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„Nor die Erinnerung bleibt“

Hans Niedermayer (1930-2016) Foto: Walther Konschitzky

Ein Buch von Hans Niedermayer zum Abschied - Nachdem sein Erzählband „Summerwind. Schwowischi Gschichte iwers Dorflewe im Banat“ 2013 erschienen war, hat der Banater Mundartautor Hans Niedermayer – sichtlich erleichtert und hocherfreut – die Feder niedergelegt. Eine Last, die er lange mit sich herumgetragen hatte und die im eifrigen Schreiben immer schwerer wurde, war nun abgelegt, das konnte man aus seiner Rede
heraushören. Ein lange gehegter Wunsch hatte sich erfüllt, Genugtuung und Freude teilten sich unverhohlen mit. Man konnte sich mit ihm freuen, und man hatte guten Grund dazu: Ein selten schönes Buch, sprachlich einfallsreich, bildhaft und ausdrucksstark, zurückhaltend und doch zuweilen heiter in der Mundart seines Herkunftsortes Dolatz geschrieben, lag vor uns – der Ertrag einer jahrzehntelangen Arbeit.

Nur, Hans Niedermayer wäre nicht er selbst gewesen, wenn damit das Schreiben tatsächlich ein Ende genommen hätte. Bald stellte es sich heraus: Es war lediglich eine Atempause, eine kurze Auszeit, und die fand – wie es kommen musste – ihr jähes Ende. Hans Niedermayer begann seinen Lebensbericht niederzuschreiben. Bedächtig erst, dann zielstrebig, und zuletzt voller Eifer, als hätte er nicht mehr lange Zeit dazu. Erste Auszüge, die er uns zur Begutachtung zuschickte, berechtigten, ihn in seinem Vorhaben zu bestärken. Trotz der Ermunterung stellten sich aber immer wieder Zweifel ein: Ob das Selbsterlebte, das er da – wieder in seiner heimischen Mundart – ausbreitete, auch andere ansprechen kann? Doch was er Seite um Seite darzulegen hatte, ging weit über rein Persönliches hinaus und wurde zu einem Spiegel seiner Zeit. Im Buch ist zu lesen:

Mir han es Johr 2010 gschrieb. Noh sin ich achzich Johr alt gin, un ich han mich gfroot, wieso die Zeit so schnell vergang is! Ich han zuruck gschaut in die Zeit un sin drufkumm, dass a jedes Johr anerscht ausgfall war. Un mir is des vorkumm, so wie wann ich dorch a langi Gass gang wär, dorte wu die Johre in dr Reih gstan han; un ich han die Leit dorch a Newl gsiehn, die vor deni Johre gstan han, in deni sie gstorb sin. Un ich sin drufkumm: Des war aa mei Zeit – guti Johre, scheeni Johre un viel schweri Johre – des war mei Lewe.

Im Juli 2015 teilte er dann – auch dieses Mal sichtlich erleichtert – mit, dass er das Buch soeben abgeschlossen hat. Gerne hätte er es an seinem 85. Geburtstag, am 20. September 2015, in den Händen gehalten, doch er wusste, dass dies in so kurzer Zeit nicht machbar war. Ich sagte ihm aber zu, die Herausgabe des über 200 Seiten starken Bandes im Spätherbst oder Winter gerne zu betreuen. Einen kurzen Abschnitt aus der Erzählung über seine Kindheit stellte er uns zum Vorabdruck bereit; er ist im Banater Kalender 2016 erschienen.

Die redaktionellen Vorbereitungen zur Drucklegung des Buches von Hans Niedermayer konnten kurz vor Jahresende in Angriff genommen werden, zu einem Zeitpunkt, da seine nur wenige Wochen zuvor festgestellte Krebserkrankung bereits Anlass zur Sorge gab. Behutsam, wie es seine bescheidene Art war, mahnte er nun zur Eile. Später dann, schon von der Krankheit geschwächt, wollte er auf die Herausgabe seiner Lebensgeschichte ganz verzichten, da war das Buch aber schon druckbereit, und Ende Februar konnte er die ersten gebundenen Exemplare in Empfang nehmen. Er las noch darin, und er erfreute sich an seinem Rückblick auf so viele gute und auch auf die schweren Jahre, die ihm und seiner kleinen, fest gefügten Familie gegeben waren. Kaum zwei Wochen später, am 9. März 2016, schloss er nach einem arbeitsreichen und erfüllten Leben die Augen für immer.

