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Die Wiederentdeckung des Südostens: Temeswar im Banat ist europäische Kulturhauptstadt 2021 (Teil 2)

Die 1926 auf dem Korso aufgestellte Kapitolinische Wölfin weist auf die Romanität der Rumänen hin. Das Theatergebäude am Kopfende des Korsos, 1871-1875 von den Wiender Architekten Fellner und Helmer im Renaissancestil errichtet, steht noch in seiner ursprünglichen Form.

Unverkennbar ist die rumänische Handschrift beim Um- bzw. Neubau des Stadttheaters durch den Bukarester Architekten Duiliu Marcu unter Verwendung neobyzantinischer und altrumänischer Elemente (Neueröffnung 1928). Die Ansichtskarten stammen aus der Sammlung Peter-Dietmar Leber.

„Eminent deutsch“ Es ist in Temeswar nicht neu, mit wechselnden Mehrheiten zurecht zu kommen und Minderheiten als gleichberechtigt anzuerkennen. Prinz Eugen eroberte eine Stadt, die, neben der türkischen Besatzung, von Raizen (Serben und Rumänen), Armeniern und Juden bevölkert war. Bereits sechs Monate danach waren 58 Kolonistenfamilien zugezogen – entlassene Soldaten, Handwerker und auch schon Siedler aus dem Reich –, vorwiegend Deutsche. Aber auch Italiener, Ungarn und Slawen waren unter den neuen Stadtbürgern zu finden. 1773 zählte die Bevölkerung Temeswars 6718 Bürger, 1851 hatte die Stadt bereits 22560 Einwohner, von denen 2000 Mann Infanterie und Artillerie der Garnison angehörten. Die Deutschen stellten mit 8775 Einwohnern die Mehrheit, ihnen folgten die Rumänen mit 3807 Stadtbürgern, die Serben und andere Slawen mit 2482 und die Ungarn mit 2346 Einwohnern. Hinzu kamen 179 Zigeuner, 39 Griechen, 22 Italiener, 18 Türken und ein Franzose. 2810 Personen sind in der Rubrik „Fremde“ angeführt, 81 als Ausländer.

Im anbrechenden 20. Jahrhundert präsentierte sich die Banater Metropole, nach Schleifung der Festungswälle, auch als aufstrebende Industriestadt. 1910 ermittelte die Volkszählung stolze 72555 Einwohner: 31644 Deutsche, 28552 Ungarn, 7566 Rumänen und 3482 Serben. 1930 wurden im nun schon zum Königreich Rumänien gehörenden Temeswar 91580 Einwohner registriert. Von ihnen bekannten sich 27807 als Deutsche, 27652 als Ungarn, 24217 als Rumänen, 7171 als Juden und 2156 als Serben. Die Stadt galt noch immer als „eminent deutsch“, wenngleich die massive Zuwanderung von Rumänen eine absehbare, politisch nachhaltig geförderte, aber auch dem Banater Nationalitätenspiegel entsprechende Veränderung erkennen ließ. Im seit 1920 geteilten Banat stellte in dem Rumänien zugesprochenen Teil die rumänische Bevölkerung die unangefochtene Mehrheit, was sich in der Folge auch auf die nationale Zusammensetzung Temeswars, amtlich nun Timişoara, auswirken sollte. Auf der im Frieden von Trianon beschlossenen Teilung des Banats – um die
Berücksichtigung einer nationalstaatlichen Lösung der Südslawen und Rumänen bemüht – blieben die Einwände der Banater Deutschen unberücksichtigt, die eine Teilung zu verhindern suchten. Temeswar, das bis dahin am östlichen Rand der alten Monarchie lag, sah sich nun in eine westliche Provinz von Rumänien versetzt, wobei die neue Hauptstadt Bukarest entfernter zu sein schien als es das alte Wien jemals gewesen ist. Dennoch waren die Voraussetzungen für den Fortbestand der deutschen Minderheit in Temeswar und im Banat keineswegs ohne Perspektive.

