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Eine Region am Rande Mitteleuropas

Das wissenschaftliche Œuvre des aus Großsanktnikolaus stammenden Soziologen Anton Sterbling besticht nicht durch seinen quantitativen Umfang – eigenen Angaben zufolge umfasst es 45 eigene und 35 herausgegebene Bücher, dazu 550 Aufsätze, Artikel und Rezensionen (Stand Anfang 2018) –, sondern auch durch sein breites thematisches Spektrum. Neben den inhaltlichen Schwerpunkten seiner Lehrtätigkeit an der Hochschule der Sächsischen Polizei in Rothenburg/Oberlausitz und der empirischen Forschung wendete sich Sterbling auch anderen Bereichen zu und setzte sich immer wieder mit
literatur- und sprachwissenschaftlichen, kulturwissenschaftlichen und geschichtlichen Fragestellungen auseinander. Vor allem Strukturfragen und Modernisierungsprobleme Ost- und Südosteuropas wie auch Aspekte der Migrations- und Minderheitenforschung beschäftigen ihn seit Jahrzehnten. Dabei richtet sich sein Blick – allein schon biografisch bedingt – immer wieder auf Rumänien und die rumäniendeutsche Minderheit, verstärkt auf das Banat und die Banater Schwaben.

In den zurückliegenden Jahren legte Anton Sterbling eine ganze Reihe von Buchveröffentlichungen vor, die Rumänien zumeist in einem etwas weitläufigeren südosteuropäischen Kontext behandelten oder sich speziell mit dem Banat beschäftigten. Thematisch ähnlich gelagert ist sein neuester Band „Am Rande Mitteleuropas. Über das Banat und Rumänien“, erschienen in der Buchreihe Land-Berichte des Instituts für regionale Forschung e.V. Die in diesem Band versammelten Beiträge sind zwischen 2010 und 2018 zu verschiedenen Anlässen – Konferenzen, Tagungen, Symposien, Workshops – entstanden und zum Teil in einer etwas oder weitgehend anderen Fassung in Sammelbänden und Zeitschriften erschienen. Die Texte beinhalten, wie es in der Einführung heißt, soziologische wie auch sozial- und kulturwissenschaftliche Reflexionen „zu einschneidenden historischen Ereignissen und folgenreichen zeithistorischen Entwicklungen im Banat und in Rumänien, nicht zuletzt auch aus der spezifischen Erfahrungs- und Erlebnisperspektive der deutschen Minderheit und insbesondere der Banater Schwaben“.

Von den vier Kapiteln des Bandes beziehen sich die beiden ersten vorwiegend auf das Banat. Im ersten Kapitel mit der Überschrift „Das historische Banat und die schicksalhaften ‚Zeitbrüche‘ für die Banater Schwaben“ geht es zunächst um die sozialdemographischen, wirtschaftsstrukturellen und politischen Gegebenheiten des „historischen“ Banats im Vorfeld des Ersten Weltkriegs und die tiefgreifenden Folgen der 1919/1920 erfolgten staatlichen Dreiteilung dieser multiethnischen Region am Rande Mitteleuropas. In einem zweiten Beitrag steht der für die Banater Schwaben wohl gravierendste „Zeitbruch“ der Jahre 1944/1945 im Mittelpunkt der Betrachtung, der – weil mit schweren Schicksalsschlägen und Verlusten verbunden – als individuelle und kollektive Katastrophe erlebt wurde. Vornehmlich aus soziologischer Sicht geht der Beitrag auf die Auswirkungen dieser folgenreichen Zäsur in der Geschichte und kollektiven Daseinslage der Banater Schwaben ein, wobei Sterbling zu den langfristigen Folgen des „Zeitbruchs“ 1944/1945 vier Thesen formuliert. Daraus lässt sich die Erkenntnis ableiten, dass die damals erfolgten historischen Weichenstellungen „nicht nur die Daseinsgegebenheiten der  banatschwäbischen Bevölkerung tiefgreifend veränderte(n), sondern auch der Ausformung der kollektiven Identität und der Selbstvergewisserung der Banater Schwaben Ausrichtungen und Wendungen vorzeichnete(n), die letztlich zu dem heute bekannten Ergebnis einer weitgehenden und wohl unumkehrbaren Aussiedlung in die Bundesrepublik Deutschland führten“.

