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Gerhard von Csanád und seine Rolle in Kirche und Staat

Apotheose des hl. Gerhard, um 1780, unbekannter Meister, ursprünglich in Tschanad, heute im Bischöflichen Ordinariat Temeswar Foto: Diözese Temeswar

Bischof Martin Roos, dem profilierten Kirchenhistoriker, verdanken wir grundlegende Werke zur Geschichte der alten Diözese Csanád. Seine Mitarbeit an dem Band Die katholischen Donauschwaben in der Doppelmonarchie 1867-1918 (Stuttgart 1977), die zweibändige Monografie Maria Radna. Ein Wallfahrtsort im Südosten Europas (Regensburg 1998-2004) sowie das monumentale Werk Erbe und Auftrag. Momente aus der Vergangenheit der Diözese Csanád und ihrer Nachfolgebistümer, das bisher auf fünf Bände gediehen ist, zeugen von seinen unermüdlichen, mit großer Leidenschaft und bewundernswerter Konsequenz betriebenen Forschungen.

Schon früh rückten Leben, Werk und Wirken des hl. Gerhard, des ersten Bischofs der 1030 gegründeten Diözese Csanád, in den Mittelpunkt seines Forschungsinteresses. Zur 900. Wiederkehr seiner Heiligsprechung 1983 verfasste Martin Roos, damals noch in der Pfarrseelsorge in Deutschland tätig, eine im Manuskript gebliebene Abhandlung. Zu der 1991 erschienenen Festgabe für Prälat Josef Haltmayer Glaube in Volk und Heimat steuerte er die Studie „Gerhard von Csanád. Protomärtyrer des christlichen Ungarn“ bei. Wesentliches zu Bischof Gerhard und den Anfängen der Diözese Csanád liefert auch der erste, im Jahr 2009 veröffentlichte Band der schon genannten Reihe „Erbe und Auftrag“.

Bedeutung und Vorzüge der Monografie

Zu seinem 75. Geburtstag im Oktober vergangenen Jahres machte Bischof Roos „allen, die sich dem heiligen Gerhard und seinem Erbe verbunden wissen“ ein besonderes Geschenk: ein 375 Seiten starkes Buch in exzellenter Druckqualität mit dem Titel Gerhard von Csanád. Gestalt eines Bischofs der frühen ungarischen Kirche. Die monografisch angelegte Publikation beschäftigt sich zuvörderst mit der Frage nach Gestalt und Werk des heiligen Gerhard. „Als Menschen des 21. Jahrhunderts trennt uns ein ganzes Jahrtausend von ihm, daher kann eine solche Frage weder gestellt noch beantwortet werden, ohne ein gewisses Risiko einzugehen. Gilt es doch, die im Laufe der Zeit gewachsenen und auf uns gekommenen Vorstellungen anhand der kritisch gesichteten Quellen von neuem zu prüfen und sie gegebenenfalls auch zu korrigieren“, schreibt der Autor im Vorwort. Darüber hinaus solle die Arbeit „auch einen bescheidenen Beitrag zu den Anfängen der Diözese darstellen, für die Gerhard im Auftrag des Königs [Stephan I.] die Grundstrukturen gelegt und der er als erster Bischof bis zur Hingabe seines Lebens, bis zum Martyrium, gedient hat“.

Aufgrund der historischen Rolle, die Gerhard in seinem irdischen Leben zugefallen war, und der Bedeutung, die ihm im 11. Jahrhundert wie auch später in der ungarischen Kirche und Geschichte zukommt, waren Persönlichkeit und Werk des Märtyrerbischofs schon wiederholt Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung und Würdigung. Und dennoch hat eine weitere Arbeit, wie sie uns nun aus der Feder von Martin Roos vorliegt, ihre Rechtfertigung.

Auf der Grundlage der Sichtung und kritischen Bewertung der Quellen und unter Heranziehung der umfangreichen Sekundärliteratur widerspiegelt die Publikation den aktuellen Wissensstand in Bezug auf den heiligen Gerhard. Dem deutschsprachigen Leser bietet sie eine relativ kompakte, gut strukturierte und verständlich gehaltene Darstellung des hier erforschten Gegenstands unter Beleuchtung aller relevanten Aspekte.

