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Im Widerspruch zum vorherrschenden Zeitgeist

Seit einigen Monaten ist die Problematik massiver und weitgehend unkontrollierter Zuwanderungen nach Europa und in die Bundesrepublik Deutschland im Besonderen in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit und Auseinandersetzungen gerückt. Zu den gegenwärtig drängenden Fragen der Zuwanderung und Integration bezieht nun ein Wissenschaftler aus unseren Reihen, der Soziologe Anton Sterbling, Stellung in einer Publikation mit dem Titel „Zuwanderung, Kultur und Grenzen in Europa“. Erschienen ist der vier Beiträge enthaltende Band in der Buchreihe Land-Berichte; die Bände dieser Reihe werden als Beihefte der Zeitschrift „Land-Berichte. Sozialwissenschaftliches Journal“ herausgegeben.

Mit diesem Band strebt Anton Sterbling, Professor für Soziologie und Pädagogik an der Hochschule der Sächsischen Polizei in Rothenburg/O.L., eine soziologisch aufklärende Stellungnahme an, die, wie es einführend heißt, von der tiefen Sorge getragen werde, „dass in der Dynamik der gegenwärtigen Auseinandersetzungen, vor dem Hintergrund der Zuwanderungsproblematik, ein Umschlagen der bisher in Deutschland weitgehend gegebenen ‚Vernunftdemokratie‘ in eine ‚Stimmungsdemokratie‘ keineswegs auszuschließen“ sei. Es erscheine als „ein Gebot der intelektuellen Redlichkeit und wissenschaftlichen Rechtschaffenheit, sich in einer solchen Situation kritisch aufklärend zu Wort zu melden“, zumal „die in jahrzehntelanger Forschung gewonnenen Erkenntnisse der internationalen und deutschen sozialwissenschaftlichen Migrations-, Minderheiten- und Integrationsforschung in der letzten Zeit weitgehend vernachlässigt wurden und gegenwärtig anscheinend völlig ignoriert werden“.

Im ersten Beitrag des Bandes geht es um Fragen der Zuwanderung und der unmittelbar damit verbundenen Fragen der sozialen Integration. Sterbling macht zunächst auf die „eigendynamischen“ Komponenten von Migrationsvorgängen aufmerksam: Haben Wanderungsprozesse quantitativ gewisse Schwellenwerte überschritten, so tendieren sie vielfach dazu, einen eigendynamischen Verlauf zu entwickeln, der politisch nur noch begrenzt kontrollierbar oder steuerbar erscheint. In einem weiteren Schritt erläutert er die Migrationsmotive unter Rückgriff auf das Push-und-Pull-Modell. Der Autor weist sodann auf die Kapazitätsgrenzen der sozialen Integration hin, zumal diese einen „komplexen, voraussetzungsreichen und schwierigen, manchmal auch konfliktreichen Vorgang darstellt“. Wenn man einen nüchternen Blick auf die gegebenen und erforderlichen Kapazitäten der Integration in einzelnen Feldern (Wohnungsbedarf, sprachliche, schulische und berufliche Integration usw.) werfe, könne man schwerlich annehmen, „dass kontinuierlich mehr als 150000 bis höchstens 300000 Zuwanderer pro Jahr erfolgreich integriert werden können“, so Sterbling.

Zu Recht weist der Autor darauf hin, dass soziale Integration ein Mindestmaß an „Wertintegration“, an Akzeptanz von und Identifikation mit Grundwerten einer gegebenen gesellschaftlichen und politischen Ordnung voraussetze. Die Fähigkeit und Bereitschaft zum „Wertkonsens“ nehme mit steigender kultureller Heterogenität ab, „insbesondere dann, wenn die Voraussetzungen und Chancen zur sozialen Integration die integrativen Kapazitäten weit übersteigen oder der Wille und die Bereitschaft zur sozialen Eingliederung bei den Migranten eigentlich gar nicht vorhanden sind“. Sterbling führt dem Leser auch Integrationsschwierigkeiten und die Folgen misslungener Integration vor Augen: Entstehung von Parallelgesellschaften, Rückzug in soziokulturelle Sondermilieus, Zunahme von gesellschaftlichen Spannungen und Konflikten usw.

