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Die Zukunft braucht auch den unperfekten Menschen

Einen „Zukunftsroman“ hat Kristiane Kondrat geschrieben, damit begibt sie sich ganz bewusst in das Feld der Science Fiction. Ja, sie nennt ganz konkret das Jahr 2145: „80 Jahre nach der großen Katastrophe“, die wohl mit radioaktiver Strahlung zu tun hat, ist Deutschland wieder ein geteiltes Land. Nicht aus politisch-weltanschaulichen Gründen, sondern weil es wohl unbewohnbare Gebiete gibt, die nicht betreten werden dürfen. Eine „Zwischenzone“ ist nur mit Passierschein erreichbar, hier haben sich Forschungsinstitute großer Konzerne angesiedelt. Doch das erfährt Alfred, der Protagonist des Romans, Chemiker und Wissenschaftler, erst gegen Ende. Und auch, dass es in der „Zwischenzone“ wohl große Krankenhäuser gibt, wo an Patienten experimentiert wird.

Die „große Katastrophe“ ist ein großes Tabu. Die Verursacher beherrschen Gesellschaft und Medien und verbreiten die Mär, die Fehlbarkeit des Menschen sei schuld an solchen unkontrollierbaren Ereignissen. Alle Wissenschaft muss demnach darauf hinauslaufen, den Menschen zu perfektionieren, alle Unzulänglichkeiten der Psyche zu beseitigen. Doch jenseits dieser Welt gibt es hinter Mauern noch das „Dorfareal“, fast ein Mythos, das niemand in den besiedelten Gebieten näher kennt.

Nach der Katastrophe hat sich eine Gruppe Menschen dem Einheitsstaat entzogen und sich freiwillig in die „Wildnis“ begeben. Alfreds wissenschaftliche Mission führt ihn durch das „Nadelöhr“ in eine Welt mit vollkommen archaischen Lebensformen. Zu seinem Erstaunen findet er dort eine funktionierende solidarische Dorfgemeinschaft vor. Auch vier „graue Frauen“, die aus einem Krankenhaus entkommen sind und ihre wahre Identität nicht kennen, sind da gelandet. Grund genug für Alfred, den Dingen abseits des Forschungsauftrags auf die Spur zu gehen, die letztlich auch seine eigene Familie betreffen.

Die beklemmende, obrigkeitsskeptische Grundstimmung ist auch in diesem dritten Roman Kristiane Kondrats allgegenwärtig in einem explizit genannten zukünftigen Deutschland. Das Land wird von der „Neuesten Ordnung“ beherrscht und Alfred erkennt immer mehr die unausweichlichen und teils kriminellen Strukturen der Überwachung, ebenso wie den subversiven Widerstand einiger „Regimegegner“. Dem gegenüber steht die archaische Welt des Dorfes, das die Autorin liebevoll, aber nicht verklärt schildert (das Banater Bergland lässt grüßen). Die Verbundenheit mit der Natur, auch mit deren zerstörerischer Kraft, gibt den Menschen Halt und Sicherheit. Im Gegensatz dazu steht das bequeme, aber unfreie (und von der Natur komplett abgekoppelte) Leben in den „besiedelten Gebieten“, wo „lebensunfähige“ Elemente „entsorgt“ werden und nur Robustheit und Unfehlbarkeit zählen.

Kondrat führt die Handlungsstränge geschickt zusammen und konstruiert einen spannenden (Kriminal-)Roman, der gar nicht so fiktional sein mag, wie er sich anhört. Die Charaktere handeln konsequent und nachvollziehbar und auch so manche furchtbare Erfindung wie die Menschenvernichtungsmaschine „Selekt“ dürfte schon heute technisch umsetzbar sein. Doch unfehlbar ist sie nicht, wie sich zeigt. So gilt das Grauen der Leser nicht nur der fernen Zukunft des 23. Jahrhunderts. Doch das Anliegen der Autorin ist nicht das Hervorrufen  thrillerhafter Beklemmung, sondern letztlich der versöhnliche Gegenentwurf einer gelebten (wenn auch unperfekten) Menschlichkeit. Deswegen ein sympathischer, sehr heutiger Roman der Zukunft.    

Kristiane Kondrat: Das Nadelöhr. Ein Zukunftsroman. Homburg: Hybrid Verlag 2018. 356 Seiten. ISBN 978-3-946820-43-7. Preis: 12,90 Euro