zur Druckansicht

„Ich lebe um zu gestalten“. Ingo Glass wurde 75

Tor zur Rhön, Großplastik von Ingo Glass in Hünfeld, 1987, Stahl (1300 x 900 x 900 cm)

Blick in die Ausstellung „Dem Raum Geist geben“, Kévés Stúdió Galéria Budapest, 2015. Fotos: Archiv BP

Dr. Ingo Glass Foto: Ursula Glass

Die rastlose Umtriebigkeit, mit der wir unser Dasein fristen, erlaubt uns oft kaum Augenblicke der Besinnung. Man vergibt nicht selten ungeahnte Gelegenheiten zur Begegnung, verstellt sich den Weg ohne persön-liche Ansprache, verliert sich mehr und mehr am belanglosen oberflächlichen Detail. Man glaubt zu sehen, gar vorschnell zu wissen und verhindert im Eifer des ersten Eindrucks das Erkennen. Das Auge meldet zwar den sichtbaren Schein, doch schon die Aufforderung zum Umschreiten eines Artefakts findet man eine Zumutung, man möchte einfach vom Kunstwerk „bespielt“ werden. Man vergisst dabei, dass jedes Kunstwerk erobert werden muss. Zum Kern des Gebildes kann man aber nur durch Denken und Erleben vordringen. Ach ja, Ingo Glass, den mit dem Kreis, Dreieck und Quadrat, kennen wir schon, war doch oft genug über ihn in der Zeitung zu lesen. Aber was will der Künstler mit diesen abstrahierten Formen erreichen? Worauf beziehen sich seine solitären Form- und Farbspiele? Darauf möchte ich anlässlich seines 75. Geburtstages kurz eingehen.

Ingo Gerhard Glass wurde am 9. April 1941 in Temeswar geboren, im geborgenen Umfeld einer wohlsituierten Kaufmannsfamilie. Vater Geysa war Textilkaufmann. Während des Krieges wurde er zum Fotografen ausgebildet und war in Wien stationiert. Bei seinem Versuch, die Familie in Temeswar wieder zu erreichen, wurde er 1948 an der rumänischen Grenze festgenommen und des
Vaterlandsverrats angeklagt. Nach Stalins Tod zwar begnadigt, wurde er aber erst sehr spät (1956) zur Familie entlassen. Entstellt bis zur Unkenntlichkeit, fast skelettiert, verbarg die Mutter tagelang den Vater vor den Söhnen. Ingos Mutter Eva stammte aus Saderlach, ihr Vater Johann starb in jenen dunklen Jahren während der Untersuchungshaft im Bukarester Văcărescu-Gefängnis (1953). Dies erklärt Ingos enge Bindung an die Banater Heimat; er teilte schon im Kindesalter das Schicksal vieler seiner Landsleute und hat das Nachkriegselend der deutschen Volksgruppe hautnah erfahren. Seine Mutter hat unter widrigsten Umständen die drei Söhne ernährt. Als ein ehemaliger rumänischer Kollege die Leitung der Lugoscher Textilfabrik übernahm, wagte er es, den geächteten Vater Glass als Buchhalter einzustellen. Damit begann ein etwas ruhigerer, gesicherter Lebensabschnitt der Familie.

Ingo besuchte das Lugoscher Deutsche Gymnasium und machte 1960 Abitur. Schon früh erkannte man seinen Hang zum künstlerischen Gestalten, denn als Schüler besuchte er gleichzeitig an der Volkshochschule den Unterricht für Skulptur und Gestaltung bei Professor Elisabeth Popper. Diese Stunden werden ihn für immer prägen. Durch eine glückliche Fügung gelang er an die Kunstakademie in Klausenburg, er studierte bei Artur Vetro plastische Gestaltung. Nach dem Staatsexamen wird er Konservator am neu gegründeten Museum für Moderne Kunst in Galatz. Hier, an der Donau, kommt er erstmals in Berührung mit den gewaltigen Stahlplatten, die in der Schiffswerft bei Reparaturarbeiten eingesetzt wurden. Die gewaltige Wucht der mächtigen Stahlkolosse bleibt in seiner Erinnerung präsent. 1972 geht er als Assistent an die Bukarester Architekturschule, von 1976 bis 1978 kann er als Kulturreferent am Deutschen Kulturhaus Friedrich Schiller in Bukarest seine Fähigkeiten entfalten. Hier wird er für die jungen Künstler zum prägenden Kunstvermittler, als den wir ihm später wiederbegegnen. 1978 gelingt es ihm, gegen alle inneren Widerstände, die erste Ausstellung deutscher Künstler aus dem sozialistischen Rumänien im Schillerhaus zu organisieren, die einzige und letzte in dieser Form.

