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Die Unschärfe der Welt als Poesie des Alltags

Der berührende Roman von Iris Wolff spielt größtenteils im Banat

Das Leben in einem Banater Dorf, menschliche Tragödien, eine spektakuläre Fluchtgeschichte, Erfahrungen mit Spitzeln der Securitate, Geschichten aus früheren Zeiten, als es in Rumänien noch einen König gab, der Berliner Mauerfall, der Lebensalltag in einem Dorf in Norddeutschland, Liebe unter Männern – das alles kommt in dem neuen Roman von Iris Wolff vor, der „Die Unschärfe der Welt“ zum Thema hat. Und doch handelt es sich nicht um ein opulentes Epochenepos, keine Banater oder Siebenbürger Buddenbrooks. Vielmehr um Versatzstücke von Erlebtem, um Geschichten, die sich miteinander zu einem bunten Teppich verweben und deren Kon-turen ineinander verschwimmen, unscharf werden.

So ähnlich hat Iris Wolff im Interview mit Denis Scheck den Titel ihres neuen Romans erklärt. Die Freiburger Schriftstellerin, 1977 in Hermannstadt geboren, ist keine Unbekannte im Literaturbetrieb. „Die Unschärfe der Welt“, beim Stuttgarter Klett-Cotta Verlag erschienen, ist schon ihr vierter Roman, nach „Halber Stein“ (2012), „Leuchtende Schatten“ (2015) und „So tun, als ob es regnet“ (2017). Die Werke der Autorin wurden bereits mit etlichen Preisen ausgezeichnet. „Die Unschärfe der Welt“ war in diesem Jahr für den Deutschen Buchpreis nominiert und dass der Roman es letztlich nicht in die Endrunde geschafft hat, liegt nicht an seiner mangelnden Qualität.

Das Hauptgeschehen spielt sich in einem Dorf im Banat ab, von dem nur bekannt ist, dass es evangelisch ist und an der Marosch liegt. Es tut auch nur insofern was zur Sache, als es um die Pfarrerfamilie des Dorfes geht, Hannes und Florentine, Siebenbürger Sachsen, die als junges Paar ins Pfarrhaus einziehen. Iris Wolff ist selbst Pfarrerstochter und hat einige Kinderjahre in Semlak verbracht, daher verarbeitet sie wohl zum Teil autobiografische Erfahrungen.

Der Blick auf das Banater Dorf ist ein Blick von außen: Schicksale und Zwischenmenschliches, das sich gerade bei der Pfarrerfamilie fokussiert. Bald schon kommt ihr Sohn Samuel zur Welt, durch den sie noch mehr ein Teil der Dorfgemeinschaft werden und dessen Geschichte den weiteren Teil der Handlung trägt. „Etwas würde für alle Zeit hierher zurückkommen oder ging von hier aus – die Richtung ließ sich nicht bestimmen. Der Grad des Glücks wurde hier festgelegt, der Grad der Freiheit, die notwendig war. Doch jedes Dahinterfallen (das unvermeidlich war) würde Samuel feststellen müssen“, heißt es in einer der reflektierenden Passagen von Florentine. Und weiter:

An was würde er sich erinnern? Das kühle Blech der Schubkarre, in das sie ihn setzte, wenn sie im Garten zu tun hatte. Den Geschmack der Nova-Trauben, deren harte Schale er in ihre Hand spuckte. Den Geruch des Geißblatts an der rückseitigen Hausmauer. Den Korridor mit den zugigen Fenstern, die Küche mit der Speisekammer, aus der sie regelmäßig Mäuse verjagten. An die Nachmittage bei Nachbarn, wo ihn jeder verwöhnte, die ihm zugemutete Disziplin in der Kirche. An die Gäste, die von Juni bis September im Pfarrhaus übernachteten, den Zungenschlag der Rumänen und Slowaken, ihr Hochdeutsch oder den Banater Dialekt – vielleicht aber wären es ganz andere Dinge, die sie nicht bemerkte, nicht sehen konnte.

Das Banater Dorf mit seiner deutschen, slowakischen und rumänischen Bevölkerung, mit der Realität des kommunistisch geprägten Alltags, nimmt damit eine Schlüsselstellung für die Entwicklung Samuels ein. Doch deren weiterer Verlauf wird nicht linear erzählt, es tauchen andere, ebenso schicksalhafte Erzählstränge auf – und darin besteht die Stärke des Buches. In jedem neuen Kapitel werden vermeintlich vollkommen unbekannte Personen eingeführt. Erst beim Lesen erschließt sich, welcher Zusammenhang zwischen den Handelnden besteht. Man findet sich oft in ganz anderen Zeiten und an ganz anderen Orten wieder. Einer der beiden Jugendlichen aus der DDR, die einen ganzen Sommer im Pfarrhaus verbracht haben, taucht viele Jahre später wieder auf. Samuel verhilft seinem Jugendfreund Oz zur Flucht aus dem Banat. Und mit besonderer Liebe zum Detail werden, quasi als schicksalhafte Vorgeschichte, die siebenbürgischen Großeltern von Hannes geschildert, in der Vorkriegszeit wohlhabende Unternehmer. Die legendäre Großmutter Karline, die als Jugendliche dem König die Hand gereicht hat, taucht an den entscheidenden Wendepunkten immer wieder auf.

Mit sprachlicher Präzision, Detailfreude und oft ironischer Brechung zeichnet Iris Wolff die Charaktere, deren Lebensschicksale, die Zufälle, Tragödien und Glücksfälle, die sich wie Puzzleteile in ein farbenfrohes Ganzes einfügen, zusammengehalten von einem reflektierenden Erzählbogen. Der Fleckenteppich ist ohne Anfang und Ende, nach allen Seiten offen. Wie der Lauf der Welt unscharf und nicht vorhersehbar.   

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt. Roman. Stuttgart: Klett-Cotta, 2020. 216 Seiten. ISBN 978-3-608-98326-5. Preis: 20 Euro