Ist der Bahnhof ein Ort urbanen Lebens, ein Sehnsuchts-, ein Aufbruchs- oder eher ein Nicht-Ort im Sinne von Marc Augé? In „Europa“, dem neu aufgeführten Stück des eigens dafür umgebauten Deutschen Staatstheaters Temeswar, bestimmte er jedenfalls die Szenerie. Im längs zweigeteilten Raum, für die Zuschauer und die Schauspieler, wobei die Zuschauer von ihren Klappstühlen auf die längliche Bühne herabschauten, war diese mit Schienen davor als kleinstädtischer Bahnhof eingerichtet. Das Stück, das am 14. April Premiere hatte, stammt vom schottischen Dramatiker David Greig – in der deutschen Übersetzung von Nils Tabert. Es ist aus dem Jahr 1994 und wurde jetzt von Alexandru Mihăescu inszeniert. Bereits in den 1990er Jahren wurde es mehrmals in Deutschland aufgeführt, hat aber nichts von seiner Aktualität eingebüßt, ja eher noch dazugewonnen.
Die Handlung spielt in einer nicht namentlich genannten Kleinstadt an der Grenze zu Osteuropa, genauer genommen auf dem Bahnhof derselben im Wechsel mit der Bar Calypso. Die Zuschauer werden von einer Szenerie in schummrigem Licht empfangen, der Bahnhofsplatz ist sparsam eingerichtet, mit entsprechenden Tafeln, Bänken und einem Wärterhäuschen. Am markantesten die Schienen davor, die vor allem durch die Abwesenheit der Züge ihren Sinn verloren hatten. Zwei Flüchtlinge, Sava (Rareş Hontzu) und Katia (Silvia Török), Vater und Tochter, steigen mit dem letzten Zug dort aus, um Rast zu machen. Nun soll der Bahnhof stillgelegt werden. Die hier Gestrandeten kommen nicht mehr weiter und bringen durch ihre simple Anwesenheit das labile Gleichgewicht dieses vergessenen Örtchens durcheinander.
Einerseits will der Stationsleiter Fret (Franz Kattesch) sie vertreiben, andererseits freundet er sich mit dem Vater an und auch seine Tochter Adele, hervorragend gespielt von Ioana Iacob, die stets sehnsuchtsvoll die Ferne erkundet, gerne reisen will und die Züge fotografiert, wünscht sich eine Freundin. Allmählich kommen sie und Katia sich näher und Adele entwickelt sich zur interessantesten und tiefgründigsten Figur des ganzen Stücks.
Unter anderem wird auch Morocco (Richard Hladik), ein Kleinunternehmer oder eher Kleinganove, von Adele eingespannt, um Katia zu helfen. Auch da entwickelt sich Konfliktpotenzial. Der Hauptschauplatz des Kampfes wird aber von Adeles Mann in Anspruch genommen, mit dem wenig einfallsreichen Namen Berlin (Harald Weisz). Diesem und seinen Kumpels wird nämlich gekündigt. Maschinen sollen deren Arbeit übernehmen. Die finanzielle Not und die Perspektivlosigkeit treibt ihn schnell zusammen mit seiner Freundin Horse (Daniela Török) rechten Gesinnungen zu. Schillernd, aber verwunderlich ist es, warum Horse sich als Punk frisiert, zumal diese doch eher linksgerichtet sind. Einzig der einarmige Billy (Radu Brănici) entzieht sich der vordergründigen Kausalität und wandert aus.
Im Wechselspiel von Gehen und Bleiben bei Adele, Katia und Sava, von Sinnlosigkeit und Sinnsuche nach dem Wegfall der Arbeit sowohl bei Berlin, Billy und Horse, die von den Maschinen wegrationalisiert werden, als auch bei Fret, dessen Bahnhof nun stillgelegt wird, von Heimatverlust und Heimatsuche, trifft dieses Stück wieder hochaktuelle Themen. Ja die Sinnlosigkeit des Wartens auf dem stillgelegten Bahnhof trägt absurde Züge und kristallisiert die rechte Revolte. Das Gewaltpotenzial wird auf die Arbeitslosigkeit und den Heimatverlust durch die Fremden zurückgeführt. Der Autor scheute nicht die unmittelbare Kausalität. Und es hatte was für sich, diesen Ausbruch von Gewalt zu erleben, denn der Anspruch der Täter auf Zugehörigkeit zu Europa konnte nur nachdenklich machen.
Das Stück hat einige Längen; im schnellen Wechsel wurde jedoch der Bahnhof (Bühne und Kostüme: Ioana Popescu) zur Bar umfunktioniert. Ein Häuschen im ersten Stock sollte Adeles und Berlins Behausung darstellen, die dazugehörende Brücke lieferte den Ausblick in die Ferne. In einer schönen Szene reichen sich Adele und Katia die Hände über den in Nebel eingehüllten Schienen, in einer anderen fahren Fret und Sava mit einer Draisine vor.
Der 39-jährige Temeswarer Regisseur Alexandru Mihăescu, Absolvent des Lenau-Lyzeums und mit einer Theaterausbildung in Rostock und Bukarest, ließ den Schluss erfreulicherweise offen. So konnte man darüber sinnieren, ob dies das Europa ist, in dem wir leben wollen. Ein wichtiger Gedanke nach diesem erbaulichen Theaterabend, in dem Inszenierung und Bühnenbild stimmig waren.
Es ist bereits das zweite Stück von David Greig aus Edinburgh, das am DSTT vom gleichen Regisseur aufgeführt wurde, nach „Die letzte Botschaft des Kosmonauten an die Frau, die er einst in der ehemaligen Sowjetunion liebte“. Die Übersetzung war jedoch nicht immer geglückt, störend wirkten die vielen abgedroschenen Versatzstücke darin, wie „auf dem Präsentierteller sein“ und Ähnliches.
In Temeswar konnte man sich also zu Recht die Frage stellen, ob man die Stadt mit dem stillgelegten Bahnhof war oder zu den am Schluss aufgezählten europäischen Sehnsuchtsorten gehören wollte.
In der künftigen Kulturhauptstadt Europas, in der man sich schon am Flughafen Elfriede Jelinek aus dem Bücherautomaten ziehen konnte und die Theaterkarte gerade mal mit 20 Lei (ca. vier Euro) zu Buche schlägt, war der Saal auch bei der zweiten Vorstellung ausverkauft.