Das Bukarester Künstlerdasein erfüllt sein Leben. Die neuen Ausstellungen im Dalles-Saal, wo erstmals eine Begegnung mit der amerikanischen Pop-Kunst möglich wurde, sowie neue Kontakte durch westliche Kunstzeitschriften erschüttern zunehmend sein bisher unterdrücktes freies Kunstverständnis. Schon seine erste persönliche Ausstellung in der Galerie Simeza 1974 zeigt es an: Er rückt der Abstraktion immer näher und dies wäre mit der herrschenden Ideologie des sozialistischen Realismus nicht mehr zu vertreten. Ähnlich wie viele gleichaltrige Intellektuelle beginnt seine innere Emigration, der alsbald die offene folgen sollte. 1979 gelingt der gesamten Familie die Auswanderung in die Bundesrepublik Deutschland. Anlaufstelle ist allerdings nicht das ersehnte Düsseldorf (mit Joseph Beuys), sondern glück-licherweise München.

Schon im ersten Anlauf wird Ingo Glass 1980 zum Kustos des soeben sanierten Üblacker-Häusls ernannt, mit Residenzpflicht in der dazugehörigen Einliegerwohnung im kleinen Dachgeschoss des bescheidenen Herbergshäuschens. Hier wird er im Laufe der folgenden drei Jahrzehnte zum gesuchten Kustos für junge aufstrebende Künstler der Region, ja sogar des gesamten osteuropäischen Kunstraumes. Als Mitarbeiter des Münchner Kulturreferates wird er alljährlich elf Ausstellungen gestalten, insgesamt waren es gut über 300. Im Üblacker-Häusl waltet inzwischen seine Tochter Krista (geboren 1969 in Galatz), selbst als freischaffende Künstlerin tätig, und hier begann auch Sohn Ingmar Arne (geboren 1972 in Bukarest) mit seinen ersten Panoramafotografien. Da wir für einige Jahre sozusagen Nachbarn waren, traf man sich gelegentlich zu einem kurzen Gespräch in der Diele. Während Mutter Maria noch am Klavier übte, wirbelten die Kinder zwischen den Künstlern umher, die Kunst war ihnen sozusagen in die Wiege gelegt. Unsere Begegnungen endeten letztlich in der benachbarten Kneipe bei einem besinnlichen Umtrunk.

Bei all dem Tumult blieb Ingo stets gelassen, er war unendlich begeisterungsfähig, offen für Neues, stets anpackend und hilfsbereit, denn viele der Gäste waren noch unerfahren im Umgang mit der westlichen Kunstszene. Hinzu kamen noch später die Hallen in der Lothringer Straße, mit der hier herrschenden Avantgarde: Videoinstallationen, Aktionskunst usw. Der bekennende Banater organisierte letztlich auch die erste große Wanderausstellung der Banater Künstler (1983) in Landshut, Pforzheim, Nürnberg usw. Er schaffte es sogar, die Vorkriegsgeneration mit den Folgegenerationen an einen Tisch zu bringen, ohne Stilbrüche oder konzeptionelle Vorstellungen zu provozieren. Diese Ausstellungen haben den Blick auf unsere Gemeinschaft sehr positiv beeinflusst. Inzwischen ist Ingo Glass ein Begriff. Nachdem er 1993 an der Universität in Bukarest mit einer Arbeit über Constantin Brancusi promovierte, suchen die neuen Kräfte mehr und mehr seine Nähe. 2004 verlieh ihm der rumänische Präsident den Verdienstorden für Bildende Kunst im Rang eines Offiziers, 2011 erhielt er das ungarische Ritterkreuz und 2013 kam das Bundesverdienstkreuz hinzu.

