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Plädoyer für ein zweisprachiges Elsass

Zu Pierre Kleins Buch „Das Elsass verstehen: zwischen Normalisierung und Utopie“: Wer heute durch das Elsass fährt und nur Deutsch spricht, könnte ein Verständigungsproblem bekommen. Obwohl das Elsass über viele Jahrhunderte überwiegend deutschsprachig war, kommt man heute ohne Französischkenntnisse kaum weiter. Das liegt an der Politik Frankreichs, das nach dem Zweiten Weltkrieg alles daransetzte, sowohl Hochdeutsch als auch die deutschen Mundarten des Elsass zu verdrängen. Zwar waren auch die Deutschen nicht zimperlich, Französisch zurückzudrängen, wenn sie im Elsass das Sagen hatten. Doch waren sie bei weitem nicht so rabiat wie die Franzosen. Darüber berichtet der elsässische Essayist, Philosoph und pensionierte Professor für Wirtschaftswissenschaften Pierre Klein in seinem Buch „Das Elsass verstehen: zwischen Normalisierung und Utopie“. Wie Klein schreibt, war ab 1945 Französisch im Elsass einzige Amtssprache. Durchgesetzt wurde das unter anderem dadurch, dass deutschsprachige Beamte aus dem Elsass in Regionen versetzt wurden, in denen ausschließlich französisch gesprochen wurde. Für sie kamen Beamte ins Elsass, die kein Wort Deutsch konnten.

Doch nicht nur aus den Ämtern wurde Deutsch verdrängt, sondern auch aus den Medien. Sehr gut lässt sich das am Beispiel des elsässischen Rundfunks veranschaulichen. In elsässischer Mundart moderierte Sendungen aus Straßburg gibt es seit vielen Jahrzehnten. Bis in die 1980-er Jahre liefen hier die Nachrichten zur vollen Stunde in Hochdeutsch. Das ist vorbei. Heute werden sie in französischer Sprache gesendet. Ende 2015 schaltete Frankreich – wie Deutschland und Luxemburg auch – alle seine Mittelwellensender ab. Von der Abschaltung betroffen war auch der Straßburger Sender 1278 Kilohertz, über den das Programm in elsässischer Mundart ausgestrahlt wurde. Seither kann man es nur noch über das Internet hören (unter www.francebleu.fr/elsass). Durch den Wechsel von der Mittelwelle zum Internet verlor das elsässische Programm viele Hörer. Nach eigenen Angaben ist es den Machern aber mittlerweile gelungen, die Verluste wettzumachen.

Bereits 2012 wurde die deutsche Ausgabe der in Straßburg erscheinenden Tageszeitung „Dernières Nouvelles d’Alsace“ (DNA; deutsch: Elsässer Neueste Nachrichten) eingestellt, weil mit der deutschen Sprache keine Leser mehr zu gewinnen waren. Machte 1946 die französische Ausgabe 13 Prozent der Gesamtauflage aus und die deutsche 87 Prozent, so war es 2012 umgekehrt. Dass sich auch die deutsche Ausgabe „Dernières Nouvelles d’Alsace“ nannte, hat mit der restriktiven französischen Sprachpolitik zu tun. Ein regionaler Erlass von 1945 verfügte, dass im Elsass nur zwei Arten von Zeitungen erscheinen durften: französischsprachige und zweisprachige. Wie Pierre Klein schreibt, mussten die zweisprachigen Zeitungen eine ganze Reihe von Auflagen erfüllen: „Sie mussten einen französischen Titel haben; für die Jugend bestimmte Artikel, öffentliche Anzeigen und Bekanntmachungen mussten in französischer Sprache verfasst werden. Die erste Seite, der Redaktionsteil und die Werbung mussten mindestens zu einem Viertel, der Sportteil mindestens zur Hälfte in französischer Sprache geschrieben werden.“

