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Standardwerk über regional relevante Autoren

Der ehedem Klausenburger Germanist Michael Markel, geb. 1937, legt mit diesem Buch eine umfangreiche Anthologie expressionistischer Texte aus rumäniendeutschen Zeitschriften vor, die größtenteils unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg erschienen sind. Die mit detaillierten bio-bibliografischen Angaben zu den Autoren und straffen literaturhistorischen Kommentaren zu den Zeitschriften versehene Sammlung ist die erste und wohl auch nicht zu überbietende, kritisch begleitete Inventur der deutschsprachigen expressionistischen Dichtung und Programmatik einschlägiger Zeitschriften Siebenbürgens und der Bukowina. Zu den darin vertretenen Autoren der beiden Regionen kommt aus Bukarest Oscar Walter Cisek hinzu und aus dem Banat Franz Xaver Kappus.

Vorneweg: Es handelt sich um eine fachwissenschaftlich fundierte Anthologie, die einen kurzen, aber relevanten Abschnitt der rumäniendeutschen Literatur dokumentiert. Das Banat ist darin allerdings unterrepräsentiert, was nicht zuletzt auf die Konzeption der Textsammlung zurückzuführen sein dürfte.
Der Herausgeber Michael Markel nimmt die nach dem Ersten Weltkrieg in der Bukowina und in Siebenbürgen erschienenen Literaturzeitschriften als Grundlage für die Anthologie. Dies bedeutet, dass für seine Auswahl grundsätzlich nur expressionistische Texte in Frage gekommen sind, die nach 1918, also nach dem Anschluss der Regionen mit deutschen Bevölkerungsgruppen an Rumänien publiziert wurden, dies (fast) ausschließlich in den Kultur- bzw. Literaturzeitschriften Siebenbürgens und der Bukowina. Im Grunde spiegeln sie – unter den spezifischen Gegebenheiten, regional und geschichtlich – das späte Echo auf den deutschen und österreichischen Expressionismus und bieten Einblick in den recht intensiven deutschsprachigen Literaturbetrieb jener Jahre in Siebenbürgen.

Den Hauptteil des Buches bilden die nach Gattungen gruppierten literarischen Texte – Lyrik, Prosa, Drama – und das daran anschließende Kapitel: Programmatisches, Ästhetisches, Kritisches.

Für den Literaturhistoriker sind die im Schlussteil des Buches angeführten und kommentierten Quellen und Anmerkungen zu den ausgewerteten Zeitschriften sowie zu den berücksichtigten Autoren und den einzelnen Texten von besonderem Interesse. Dies gilt auch für das „Nachwort“, das weit über diesen Begriff hinausreicht und dank der akribischen Sachlichkeit und fachwissenschaftlichen Argumentation beispielhaft sein kann für noch ausstehende literaturhistorische Studien zu einzelnen Kapiteln der rumäniendeutschen Regionalliteraturen.

Michael Markel hat sich über Jahrzehnte, allerdings mit längeren Unterbrechungen, der Thematik dieses Buches gewidmet. So verweist er unter dem Schlagwort „Forschungsstand“ zu Recht allein auf seinen
eigenen, bereits 1993 erschienenen Beitrag „Expressionismus in der rumäniendeutschen Literatur“ – im Sammelband „Die siebenbürgisch-deutsche Literatur als Beispiel einer Regionalliteratur“ (Böhlau 1993), herausgegeben von Anton Schwob und Brigitte Tontsch –, der weiter gefasst ist, beispielsweise auch an die von Robert Reiter (später Franz Liebhard) in der ungarischen Avantgarde-Zeitschrift Ma veröffentlichten expressionistischen Gedichte erinnert. Neuere Erscheinungen zum Thema der vorliegenden Anthologie hat er in den Anmerkungsteil eingearbeitet.

Die Texte der Anthologie sind, bis auf wenige Ausnahmen, den folgenden Zeitschriften entnommen: Der Nerv (Czernowitz, 1919), Das Licht (Czernowitz, 1919), Das Ziel (Hermannstadt, 1919), Das neue Ziel  (Hermannstadt, 1919-1920), Ostland (Hermannstadt, 1919-1921), Frühling (Hermannstadt, 1920) und Klingsor (Kronstadt, 1924-1939). Wie im deutschen und österreichischen Expressionismus zeigt sich auch in den östlichsten Ausläufern, also in diesem Band in Siebenbürgen und der Bukowina, die Lyrik als dominante Gattung. Die gut hundert ausgewählten Gedichte von nahezu zwanzig Autoren weisen  bezüglich der dichterischen Motive eine deut-liche Parallele zur Lyrik der Zeit im deutschen Sprachraum auf, wie dies übrigens auch in der Prosa festzustellen ist. Markel unterstreicht, dass „im rumäniendeutschen Expressionismus (…) die  Weltkriegsthematik eindeutig im Vordergrund“ stehe, mit dem „Pazifismus als Botschaft“. Einige der maßgeblichen Autoren, nicht aus quantitativer, sondern aus qualitativer Sicht –  der Czernowitzer Alfred Margul-Sperber, der Kronstädter Heinrich Zillich und der Temeswarer Franz Xaver Kappus –  waren selbst Kriegsteilnehmer und haben unter dem Eindruck eigener Fronterlebnisse geschrieben. Kappus’ Gedicht „Doch ihr, die ihr lebt...“ zählt zu den tiefgreifendsten, von spätexpressionistischem Pathos geprägten Texten dieser Thematik. Eine Reihe weiterer echt expressionistischer Motive – Großstadt-Erfahrung, soziale Randgruppen-Milieus, Menschheitsverbrüderung, Sehnsucht nach dem „neuen Menschen“ usw. – bestimmen die ausgewählten Texte und werden auf deren Besonderheiten im regionalen Kontext untersucht. Dabei geht es dem Herausgeber um das Spannungsfeld zwischen der Rezeption expressionistischer Ausstrahlung aus dem Westen und den Ansätzen eigenständiger Literaturproduktion auf höherem Niveau.

