Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V.

Die Geschichte hinter dem Bild - Willy Praghers "Spinnerin"

Willy Pragher: Deutsches Mädchen beim Spinnen (Paratz, 22. November 1943) — Anna Schemine mit ihren beiden kleinen Kindern. © StA Freiburg

Siebzig Jahre später: Anna Schemine feiert in Rastatt ihren 90. Geburtstag. Das Bild von Willy Pragher hat einen Ehrenplatz in der guten Stube. Foto: I. Stamm

Wenn Herta Müller in Berlin mit einer bestimmten S-Bahnlinie fährt, dann kommt sie an einer Stelle, wo niemand damit rechnet, an einem Aprikosenbaum vorbei. Der steht in einer Vertiefung neben dem Bahndamm, ganz isoliert und deplatziert – und jedes Mal fühlt sich die Literaturnobelpreisträgerin aus Nitzkydorf beim Anblick dieses Aprikosenbaumes an ihr heimatliches Tal erinnert. Nein, schreibt sie, Heimweh ist das nicht, keine Sehnsucht, nur ein Nachgeschmack ist da, wenn sie den Baum sieht. Und der Nachgeschmack ist manchmal köstlich, manchmal bitter. Die Vergangenheit holt einen ein, ganz gleich, ob man gerne daran denkt oder nicht. So wird es vielen heute in Deutschland lebenden Banater Schwaben mit den Rumänien-Bildern des Freiburger Pressefotografen Willy Pragher (1908-1992) gegangen sein, die in der Ausstellung „Brechungen. Willy Pragher: Rumänische Bildräume 1924-1944“ zu sehen waren. Die Fotoausstellung, ein Kooperationsprojekt des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde Tübingen und des Landesarchivs Baden-Württemberg, Staatsarchiv Freiburg, wanderte ab 2007 dreieinhalb Jahre lang erfolgreich durch Europa (Deutschland, Österreich,
Rumänien, Belgien, Ukraine) und machte 2010 auch in Rastatt Station.

Hier wohnt die aus Paratz stammende Familie Schemine. Als Anfang 2009 die „Banater Post“ einen Beitrag von Josef Wolf über die Banat-Motive des Fotografen Willy Pragher veröffentlichte, erkannte Anna Schemine sich auf dem beigegebenen Foto als junge Frau am Spinnrocken wieder. Dem Institut für ostdeutsche Volkskunde in Freiburg hat sie anschließend wertvolle Informationen über die Bilder geben können, die 1943 in Paratz entstanden sind. Über das Dorf mit den vier Kirchtürmen, von Willy Pragher in mehreren Motiven fotografisch festgehalten, berichtet Anna Schemine: „Das Dorf hatte etwas über viertausend Einwohner, Hausnummern waren über siebenhundert. Das Nachbardorf war Neupetsch, das war rein deutsch, und bei uns war die Bevölkerung gemischt. Die Rumänen waren mehr als wir Deutschen, dann waren noch Ungarn, Serben, Tschechen und Slowaken da und sogar ein Jude. Das war ganz in Ordnung vor dem Krieg. Wir sind auch in die rumänische Kirche gegangen, und dann sind die zu uns gekommen in die Messe. Bei Feierlichkeiten hat man sich gegenseitig besucht. Und zur Auferstehung, zu Ostern, da haben
alle Glocken geläutet…“.

Der Krieg hat alles verändert, auch in der Familie Schemine. Der Mann wurde zum Militär eingezogen, die junge Frau versorgte Haus und Hof und ihre beiden kleinen Kinder. Eines Tages hieß es, da wäre ein Fotograf gekommen, der hätte Aufnahmen vom Dorf gemacht und suche noch Bilder aus dem Arbeitsleben. Ob sie spinnen könne? Ja, sie konnte. Und so entstanden mehrere Bilder von der jungen Frau beim Flachsspinnen. Sie sind zwar nicht in die Ausstellung gekommen – bei 13.000 Fotos allein aus Rumänien war das nicht zu erwarten –, aber Paratz war mehrfach dabei. Das schöne Bild von der Spinnerin hat natürlich einen Ehrenplatz in der guten Stube der Familie Schemine.

Mit dem Krieg und dem Frontwechsel Rumäniens im August 1944 brachen für die Familie schwere Zeiten an. Erst kam der Mann schwer verwundet aus dem Krieg zurück, dann musste die Frau flüchten, um nicht nach Russland verschleppt zu werden. Es folgten Enteignung durch die Kommunisten, Zwangsumsiedlung aus dem eigenen Haus, Zerstörung durch ein Erdbeben, Wiederaufbau und noch einmal Enteignung von Haus und Hof. Jedes Mal hieß es wieder neu anfangen. Auf den Menschenschlag, der all diese „Brechungen“ mitgemacht hat, ohne zu zerbrechen, trifft wohl das Wesensmerkmal „unverzagt“ am ehesten zu.

Als das Ehepaar 1990 endlich nach Deutschland aussiedeln darf und diesmal in Rastatt neu anfängt, sind die beiden schon um die siebzig Jahre alt. Aber die Hände werden noch lange nicht in den Schoß gelegt: Die beiden übernehmen einen Hausmeisterposten, den sie zehn Jahre lang versehen. Und weil die Banater Schwaben Kolonisten sind, brauchen sie auch ein Stück Land zum Bewirtschaften. Ein Garten wird gepachtet, der bringt Obst und Gemüse, so wie man es gewöhnt ist. Als die Kräfte dafür nicht mehr reichen, legt man wenigstens noch einen Streifen beim Haus an mit Blumen, Obstbäumen und Kräutern.

Am 13. Dezember 2013 konnte Anna Schemine ihren 90. Geburtstag feiern. Sie ist noch immer rüstig und kann sich und ihren zwei Jahre älteren Ehemann Hans, mit dem sie seit 72 Jahren verheiratet ist, selbständig versorgen. Bis vor einem Jahr bestieg sie noch die Leiter, um Pfirsiche zu pflücken – vom eigens gepflanzten Baum natürlich, denn als echte Banater Schwäbin bringt sie selbst aus dem kleinsten Flecken Erde immer etwas zum Wachsen und Blühen. Vielleicht kommt daher auch der unverwüstliche Humor der Hochbetagten. Dem Stadtrat, der im Namen von rund 50.000 Mitbürgern gratulierte und dann auch noch die Glück- und Segenswünsche des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg überbrachte, erklärte sie prompt: „Das wünsche ich ihm auch, vor allem Gesundheit!“ Und den Nachbarinnen, die dem Geburtstagskind ein Ständchen dargebracht hatten, versprach Anna Schemine: „Wenn Ihr 90 werdet, komme ich auch singen.“ Das wäre dann in dreißig, vierzig Jahren... Zu den Gratulanten gehörten außer zahlreichen Landsleuten auch Kinder, Enkel und zwei Urenkelinnen. Möge der Lebensfaden der Jubilarin noch lange halten!