Das zweite Kapitel bezieht sich auf das Banat und die Deutschen im Sozialismus. Der Autor untersucht zunächst die Bedeutung kultureller Institutionen im Lebensalltag und im Hinblick auf die Wahrung der kollektiven Identität der Deutschen in Rumänien. Unter Berücksichtigung der jeweils gegebenen politischen wie auch minderheiten- und kulturpolitischen Rahmenbedingungen und der Folgen des Aussiedlungsprozesses der Deutschen aus Rumänien spannt er den zeitlichen Bogen vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart. Einer näheren Betrachtung unterzogen wird dabei die „Tauwetterperiode“ der ausgehenden 1960er und beginnenden 1970er Jahre, die so etwas wie eine „Schlüsselkonstellation“ bildete und zugleich einen Höhe- und Wendepunkt der kulturellen und künstlerischen Entfaltungsmöglichkeiten der deutschen Minderheit in Rumänien markierte. In diesem günstigen Zeitfenster habe sich die Ankunft der Kunst und nicht zuletzt der rumäniendeutschen Literatur in der Moderne am deutlichsten manifestiert, so Sterbling.

In einem zweiten Beitrag geht es um „Rituale und Gegenrituale im Sozialismus und ihre sozialen Funktionen“. Das Gegeneinander und Zusammenspiel von Ritualen und Gegenritualen verdeutlicht Anton Sterbling an drei Beispielen, die auf den sozialen „Mikrokosmos“ der eigenen Lebens- und Erfahrungswelt im Banat zurückgreifen. Sie beziehen sich auf konkurrierende Initiations- und Sozialisationsrituale, namentlich die erste Kommunion und die Firmung sowie die sie begleitenden religiösen Rituale im Rahmen der katholischen Kirche einerseits und die kommunistischen Aufnahmerituale in die Pionierorganisation und den kommunistischen Jugendverband andererseits, die als Gegenrituale zu ersteren angesehen werden können. Als weiteres Beispiel werden die besonderen Feierlichkeiten und Auszeichnungsrituale am Ende jedes Schuljahres angeführt. Der Autor verweist auf die Rolle von Ritualen und Symbolen in den damaligen weltanschaulichen Auseinandersetzungen und Herrschaftskonflikten und deutet die ausgewählten Beispiele als Ausdruck grundlegender Strukturprinzipien der sozialen Differenzierung kommunistischer Gesellschaften.

Ausgehend von diesen Strukturprinzipien – „politische Ausschließung“, „soziokulturelle Schließung“ und „meritokratisch-funktionale Differenzierung“ – verfolgt ein weiterer Beitrag die Modernisierungsprozesse und die damit einhergehenden sozialstrukturellen Entwicklungen und insbesondere die vielfältigen Spannungs- und komplizierten Verschränkungsverhältnisse zwischen Tradition und Modernität im überschaubaren Sozialraum des Banater Berglandes wie auch im sozialen Mikrokosmos der Industriestadt Reschitza, wo Sterbling 1972 ein Elektrotechnikstudium aufgenommen hatte.

Im letzten Beitrag dieses Kapitels mit dem Titel „Die aktive Eingliederung der Banater Schwaben in der Bundesrepublik Deutschland“ werden – nach einer gerafften Darstellung des Aussiedlungsprozesses der Banater Schwaben – spezifische Rahmenbedingungen und Teilaspekte ihrer als weitgehend gelungen zu betrachtenden sozialen Integration in die bundesdeutsche Gesellschaft aufgezeigt, um abschließend anhand herausragender Leistungen einzelner Banater Schwaben und deren öffentliche Anerkennung die soziale Bedeutung solcher Leistungsbestätigungen für das Selbstverständnis und kollektive Identitätsbewusstsein der Gruppe herauszustreichen. Am Beispiel der Banater Schwaben lasse sich geradezu mustergültig aufzeigen, wie spezifische Voraussetzungen, die sie als Aussiedler mitbrachten, im Zusammenspiel mit günstigen Aufnahmebedingungen in der Bundesrepublik Deutschland und entsprechenden sozialen Integrationsmechanismen zu einer erfolgreichen Eingliederung in die bundesdeutsche Gesellschaft führten, schlussfolgert Sterbling. Daraus könne man „verallgemeinerbare Grundzüge einer Bedingungskonstellation erfolgreicher Integration anderer Zuwanderergruppen ableiten, aber auch Gründe des geradezu zwangsläufigen Scheiterns von Integrationsbestrebungen in anderen, besonders gelagerten Fällen erkennbar machen“.