Quellen zur Vita Gerhardi und Forschungsstand

Hauptquelle zum Leben des Heiligen bleibt die Legendenliteratur, der das erste Kapitel gewidmet ist. Die Vita Gerhardi, d.h. die Lebensbeschreibung des heiligen Gerhard, ist uns in zwei Varianten erhalten: einer kürzeren Fassung, der Legenda minor, und einer längeren, der Legenda maior. Beide scheinen auf eine gemeinsame ältere Fassung aus dem 11. Jahrhundert zurückzugehen, die vermutlich im Zusammenhang mit der Heiligsprechung Gerhards aufgrund schriftlicher Quellen verfasst wurde. Wie diese Urfassung sind auch die Originale der beiden Legendenfassungen verloren, jedoch liegen uns von letzteren jeweils mehrere Abschriften vor, von denen eine bis ins 12. Jahrhundert zurückzugehen scheint und die übrigen dem 15. Jahrhundert entstammen. Martin Roos nennt alle uns bisher bekannten Handschriften, die in verschiedenen Bibliotheken über ganz Westeuropa verstreut sind. Er weist auch auf den Quellenwert der Deliberatio hin, Gerhards einziges vollständig erhaltenes Werk, das die Lebensdaten der Legenden in ihren Grundzügen bestätigt.

Im zweiten Kapitel geht der Autor auf die Fortschritte ein, die die Gerhards-Forschung seit dem ersten Versuch einer kritischen Ausgabe der Legenden in den Scriptores Rerum Hungaricum 1938 verzeichnet hat. Er fasst die Ergebnisse, zu denen die  Forscher gekommen sind, zusammen und zeigt die Streitpunkte auf, bei denen es im Wesentlichen um die Entstehungszeit der Legenden, um deren Verhältnis zueinander und damit um ihren Quellenwert ging. „Die einschlägige Diskussion über die Priorität unter den beiden Legenden wird wohl nie zu einem allseits befriedigenden Ergebnis führen, hat aber beachtenswerte Erfolge gebracht“, resümiert Martin Roos. Und sie sei noch lange nicht abgeschlossen, fügt er hinzu.

Gesicherte Daten zu Gerhards Lebensweg

Den Lebensweg Gerhards nachzuzeichnen setzt sich das nächste Kapitel zum Ziel. Roos folgt dabei den Ausführungen von Gabriel Silagi, der in seiner 1967 vorgelegten Dissertation Gerhards Deliberatio kritisch untersucht hatte, geht aber den umgekehrten Weg. Er nimmt die kritische Sichtung der Lebensdaten Gerhards nicht von den beiden Legendenfassungen, sondern von der Deliberatio her vor, und stellt dabei fest, dass diese die Legenda minor geradezu bestätigt. Roos führt die aufgrund der Deliberatio als glaubwürdig und gesichert geltenden Daten an, erwähnt aber auch die von Silagi unter Heranziehung der Legenda maior als glaubwürdig eingestuften zusätzlichen Daten zu Gerhards Leben. „Insgesamt mag das, was sich mit völliger Sicherheit über Gerhards Person feststellen lässt, enttäuschend wenig sein, und es erscheint als besonders wenig, wenn man es mit dem Vielen vergleicht, das in einigen Arbeiten über ihn geschrieben wurde“, zitiert Roos und stimmt damit mit
Silagi überein.

Mit „Christentum an der Marosch vor Gerhard“ ist das vierte Kapitel überschrieben. Roos schildert einerseits die Anschlussbestrebungen der Großfürsten Taksony und Géza aus der Dynastie der Árpáden an die lateinische Kirche, die letztlich um das Jahr 1000 zur Krönung Stephans zum König von Ungarn durch Rom führten. Andererseits geht er auf die Lage im Gebiet der späteren Diözese Csanád ein, die zunächst den Herrschaftsbereich des Achtum bildete. Dieser war ein Förderer des byzantinischen Christentums, das er zu einem politischen Bollwerk gegen Stephans Herrschaftsanspruch ausbaute.