Heute, nach dem fast vollständigen Auszug der Deutschen aus Rumänien, werden die nach Trianon existenten und auch durchaus erkannten Chancen für eine eigenständige kulturelle Identität der Banater Schwaben im neuen Vaterland Rumänien oft übersehen. 1919 wird das deutsche Realgymnasium eröffnet und in Temeswar erscheinen sechs deutsche Zeitungen, Dr. Michael Kausch gründet im gleichen Jahr den Deutsch-Schwäbischen Kulturverband, 1920 nimmt die Katholisch-Deutsche Lehrerbildungsanstalt in der Tigergasse ihre Tätigkeit auf, 1921 gründet Dr. Kaspar Muth die Deutsch-Schwäbische Volksgemeinschaft als politische Interessengemeinschaft, 1922 bringt Viktor Orendi-Hommenau eine neue Folge der Zeitschrift „Von der Heide“ heraus, 1923 wird der deutsche Sportverein „Rapid“ gegründet, 1930 erhält das Banat mit Dr. h.c. Augustin Pacha – ein Dorfkind aus Moritzfeld und das zwölfte von dreizehn Geschwistern – den ersten „Schwabenbischof“, 1924-1926 entsteht in Temeswar mit der „Banatia“ das größte deutsche Schulzentrum in Südosteuropa.

Allein diese im Zeitraffer genannten Ereignisse weisen auf einen ausgeprägten Behauptungswillen der deutschen Bevölkerung im Banat hin, der – behördlich geduldet – als Gewissenspflicht sowohl vom Bischof wie von den politischen Vertretern der deutschen Minderheit sowie von großen Teilen der Banater Schwaben mitgetragen worden ist. 1940 werden in Temeswar 34008 Deutsche, 33369 Rumänen, 27584 Ungarn, 12746 Juden und 2498 Serben gezählt.

Bunt und bunter

Seit 1939 war wieder Krieg in Europa, und nachher wird auch in Temeswar nichts mehr so sein, wie es einmal war. Im Juni und Juli 1944 bombardierten englische und amerikanische Luftstreitkräfte die Stadt, wobei hauptsächlich der Bahnhof und die benachbarte Josefstadt Zerstörungen erlitten. Im September griffen deutsche Kampfflugzeuge die Stadt an.

Rumäniens Frontwechsel hatte einen Regierungswechsel in Bukarest und das Einbrechen der deutschen Karpaten-Front zur Folge. Im Januar 1945 wurden die arbeitsfähigen Angehörigen der deutschen Minderheit in die Sowjetunion deportiert. Enteignungen und der (später aufgehobene) Verlust der staatsbürgerlichen Rechte haben zu einem Bruch geführt, der mit der der Wende von 1989 zum fluchtartigen Exodus auch der Banater Deutschen geführt hat.

Heute hat Temeswar knapp über 300000 Einwohner, von denen 85 Prozent Rumänen sind. Die einst „eminent deutsche“ Stadt ist nur noch Geschichte. Noch immer aber wird hier Theater in drei Sprachen gespielt, und in der Lenau-Schule wird noch immer in deutscher Sprache unterrichtet. Die Ungarn und Serben gehören nach wie vor dazu, und es dürften in letzter Zeit auch einige Neubürger aus entlegenen Ländern hinzugekommen sein. Freimütig bekennt sich die Stadt zu ihrer multiethnischen Vergangenheit, die nicht nur im Stadtbild erkennbar ist, sondern sich auch im Bewusstsein der Bürger erhalten hat. Straßennamen und Denkmäler erinnern daran, Kirchen und Synagogen und, nicht zuletzt, der Blick nach Europa. Geschichte und Gegenwart verbinden sich zu einem Fortschrittsgedanken, der Ressentiments zu glätten vermag. Denn die Realität im Banat war schon immer universell. Prinz Eugen, der habsburgische Feldherr, war ein Savoyer, Graf Mercy, Präsident der Landesadministration, ein Lothringer, der Historiker Francesco Griselini ein Venezianer, der Bauernführer Dózsa ein Szekler, die fürstlichen Hunyadis haben rumänische Wurzeln, General Bem – er befehligte 1848/49 die revolutionären ungarischen Streitkräfte – war Pole, Nikolaus Lenau Österreicher. Auch wenn keiner ganz frei von Eigenliebe gewesen sein mag – fremd war in Temeswar der Nachbar nie. Man empfand es so ungewöhnlich nicht, dass der deutsche Dichter Robert Reiter in seinen frühen Schriften ungarisch schrieb, der Serbe Johann Szimits in banatschwäbischer Mundart dichtete, der Publizist Sim Sam Moldovan im Banater Bergland seine lokalhistorischen Beiträge in drei Sprachen veröffentlichte, der Ungar Béla Bartók die rumänische Volksmusik erforschte, und der russischstämmige Maler Konstantin Daniel (er schuf die 52 Bildtafeln des Ikonostas der serbisch-orthodoxen Kathedrale auf den Domplatz) seine Briefe in rumänischer Sprache in ungarischer Lautschrift abfasste.