Der Titel seines noch druckfrischen Buches „Nor die Erinnerung bleibt“ klang nun wie Abschied und ein Satz darin wie ein Vermächtnis: „Es is a Buch for mei Kiner un Enkelskiner. Ihne gin ich’s in die Hand“ – wahrlich, kein alltägliches Erbstück als letztes Geschenk zur Lebenszeit. Es ist ein aufschlussreicher Bericht über die Lebenswelt des Banats in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ein Geschenk auch für seine Landsleute, denn nicht viele von ihnen hinterlassen zwei Bücher über ihren Herkunftsraum. Sie sind das Werk eines begabten, warmherzigen Erzählers. In der Banater schwäbischen Mundart formulieren, die Sprache seines Dorfes auszuloten, das war für ihn das Selbstverständlichste von der Welt, und doch auch Herausforderung und Anliegen zugleich. Es lag in seiner Natur, seine heimische Sprache unverfälscht zu gebrauchen und kreativ auszugestalten. Dies äußert sich vor allem in einer großen Zahl origineller, oft überraschenden und einprägsamen Sprachbildern und in dem durchwegs anregenden Redefluss seiner Darstellung.

Vor einem halben Jahrhundert begann Hans Niedermayer Geschichten in der Mundart zu schreiben, und im Neuer-Weg-Kalender 1968 ist seine erste erschienen, danach weitere, meist heitere Erzählungen und ab 1972 sprachliches Volksgut, das er innerhalb der Sammelaktion der Bukarester Tageszeitung Neuer Weg in seinem Dorf aufgezeichnet hat. Damals war der Landwirtschaftsmechaniker und Traktorist bereits 37 Jahre alt. Gerne wäre er Lehrer geworden, doch nach den Vorbereitungskursen und Prüfungen für die Aufnahme in die Lehrerbildungsanstalt der Banatia im Spätsommer 1944 wurde der Schulbetrieb kriegsbedingt eingestellt, und bald darauf die Schule geschlossen. In Hatzfeld trat er als Lehrling ein, flüchtete mit der Familie des Meisters vor der herannahenden Roten Armee westwärts und gelangte auf abenteuerliche Weise zu Fuß wieder in sein Heimatdorf zurück. Nach dem Krieg arbeitete er mit der Mutter in der Landwirtschaft, und als 1949 staatliche Landwirtschaftbetriebe gegründet wurden, ließ er sich im benachbarten Tolwadin in der mechanischen Abteilung anstellen. Vom anschließenden Militärdienst wurde er als „politisch unzuverlässlich“ entlassen, denn bei der Briefzensur hatte man das Bild eines in den Vereinigten Staaten lebenden Kusins in amerikanischer Uniform gefunden, das ihm seine Mutter zugeschickt hatte. Danach arbeitete er als Mechaniker beim Staatsgut Banlok, wo er später aus eigenem Antrieb Traktorist wurde. Im Dezember 1953 heiratete er Eva Rattinger, 1954 und 1958 wurden die Töchter Hertha und Gerti geboren.

Er besuchte landwirtschaftliche Fortbildungslehrgänge, legte die Meisterprüfung und später auch die Prüfung als Landwirtschaftstechniker ab. Bis 1968 war er Leiter einer Feldbaubrigade, danach bis zur Aussiedlung 1984 Leiter einer Staatsfarm. In Deutschland war er bei einer Immobilienfirma in Fürth in Franken tätig, bedauerte es aber, keine angemessene Beschäftigung in der Landwirtschaft gefunden zu haben.

