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Gedanken rund um das Meer

Horst Samson, dessen Geburtsort im Bărăgan ihn sofort in den historischen Kontext der Banater Nachkriegstragödie setzt, hat seine lyrische Stimme schon in zahlreichen Gedichtbänden zu Papier gebracht und fasziniert doch immer wieder mit neuen Zugängen und Gedanken zu dem, was ihn umgibt. Als aufmerksamer Zeitzeuge und mit mittlerweile umfassender Lebenserfahrung entwirft er ein Panorama von Gedanken und Stimmungen, die die Leser gleichermaßen fesseln und erheitern.

Im Pop Verlag Ludwigsburg erschien nun sein jüngster Gedichtband, der einem einzigen Thema gewidmet ist: dem Meer. „Das Meer hat eintönige Musik / in den Adern und Angst. In den Köpfen / Leuchtet die Sonne einer anderen / Welt. So weit das Auge reicht / Nur Wasser, Träume und schier endlose / Geduld, Zeit in blauen / Mengen.“  Für den Lyriker Horst Samson ist das Meer ein Vehikel vielfältiger Inspiration. Dessen Rauschen verselbständigt sich, wird im Titel zum „Rausch“.

Der Aufbau des Bandes mit „Prolog“ und „Epilog“ suggeriert, dass es hier um mehr geht als um die An-
einanderreihung von Naturstimmungen an verschiedenen Meeresorten. Das Meer an sich, Ursprung des Lebens, ist gleichsam auch dessen Allegorie. Im Prolog wird das Meer nur am Rand erwähnt, der „Versuch über das Gedicht“ zeigt den Zugang des Dichters zu seinem Text: „Das Ohr am Boden, lauscht / Nach Explosionen, Metaphern, / Verdächtigen / Geräuschen, studiert Blitze, Einschläge, / Finessen der Grammatik, / beobachtet / Leben, die Tränen des Mittelmeers und hört / Im Dativ dem Sterben zu.“

Unter dieser Prämisse sind die Meer-Gedichte des Bandes  in fünf Kapitel sortiert, deren Überschriften ein Raster an Stimmungen vorgeben: Verbannung – Heimat  – ewiges Nichts – lange Schatten – Gefangenschaft – Liebe – Zeit und Vergänglichkeit. Das sind die Assoziationen, die den Leser in die Lektüre eintauchen lassen.

Das erste Meer, das Samson wahrnehmen konnte, war das Schwarze Meer, assoziiert mit der eigenen Jugend, aber auch mit der Verbannung Ovids:  „Wer hier draußen wartet, kann ewig / Warten, Gedichte schreiben, den Verstand / Verlieren, sich durchs Wasser drehen / Wie eine Schiffsschraube.“ Assoziiert wird auch die Donau, „die wunderbare Lebensader / Des Kontinents voller Leichen“. Deren Ende ist die „Endstation Sehnsucht“: „Das Schwarze Meer. Ich stelle es / Mir so schwarz vor / Und so fern, dass ich gerade / Zu glücklich war, / Nicht hinfahren zu müssen. Zu Hause war alles / Schwarz genug“, heißt es in einem Gedicht aus den Jahren 1981/82.

In Sanary-sur-Mer beschreibt Samson die Beklemmung der 68 Künstler und Schriftsteller, die 1933 ihre Hoffnung auf eine Überfahrt vom dortigen Hafen auf der Flucht vor den Nazis gesetzt hatten. Hier wird das Meer zum Symbol der Hoffnung („Wo in Fenstern Kerzen verbrannten, / War Hoffnung nur ein löchriges Boot“). Die Parallelen zur Hoffnung der Emigranten von heute sind naheliegend: „Im Wellengang / Der Hoffnung und Angst / Scheitern sie in Schlauchbooten“.

Verbunden mit dem Meer ist das Hochgefühl und der Wellenschlag der Liebe, „ein Wort, ein entgrenztes Land / Aus fünf Buchstaben, / Fünf Buchstaben und einem einzigen Meer. Das unentwegt von Sonnenaufgang zu Sonnenuntergang rauscht.“ Reisen ans Meer sind immer mit magischen Bildern verbunden, erschließen die Landschaft und deren Geschichte – ob am Fjord, in Griechenland, in Italien, an der Nordsee oder dem Atlantik. Das Meer als Lebenssinfonie schließt den Gedichtband mit vier Sätzen ab, doch es folgt noch ein Epilog, der das Wunsch-Ende des lyrischen Ichs gleichsam testamentarisch fixiert: „Es sollte September sein, / Auf den Lofoten, an einem Fjord.“  Keinen schöneren Tod kann er sich vorstellen als eine Bootsreise „gelassen und frei / Dem Horizont entgegen (…) / Einem weiten und fremden Land, / Dessen Stille ich genießen will, / Als hätte Bach sie komponiert.“  Die Klammer von Prolog und Epilog rundet den Lyrikband zu einer Lebensbilanz ab.

Das Meer „im Rausch“ als Metapher eines durchaus erfüllten Daseins als Zeuge bewegter Zeiten und Rezeptor von Historie. Die Illustrationen stammen von Horst Samson selbst oder sind (Meeresstimmungs-)Fotos aus dem Familienarchiv. „Lust auf Meer“ ist ein zu erwartender
Effekt der Lektüre.   

Horst Samson: Das Meer im Rausch. Gedichte. Ludwigsburg: Pop-Verlag, 2019. 172 Seiten. ISBN 978-3-86356-285-4. Preis: 19.90 Euro