Aber nicht nur aus den Ämtern und den Medien wurde Deutsch hinausgedrängt, sondern auch aus den Schulen. 1945 wurde deutschsprachiger Unterricht an Vor- und Grundschulen ganz abgeschafft. „Deutsch war damit zum ersten Mal in der Geschichte des Elsass aus der Schule verbannt“, schreibt Pierre Klein. „Seit den siebziger Jahren wurde ein bescheidener, keineswegs ausgleichender Unterricht der deutschen Sprache in der Grundschule wieder eingeführt. Seit den neunziger Jahren wurden bilinguale französisch-deutsche Klassen in Vor- und Grundschulen eröffnet, aber sie decken bei weitem weder die Nachfrage noch die Bedürfnisse. Nicht einmal zehn Prozent der Schulbevölkerung werden heute mit diesem Lehrgang beglückt.“

Die jahrzehntelange Verdrängung des Hochdeutschen und der elsässischen Mundart konnte nicht ohne Folgen bleiben, betont Pierre Klein. Französisch werde heute von der gesamten Bevölkerung des Elsass beherrscht. Für über 60 Prozent sei es Muttersprache. Demgegenüber sei die elsässische Mundart nicht einmal mehr „im engen Familienkreis“ die meistbenutzte Sprache. Aus dem
öffentlichen und offiziellen Leben sei sie vollkommen verschwunden. „Noch beherrscht von etwa 40 Prozent der Elsässer, liegt Elsässerdeutsch bereits außerhalb des Kenntnisbereichs von drei Vierteln aller Jugendlichen.“

Hochdeutsch wird Pierre Klein zufolge noch von etwa 40 Prozent der Elsässer „mittelmäßig gut“ gesprochen. Benutzt werde es geringfügig in regionalen Zeitungen, in der Kirche und in der Wahlpropaganda; in größerem Umfang, wenn Elsässer Radio- oder Fernsehsendungen aus Deutschland einschalten. Oft werde Hochdeutsch in der grenzüberschreitenden politischen Zusammenarbeit sowie im bilateralen Handel verwendet.

Pierre Klein setzt sich ohne Wenn und Aber für ein zweisprachiges Elsass ein. Dass alle Elsässer die französische Landessprache beherrschen müssen, ist für ihn selbstverständlich. Darüber hinaus sollten sie sich aber wieder verstärkt auf ihre Mundart besinnen. Der Autor schlägt vor, die vier im Elsass gesprochenen Mundarten – Rheinfränkisch, Südrheinfränkisch, Nieder- und Ober-alemannisch – nicht bloß „Elsässisch“ zu nennen, sondern „Elsasserditsch“, also „Deutsch, wie man es im Elsass spricht, so wie die Schweizer Schwyzerdütsch sagen“. Klein stellt sich gegen die offizielle französische Sprachregelung, nach der „Elsässisch“ eine „Regionalsprache“ sei. „Hier dient der Ausdruck ‚regionale Sprache‘ vor allem dazu, die Sprache nicht zu nennen, das heißt, nicht Deutsch zu sagen.“ Die Begriffe „regional“ oder „Dialekt“ sagten vieles, meint Klein, aber nichts über den Namen der Sprache. „Und das alles nur, weil man von der elsässischen Deutschsprachigkeit (germanophonie) nicht sprechen will oder kann, nichts wissen will oder darf.“

In seinem Buch fordert Pierre Klein, das Hochdeutsche im Elsass zu bewahren, „weil es die Dialekte nährt, weil es uns eine ausgedehnte und universelle kulturelle Landschaft eröffnet, weil es uns unmittelbar den Kontakt zu mehr als 100 Millionen Europäern ermöglicht und nicht zuletzt, weil die Sachen immer so waren. Hochdeutsch führt uns in eine kulturelle, wirtschaftliche, soziale Umwelt ein, an der das Elsass immer teilgenommen hat und weiter teilnehmen muss.“ 

Pierre Klein: Das Elsass verstehen: zwischen Normalisierung und Utopie. Éditions Allewil Verlag, Fegersheim (Frankreich), 2014. 218 Seiten. ISBN 979-10-93645-00-1. Preis: 15 Euro