Recht lange galt die Rechtschreibung auch im Banat als persönliche Angelegenheit des jeweiligen Beamten oder Pfarrherren, der Wörter und Namen schlichtweg der Aussprache oder dem Gehör anpasste. So wurde die in der Gemeinde Triebswetter angesiedelte Familie des Schauspielers Rudolf Schati aus dem französischen Chati abgeleitet, und selbst der lothringische Hofkammerrat De-Jean, Edler von Hansen nahm es gelassen hin, seinen Namen in Temeswar schlichtweg als Deschan geschrieben zu sehen. In vielen Familien kamen zudem anderssprachige Seitenlinien vor, die Vornamen passten sich dem Zeitgeist an, und in den Cafés fidelten die Zigeuner die Lieblingsmelodien der Gäste jeder Couleur.

So war es, und so war es auch nicht.

Gott und dem Vaterland dienen

Mitunter schieden sich auch im Banat die Geister, und die Spaltung lief zuweilen quer durchs Dorf, grenzte den Nachbarn aus und trennte die Familien. Ich erlebte als Kind die Verdrängung unseres jüdischen Nachbarn Tachauer und, als Internatsschüler, den Ausschluss des bis dahin als unersetzlich geltenden Prälaten Josef Nischbach aus der Deutschen Lehrerbildungsanstalt und dem „Banatia“-Schülerheim in Temeswar. Ich habe ihn als sehr mannhaft, geradezu als soldatisch im Sinn, 1916-1918 als Militärseelsorger gehärtet, aber nicht verhärtet. Dennoch war er der selbstherrlichen, von Berlin aus diktierten Volksgruppenführung nicht forsch genug und – Ironie des Schicksals – nach der deutschen Niederlage den neuen Machthabern in Bukarest nicht gefügig genug. Acht Jahre verbrachte er in ihren Kerkern, mit Bischof Pacha und anderen Würdenträgern der Diözese angeklagt und verurteilt wegen „Spionage, Devisen- und Waffenschmuggel und anderer Delikte“. Bischof Pacha, zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt, wurde nach vier Jahren Haft entlassen. Zwei Monate danach, am 4. November 1954, ist er in Temewar gestorben. Sein Hirtenbrief vom 4. Juni 1950 zeigt Haltung und Standhaftigkeit in höchster Not: „Wir haben unsere Schulen und blühenden Erziehungsanstalten, unsere Spitäler und sozialen Einrichtungen verloren, unsere verdienstvollen religiösen Ordensgemeinschaften wurden fast alle aufgelöst, die religiöse Unterweisung der Jugend und die Möglichkeit für ihre Teilnahme am Gottesdienst wurde immer schwieriger.“ Mit unmissverständlicher
Offenheit weist Bischof Augustin Pacha die Kollaboration mit dem kommunistischen Machtapparat zurück und erwartet von diesem, „dass alle Gott und dem Vaterland dienen können, jeder nach seinem Gewissen“.

Die Forderung des Bischofs, „dienen können, jeder nach seinem Gewissen“, bleibt seither ein Banater Leitgedanke in der Beurteilung des Verhältnisses zur jeweiligen Obrigkeit. Das gilt auch im Rückblick auf das historische „Reich“, aus dessen unterschiedlichen Teilen die Kolonisten im 18. Jahrhundert ins Banat zugewandert sind. Es erfuhr in der anfänglichen Unwirtlichkeit der Fremde eine Verklärung, die noch anhielt, als den Kolonisten das Banat längst zur eigentlichen Heimat geworden war. Im immer entfernteren Rückblick versickerten in ihrem Bewusstsein die Unzulänglichkeiten und Nöte, die ihre Vorfahren einst zur massenhaften Auswanderung aus den deutschen Ländern veranlasst hatten. Die fluchtartig  erfolgte Rückwanderung nach der Wende von 1989 geschah dann zu einem Zeitpunkt, an dem, diesmal im Banat, nicht abwendbare gesellschaftliche Nöte und Perspektivlosigkeit herrschten und der westliche Wohlstand eine Alternative zu bieten schien, die auch die besonders nach dem Zweiten Weltkrieg aufgekommenen nationalen Probleme der Deutschen im östlichen Ausland weitgehend zu neutralisieren vermochte. Eine Heimkehr konnte es nicht sein.