Das dritte Kapitel „Mitteleuropa, Rumäniens Weg in die Europäische Union und gegenwärtige Probleme“ vereint drei Aufsätze. Im ersten Beitrag werden die Kooperations- und Konkurrenzbeziehungen zwischen den Staaten Mitteleuropas, die außenwirtschaftlichen Verflechtungen des Donauraums am Beispiel der Handelsbeziehungen Rumäniens sowie die nach dem Systemwechsel 1989/1990 massiv einsetzenden Ost-West-Wanderungen und deren Folgeprobleme thematisiert. Sodann geht es um den Weg Rumäniens in die Europäische Union und um gegenwärtige Probleme der demokratischen und rechtsstaatlichen Konsolidierung in diesem südosteuropäischen Land. Der Autor zeigt Probleme und Defizite des Demokratisierungsprozesses auf, wobei die massiven Korruptionserscheinungen und der weit verbreitete politische Klientelismus, die sich als ein besonders gravierendes strukturelles Problem erweisen, wie auch die Erfolge und Ambivalenzen der Korruptionsbekämpfung etwas näher betrachtet werden. Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt auf den gegenwärtigen Entwicklungen und den recht kritisch erscheinenden Zusammenhängen zwischen politischen Vorgängen und Akteuren, Korruptionserscheinungen und intendierten rechtlichen und institutionellen Änderungen. Zudem werden die gegenwärtigen sozialdemografischen Entwicklungen in Rumänien unter dem Blickwinkel der Minderheiten- und der Migrationsproblematik sowie die wirtschaftsstrukturellen Probleme des Landes untersucht. Sterblings Fazit: Die demokratische Entwicklung in Rumänien erscheint noch keineswegs konsolidiert und der Weg in eine durchweg erfolgreiche Modernisierung ist noch weit.

Das letzte Kapitel, mit „Persönliche Rückblicke und Hypotheken der Vergangenheit“ überschrieben, widmet sich der schwierigen Hinterlassenschaft der Securitate unter besonderer Berücksichtigung der Täter-Opfer-Problematik. Hierbei geht es um strukturelle und personenbezogene Aspekte der Securitate-Problematik und vor allem um die schwer und nachhaltig belasteten Beziehungen zwischen Tätern, nicht selten auch aus den Reihen der ehemaligen deutschen Minderheit in Rumänien, und ihren Opfern. Als noch keineswegs befriedigend aufgearbeitet, erweisen sich diese Hypotheken der Vergangenheit „als gegenwärtig weiterhin wirksames ‚Gift‘“, so Sterbling. Veranschaulicht werden die Ausführungen durch Rückgriffe auf seine eigenen Erfahrungen mit der Securitate und seine eigenen Opferakten, aber auch anhand von Beispielen von Tätern und ihren weiterhin zum Teil recht problematischen Haltungen. Der abschließende Beitrag ist stark autobiografisch angelegt und beleuchtet die persönlichen Beziehungen des Autors zu dem bekannten rumäniendeutschen Schriftsteller Paul Schuster (1930-2004), die für ihn von „schicksalhafter“ Bedeutung waren.

Der von Anton Sterbling vorgelegte Sammelband beleuchtet einzelne Facetten der Geschichte und Gegenwart Rumäniens und des Banats und vermag das hierzulande recht beschränkte und vielfach defizitäre Verständnis für dieses Land und eine kulturelle Region am Rande Mitteleuropas, einschließlich für die historischen und kulturellen Besonderheiten der Banater Schwaben, zu fördern. Den aus dem Banat stammenden Lesern hilft die Textsammlung, eigenes Wissen zu vertiefen und in einen breiteren Kontext einzuordnen oder neue Erkenntnisse zu gewinnen.

Anton Sterbling: Am Rande Mitteleuropas. Über das Banat und Rumänien. Aachen: Shaker Verlag, 2018. 224 Seiten (Institut für regionale Forschung, Buchreihe Land-Berichte; Bd. 14). ISBN 978-3-8440-6195-6. Preis: 10 Euro