Gründung der Diözese und ihre Voraussetzungen

Die Achtum durch Stephans Heerführer Csanád – vermutlich im Jahr 1008 – zugefügte vernichtende Niederlage läutete den Beginn einer neuen Ära in der Region zwischen Kreisch, Theiß, Donau und Karpaten ein. Deren weiteren Geschicke sind politisch wie kirchlich mit König Stephans Namen auf das Engste verknüpft. Er gliederte diesen Landstrich seiner Komitatsverfassung ein und unterstellte ihn – kirchlich gesehen – dem Bischof von Kalotscha. Csanád wurde der erste Gespan des nach ihm benannten Komitats. Dessen Mittelpunkt war die Festung Marosvár, die später ebenfalls seinen Namen tragen wird.

Die Gründung der Diözese Marosvár (die Bezeichnung Csanád gilt erst ab dem 12. Jahrhundert) mit Gerhard als erstem Bischof geht ebenfalls auf König Stephan zurück. Damit beschäftigt sich das nächste Kapitel. Bezüglich der zeitlichen Festlegung der Bistumsgründung bieten nur die Annales Posoniensis einen Anhaltspunkt: Sie legen die Bischofsweihe Gerhards in das Jahr 1030 und somit sei anzunehmen, so der Autor, „dass auch die Gründung des Bistums kurz vor diesem Zeitpunkt erfolgt war“. Die weiteren Ausführungen beziehen sich unter anderem auf die Bischofsresidenz Marosvár, wo Gerhard und seinen Mitarbeitern das ehemalige, von Achtum begründete Kloster der byzantinischen Mönche zugewiesen wurde, auf Gerhards erste Kathedrale, auf die Ausdehnung und Verwaltungsstruktur des Bistums, die Errichtung des Domkapitels usw. „Gerhard baut die Einrichtungen der Diözese auf und legt zusammen mit seinen Mitarbeitern die Fundamente zur späteren Entwicklung des Bistums Csanád“, so Martin Roos.

Gerhard als theologischer Schriftsteller

Für die damalige Zeit alles andere als selbstverständlich, war Bischof Gerhard auch ein Mann der Schrift, des Buches. Er gilt als der erste theologische Schriftsteller des christlichen Ungarn. Das sechste Kapitel des Buches widmet sich seiner Deliberatio supra hymnum trium puerorum, die uns nur in einer einzigen, noch aus dem 11. Jahrhundert stammenden Abschrift erhalten ist. Eine von Gabriel Silagi besorgte mustergültige kritische Ausgabe dieses Werkes ist 1978 in der mittelalterlichen Serie des Corpus Christianorum erschienen. Die Abhandlung – ein Kommentar in acht Büchern zu den ersten Versen des Lobgesangs der drei Jünglinge im Feuerofen, wie dieser uns im Buche Daniel im Alten Testament überliefert ist – sei, so Roos, in der mittelalterlich-allegorischen Bibelerklärung beheimatet und müsse auch von da her beurteilt werden. Man könne nicht behaupten, Gerhard sei ein alles überragendes Genie gewesen. „Aber ebenso wenig lässt sich leugnen, dass Ungarn im 11. Jahrhundert – und wohl auch noch lange danach – keinen aufzuweisen hat, den man Gerhard an die Seite stellen könnte. Es findet sich in der Bekehrungsgeschichte Ungarns keine Persönlichkeit von der Bildung und dem geistig-geistlichen Format eines Gerhard von Csanád.“

Gerhards gewaltsamer Tod im Jahr 1046 in Ofen war die Folge seiner ebenso herausragenden wie exponierten Stellung im öffentlichen Leben des Königreichs Ungarns, vor allem in der Zeit der Thronwirren, die auf den Tod König Stephans 1038 folgten. Person, Leben und Glaubenszeugnis des Gerhard von Csanád erfreuten sich bei den Zeitgenossen und erst recht später außergewöhnlicher Hochachtung. Diese steigerte sich mit seiner Heiligsprechung im Jahr 1083 zur Verehrung. Der Kult um Gerhard steht im Mittelpunkt des letzten Kapitels. Martin Roos zeigt auf, in welchen Formen und Zeitabschnitten sich die Gerhards-Verehrung geäußert hat und spürt dem Schicksal seiner Reliquien nach.