1985 begann er auch in Deutschland Erzählungen zu veröffentlichen, sie erschienen bis kurz vor seinem Ableben in der Banater Post, in Der Donauschwabe, im Donautal-Magazin, im Donauschwaben-Kalender und im Banater Kalender. Weit über hundert eigene Erzählungen, aber auch von ihm aufgezeichnetes Volksgut sind erschienen, viele in den Sammelbänden „Schwowisches Volksbuch“ (1969), „Märchen, Sagen, Schwänke“ (1979), „Reime, Rätsel, Kinderspiele“ (1989) und in der Broschüre „Volksmund“ (1998).

Seine Themen schöpfte er aus der Welt des Banater Dorfes, nicht wenige aber spiegeln seine Begegnung mit „der ganz anderen Welt“ Deutschland und beleuchten so das einschneidende jüngste Kapitel der Geschichte seiner Volksgruppe. Sein starker Banatbezug gründete auf ein umfassendes Wissen über die Menschen, über historische Entwicklungen, nicht zuletzt über die Wirtschaft dieses Raumes; sein Verständnis für all das, was rund um ihn geschah, hatte mit seinem eigenen Erleben wie mit seinem überzeugten Wirken, auch für die Menschen seines Dorfes, zu tun.

Wer Hans Niedermayer kannte, hat ihn allerdings in erster Linie als einen sorgenden Vater und Ehegatten erlebt, sein bedingungsloser Einsatz und seine Hingabe für die Familie äußern sich unmissverständlich auch in seinem Erinnerungsbuch: Zuerst kamen sie – seine Frau und die Töchter mit ihren Familien –, und erst dann kam alles andere. In der Beschreibung seines oft zähen Ringens mit den Nöten des Alltags nach dem Zweiten Weltkrieg wird aber auch mancher Leser unschwer viel ähnlich Erlebtes und Erlittenes erkennen.

Über manches, das seine Landsleute im Banat und in ihrem neuen Umfeld in Deutschland oder sonstwo bewegte, hat Hans Niedermayer viel nachgedacht und immer wieder gerne gesprochen. Über manches hat er auch geschrieben – das Schreiben fiel ihm wahrscheinlich sogar leichter als das Sprechen –, etwa über die drängende Frage nach Heimat. In seinem letzten Buch fragt er, auch sich selbst: Wu is mer derhem? Und wohlüberlegt gibt er Auskunft:

Ich denk oft an die Zeit, wie mir noch derhem ware, un an des, was mir dort erlebt han. Es ware die Johre glei noh dem Kriech, wu es uns Schwowe stark schlecht gang is. Dann hat es sich for uns awer doch so langsam gebessert, un noh sin aa paar deitschi Männer kumm, die sich ingsetzt han for uns un unser Kultur: Mir han deitschi Schule, deitschi Zeitunge un a deitsches Theater ghat, un aach die schwowischi Sitte un Gebräiche han wieder uflewe kenne. Awer des diktatorische System hat uns so weit gebrung, dass mer alles stehn un leije glosst han un uf Deitschland ausgewanert sin. Nor – aach do geht so langsam des verlor, des was uns unser Großelter un Elter glernt un verzählt han. Weil jo do des Lewe ganz anerscht is, wie es bei uns derhem war.

Ich bin schun lang iwer den Verluscht vun meiner Dolatzer Heimat ins Reini kumm. Un des is des Intressanti: dass ich gar ke Hemweh mehr gschpier. Ich sin a Mensch gin, der sich vorstellt, dass ihne alles, was er heint do erlebt, nix mehr angeht. Ich bin wie a Blatt, des vum Baam runergfall is un vum Wind hin- un hergetrieb werd. Die eenzichi Freid sin mei Weib un unser Kiner – bei ihne fiehl ich mich derhem.“

Warme Worte einer tiefen Verbundenheit mit seinem „Derhem“ und allem, das es einschließt, sprechen aus dem Buch, das er uns als Abschiedsgeschenk hinterlässt. Und das ist trotz des einschränkenden „Nur“ im Titel beileibe nicht wenig: Nor die Erinnerung bleibt – ein Abschied besonderer Art.