Lassen Sie uns einen kurzen Rückblick auf seine Kunst werfen. Am Anfang stand eine Familie, Mann und Frau halten behutsam ihre Kinder in den Armen, eine offene Figurengruppe wie ein wachsender Baum (Diplomarbeit 1966). Bald schon wendet er sich von der reinen Nachahmung ab, es entstehen gewaltige Türme, geradezu Abwehrhorte, die an siebenbürgische Kirchenburgen erinnern. Aus den schweren Ungetümen aus Stein und Beton, mit Ausrissen und Löchern wie Schießscharten (Turm für Siebenbürgen, Sfântu Gheorghe 1974) entstehen plötzlich immer zartere Stahlgebilde mit spinnenartigen Füßen. In den siebziger Jahren lösen sie sich scheinbar aus der Verankerung, beginnen entgegen den Gesetzen der Schwerkraft zu schweben, werden zu „germanisch“-gotischen Streben (Septenarius, Galatz 1976, 25 Tonnen, 15 Meter Höhe). Die Reifezeit beherrschen diese gotischen Kraftpakete, allmählich werden sie leichter, anschmiegsamer und bleiben dennoch raumbeherrschend (Quadratur, MAN Oberhausen 1980; Tor zur Rhön, Hünfeld 1987; Großplastiken mit je 13 Metern Höhe sowie unzähligen meterhohen Stelen). Eine stetige Annäherung an das Bauhaus mit der daraus folgenden absoluten Reduktion der Formen mündet letztlich in die unausweichlichen Grundformen Dreieck, Quadrat und Kreis (Alpha und Omega, Dunaújváros 1987, 18 Tonnen, 13 Meter Höhe). Der Formenreduktion folgt zwingend die Farbreduktion, nunmehr folgen die drei Grundfarben als Farbklänge. Ich habe die Auswahl der Werke bewusst reduziert, denn nur so wird beinahe körperlich spürbar, wie der Künstler seinen seelischen Ballast abwirft, sich in der Abstraktion stetig dem Geist zuwendet. Es geht letztlich nur noch um das Geistige in der Kunst. Es ist eine bewusste Entkleidung, ein Weglassen aller überflüssig gewordenen Konnotationen. Die Parallelen  zur Vita des Künstlers sind so greifbar, es wäre sträflich dies nicht zu erkennen.

Waren es anfangs gewaltige beschichtete Stahlplatten von 25 Millimetern Durchmesser, so werden im reifen Alter kleinere lackierte Aluminiumplatten von 9 Millimetern die Aussage übernehmen. Neueste Lasertechniken machen die Verwendung sowohl des Positives wie auch des Negatives möglich. Und so bricht der Künstler auf in eine neue Welt des offenen Spiels mit Form und Farbe von unberechenbarer Vielfalt. Ab 2011 finden wir Ingo Glass mehr und mehr in Ungarn, vor allem in Budapest, wo die Familie 2013 ihren Alterssitz bezieht. Gemeinsam mit Frau Ursula hat sich der inzwischen erheblich gehbehinderte Künstler eine behagliche, neu sanierte Wohnung in der Altstadt eingerichtet. Hier betreut er nunmehr sein Archiv und hat endlich ein lichtdurchflutetes Atelier. Das enge Herberg-Häuserl liegt weitab, im Stillen aber vermisst er wohl immer noch das alte Münchner Domizil. Ingo Glass sagte einmal: „Ich lebe um zu gestalten – ich gestalte weil ich lebe“. Und so sinniert und gestaltet er weiter, mit einer schier suchtartigen Leidenschaft. Man kann nur wünschen, dass ihm dies noch lange gelingen möge.

Im Namen der Künstlerkollegen wünsche ich Dir, lieber Ingo, noch viele sonnige Tage, und wünsche uns, dass Du uns weiterhin mit neuen Erfindungen erfreuen mögest. Die Kunstgeschichte wird nach einer gewissen Schonfrist wohl Dir mit dem roten oder Kandinsky mit dem blauen Kreis Recht geben. Wie immer es sei, wenn ich ins Blaue träume, schaue ich weit in die Ferne wie in ein offenes Fenster und möchte dabei kein Rot mehr sehen, ich verliere meine Seele im blauen Dunst. Ad multos annos!