liebling.

In den letzten Kapiteln des Buches geht der Autor auf die Glockengießereien in der Moldau und der Walachei sowie jene in Bukarest in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein. Eine umfangreiche Bibliographie sowie ein Index der im Band erwähnten Ortschaften schließen das im Hermannstädter Honterus-Verlag erschienene Buch ab, das durchgehend reich und farbig bebildert ist.

Der hier vorgestellte Band ist wie die gesamte Buchreihe das Ergebnis der Sisyphusarbeit eines Historikers, der mit Leidenschaft, Akribie und Ausdauer ein imposantes Werk zur Industrie- und Wirtschaftsgeschichte von hohem dokumentarischem Wert vorgelegt hat.

Volker Wollmann: Patrimoniu industrial şi preindustrial în România. Volumul VIII. Sibiu: Editura Honterus, 2020. 381 Seiten. ISBN 978-606-008-064-0. Preis: 22,20 Euro (inkl. Versand). Bestellung beim Autor unter der Rufnummer 06261 / 64174 oder per E-Mail an sv.wollmann@t-online.de