Verehrung und Schicksal der Reliquien

Der Gerhards-Kult setzte mit seinem Märtyrertod ein, erfuhr mit der Überführung seiner Gebeine nach Csanád (1053 oder 1054) und vor allem nach seiner Heiligsprechung einen neuen Auftrieb, um dann im 14. und 15. Jahrhundert eine erhebliche Zunahme zu verzeichnen. Im Zusammenhang mit dem Aufleben des ungarischen Nationalbewusstseins erfuhr der Gerhards-Kult erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Neubelebung. Tiefer in das Bewusstsein der deutschsprachigen Gläubigen der Diözese Temeswar drang der heilige Gerhard erst in der Zwischenkriegszeit, auch und vor allem dank der Arbeiten von Koloman Juhász. Und in das allgemeine Bewusstsein der Donauschwaben sollte er im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg rücken.

Der Autor weist auf das wechselhafte Schicksal der Reliquien des Heiligen hin, deren Zerstreuung schon Anfang des 14. Jahrhunderts begonnen hat. Erhalten geblieben sind bis auf unsere Tage allein die ins Ausland verbrachten Reliquien. Die in Tschanad verbliebenen sind seit der Bauernrevolte des Georg Dózsa 1514 spurlos verschwunden und müssen als unwiederbringlich verloren gelten. Heute befinden sich Gerhards-Reliquien in fünf europäischen Ländern: Italien, Rumänien, Serbien, Tschechien und Ungarn.

Wer sich in die beiden Fassungen der Gerhards-Legende vertiefen will, findet diese in der Übersetzung von Gabriel Silagi im Anhang. Unter dem Titel „Neues zu Gerhard von Csanád“ ist dort auch ein von Martin Roos ins Deutsche übersetzter Text abgedruckt, der erst 1982 entdeckt wurde. Der mit De sancto Gerardo überschriebene knappe Text, der zweifellos auf Gerhard zurückgeht und in einer Abschrift aus dem 14. Jahrhundert vorliegt, ist ein Nachwort zu einer Sammlung von Homilien und Predigten und stellt zugleich ein Glaubensbekenntnis des hl. Gerhard dar.

Wie man es von Bischof Roos gewohnt ist und wie es sich einer wissenschaftlichen Arbeit geziemt, sind die Ausführungen im Text genau belegt. Ganze 45 Seiten nehmen die Anmerkungen ein. Sehr umfangreich fällt auch das Schrifttumsverzeichnis aus, das sich allerdings auf die gesamte Vergangenheit des Bistums bezieht und mit 180 Seiten zu Buche schlägt. Das dreifache Register am Ende des Bandes ermöglicht die gezielte Suche nach Personen, Orten und Sachnamen. Dem gefällig gestalteten Buch sind 15 Abbildungen beigegeben.

Der heilige Gerhard ist eine der bedeutendsten Gestalten der frühen ungarischen Kirche. Sein Anteil an der Bekehrung der Ungarn und damit an der Festigung der lateinischen Kirche im Südosten des neugegründeten Staatswesens König Stephans I. war entscheidend. Als erster Bischof von Marosvár/Csanád hat er die Fundamente geschaffen, auf denen sich die spätere Entwicklung der Diözese vollzog, und seinem Kirchensprengel wie auch dem Kirchenvolk bis zu seinem Märtyrertod treu gedient. Die Lauterkeit seines Wesens und der Tiefgang seines Wirkens brachten ihm die Verehrung des Volkes ein, die in seiner Heiligsprechung ihre höchste Bestätigung fand. „Als Protomärtyrer des ungarischen Pannonien ist Gerhard ein getreues Abbild des urchristlichen Märtyrers, das Glauben und Leben in der Person des getreuen Zeugen (…) aufs engste verbunden wissen will“, so das Resümee des Autors.

Allen, die sich dem heiligen Gerhard und seinem Erbe verbunden wissen, ist diese Monografie wärmstens zu empfehlen.