Im Kapitel „Prosa“ nehmen Texte von Franz Xaver Kappus und Oscar Walter Cisek größeren Raum ein. Zu lesen sind von Kappus die Erzählungen „Die Armbanduhr“ und „Die Wand“ – beide auch in der „Temesvarer Zeitung“ erschienen – und zwei Auszüge aus dem Roman „Die Peitsche im Antlitz. Geschichte eines Gezeichneten“, der laut Herausgeber „der einzige nicht nur vollendete, sondern 1921 auch gedruckte Roman dieses regionalen Expressionismus“ ist. Markel hebt in seinem knappen Kommentar dazu besonders das Motiv der „Wandlung“ hervor, das er auch in anderen Texten der Anthologie nachweist, so in Oscar Walter Ciseks unveröffentlichtem Roman „Vermenschung“, aus dem er „Bruchstücke“ unter dem Titel „Die Schächte der Straßen“ in vorliegender Sammlung abdruckt.

Dass Oscar Walter Cisek im rumäniendeutschen Literaturbetrieb eine Sonderstellung zukommt, was ja nicht mehr zu beweisen war, wird in allen Kapiteln der Anthologie ein weiteres Mal deutlich. Nicht zuletzt steht er mit seinen beiden „Briefen“ – „Ein Brief an alle ostdeutschen Dichter“ und „Ostdeutscher Brief aus Rumänien“ (beide 1920 in der „Deutschen Tagespost“) – über den lokalen und provinziellen Scharmützeln, die Anfang der zwanziger Jahre im siebenbürgisch-deutschen Blätterwald ausgetragen wurden. Gewiss enthält die Anthologie auch lokalbezogene Essays, die aufschlussreich Auskunft geben über die „Literaturbewegung“ der Nachkriegszeit in den siebenbürgischen Kulturzentren Hermannstadt und Kronstadt, Beiträge von Richard Csaki beispielsweise. Cisek bietet
jedoch eine Zusammenschau der regionalen deutschsprachigen Literaturen der Zeit in Rumänien und weitet den Horizont bis hin zu den maßgebenden Autoren im deutschen Sprachraum. Von den Banater Schriftstellern der expressionistischen Episode hebt er besonders Otto Alscher und Franz Xaver Kappus hervor, versäumt es aber nicht, im größeren Zusammenhang auf Stephan Milow und Adam Müller-Guttenbrunn hinzuweisen.

Otto Alscher fehlt leider in vorliegender Anthologie. Dabei hatte er bekanntlich – wohl als einziger
Autor der rumäniendeutschen Regionalliteraturen – unmittelbaren Kontakt zu einer der führenden expressionistischen Zeitschriften des deutschen Sprachraums, zur Literaturzeitschrift „Der Brenner“ (Innsbruck, 1910-1954) und deren Herausgeber Ludwig von Ficker. Sowohl in der Korrespondenz des Herausgebers (Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1909-1914, Salzburg 1986) als auch in literaturwissenschaftlichen Publikationen wird  Alscher und seine Beziehung zum „Brenner“ berücksichtigt.

Dessenungeachtet hat Michael Markel ein Standardwerk vorgelegt, das lesenswerte Texte und regional relevante Autoren bereits versunkener südöstlicher deutscher Literaturen in der greifbaren Überlieferung bewahrt und diese gleichzeitig auf anspruchsvollem Niveau literaturhistorisch kommentiert. Für diese Leistung wäre heute ein Projekt mit einigen hauptamtlichen Mitarbeitern
erforderlich.

Michael Markel (Hrsg.): „In Dornbüschen hat Zeit sich schwer verfangen“. Expressionismus in den deutschsprachigen Literaturen Rumäniens. Eine Anthologie. Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2015. 340 S. (Veröffentlichungen des IKGS München / Wissenschaftliche Reihe; Bd. 130). ISBN 978-3-7917-2653-3. Preis 34,95 Euro