Es mag für die deutschen Temeswarer von einst nicht ohne Reiz sein, sich heute mit einem Bevölkerungsanteil von 3000 Bürgern in ihre Stadt zurückzudenken. Sie ist jetzt rumänischer als sie jemals ungarisch gewesen ist, doch freier denn je bekennt sie sich zu ihrer ganzen Geschichte, die nicht eine beliebig auswählbare Selektion historischer Fakten sein kann, und schon gar nicht die Minimierung einer Minderheit zulässt. Vor diesem Hintergrund erfolgte auch der Aufstand gegen den Diktator Ceauşescu. Es war der bis dahin kaum bekannte László Tőkés, Pastor der kleinen reformierten ungarischen Glaubensgemeinde, dessen eher als Ungehorsam zu bezeichnender Widerstand die gesamte Stadt gegen den Machtapparat der Partei aufbrachte. Ausgerechnet an der Stelle, an der 1514 der rebellierende Dózsa hingerichtet worden sein soll. Seit 1906 steht dort eine Marienstatue, baldachinüberdacht und mit Blumen geschmückt, als Fürbitte in mancher Notlage und als ein denkwürdiges Wahrzeichen der Stadt Temeswar.

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Es gab in Temeswar keinen auch nur versuchten Rückfall in Nicolae Ceauşescus perfekt überwachte und dilettantisch zugrunde gewirtschaftete sozialistische Gesellschaft. Der Diktator soll diese eigenwillige Stadt nicht gemocht haben. Die Temeswarer ihrerseits empfanden seine gelegentlichen „Arbeitsbesuche“ als Aufdringlichkeit eines Außenstehenden, und dessen groteskes imperiales Gehabe als wesensfremd. Temeswar war schon immer Grenzort, was eine gewisse Distanz zum jeweiligen Machtzentrum ergab und zugleich anregte, auf Tuchfühlung mit der Welt draußen zu sein. Wien und Bukarest liegen etwa gleich weit entfernt, und so mag es ein mit Klugheit verbundener Realitätssinn gewesen sein, der hier über Jahrhunderte hinweg das Denken und Handeln bestimmte, ohne dabei das eigene Maß zu verkennen.

In seiner 1853 veröffentlichten „Monographie der königlichen Freistadt Temesvár“ hat Johann Nepomuk Preyer, Chronist und Bürgermeister, seiner Stadt den Platz zugewiesen, der ihr im Vergleich zukommt. Wer Temeswar besucht, so Preyer, darf „... keinen Pariser, Wiener oder überhaupt einen großen Residenzmaßstab mitbringen, er sähe sich natürlich getäuscht“. Er verweist auf die „vielleicht nicht unparteiische Ansicht“ des Verfassers in der Bewertung seiner Heimatstadt, und da mag ein anderer Maßstab zulässig – wenn nicht sogar angebracht zu sein. Der beste Vergleich ist ohnehin ein Vergleich mit sich selbst, und Preyers Temeswar war und blieb eine wache junge Stadt, die in markanten Schüben mit der Zeit Schritt zu halten bemüht war. Was gelang. 1884 führte die Stadt, als erste in Europa, die elektrische Straßenbeleuchtung ein, 1899 fuhr bereits die „Elektrische“ in Temeswar, Johann Strauß-Sohn trat in Temeswar mit seinem Orchester auf, Franz Liszt konzertierte in der Stadt, der rumänische Dichter Mihail Eminescu besuchte sie mit einer Wanderbühne, Rainer Maria Rilke schrieb seine „Briefe an einen jungen Dichter“ an Franz Xaver Kappus in Temeswar.

Es ist zu hoffen, dass der Banater Metropole als Kulturhauptstadt Europas 2021 erneut ein solcher Schub gelingt. Er erfordert Ideen, Mühe und Investitionen. 48,5 Millionen Euro sind dafür vorgesehen – zur Verschönerung und Instandsetzung, zur Modernisierung und Annäherung an europäische Standards. An Bewahrung wie Modernisierung ist gleich viel zu tun. „Lass dein Licht leuchten...“ – so das Motto der Stadt zum Ereignis. Nicht Glanz und Glimmer soll es sein, sondern das Licht jener begründeten Zuversicht, die erhellt und nicht blendet. Bürgermeister Nicolae Robu wertet den Ehrentitel seiner Stadt als „Mannschaftserfolg“, als Leistung und Verdienst unterschiedslos aller. Als so gefestigte Gemeinschaft will und wird sich Temeswar als Kulturhauptstadt Europas präsentieren und ein neues Zeichen setzen für das, was es seit drei Jahrhunderten zusammenhält: die Liebe zur Stadt, die erhobene Stirn und der gegenseitige Respekt.