Am Fallbeispiel der Banater Schwaben, deren Integration in die bundesdeutsche Gesellschaft geradezu als mustergültig angesehen werden kann, zeigt Sterbling im zweiten Beitrag auf, dass soziale Integration von Zuwanderern zwar durchaus erfolgreich verlaufen kann, aber dabei an spezifische Voraussetzungen der Migranten wie auch an günstige Eingliederungsbedingungen geknüpft ist. Aus dieser Erkenntnis heraus leitet der Sozialwissenschaftler verallgemeinerbare Grundzüge einer Bedingungskonstellation erfolgreicher Integration ab: auf der einen Seite Leistungsorientierung und Leistungsbereitschaft, geeignete berufliche und schulische Qualifikation, gute Sprachkenntnisse; auf der anderen Seite berufliche und wirtschaftliche Betätigungschancen, notfalls auch befristete Eingliederungshilfen, aufstiegsoffene Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten, die Einbeziehung in die solidarischen Systeme der sozialen Sicherung und nicht zuletzt politische und gesellschaftliche Mitwirkungsmöglichkeiten. Sterbling stellt dabei insbesondere den Aspekt der Wertintegration heraus. Die „weitgehende Akzeptanzfähigkeit und -bereitschaft der gegebenen Wertordnung der Aufnahmegesellschaft“ sei eine „unverzichtbare Bedingung gelungener Integration“.

Der Autor geht der Frage nach, inwiefern die spezifische Bedingungskonstellation der erfolgreichen Eingliederung der Banater Schwaben in einem allgemeineren Sinne eine Erklärungsmöglichkeit für den Erfolg oder Misserfolg von Integrationsprozessen auch anderer Migrantengruppen bietet. Unter Berücksichtigung der objektiven und subjektiven Aspekte von Integrationsprozessen wird ein idealtypisches Verlaufsmodell gelungener bzw. gescheiterter Integration skizziert. Schließlich weist der Autor anhand des Beispiels der Aussiedlung der Banater Schwaben erneut auf die Eigendynamik von Migrationsvorgängen und deren Folgen hin und zeigt im aktuellen Kontext massiver Zuwanderungen das Dilemma auf, in die solche außer Kontrolle geratene Migrationsprozesse politische Entscheidungsträger bringt, wie auch die damit verbundene weitreichende Verantwortung der Politik.

In einem weiteren Beitrag werden sodann Wertordnungen als konstitutive Elemente von Kulturen und als zentrale Bezugspunkte interkultureller Beziehungen und Konflikte analysiert, wobei zugleich grundlegende Auffassungsunterschiede kultureller Wertsysteme einander gegenübergestellt und kritisch diskutiert werden. Dies vor dem Hintergrund, dass kulturelle Wertsysteme bei umfangreichen Zuwanderungen und deutlichen sozialdemographischen Veränderungen einer Wohnbevölkerung auch einer mehr oder weniger ausgeprägten Veränderungsdynamik unterliegen.

In einer historischen und gegenwartsbezogenen Sicht stellt sich im Hinblick auf soziale Einheiten und ihre Integration wie auch hinsichtlich damit verbundener Aspekte der kollektiven Identität die wichtige Frage nach den Grenzen und Entgrenzungsvorgängen in Europa. Diese Fragestellung bildet den Schwerpunkt des vierten Beitrags des vorliegenden Bandes. Es geht dabei insbesondere um die Bedeutung nationalstaatlicher Grenzen, um den spezifischen Zusammenhang moderner Staaten- und Nationenbildung und Demokratisierung, um den Rechtsstatus des „Staatsbürgers“ wie auch um die Relevanz vormoderner und aktueller Grenzen.

Anton Sterbling moniert den „Verlust an politischer Rationalität und verantwortungsethischer Orientierung in der gegenwärtigen Lage“ und stellt dem „Gerede von einer bedingungslosen ‚Willkommenskultur‘“ einschlägige wissenschaftliche Befunde gegenüber, wohl wissend, dass  seine Stellungnahme in vielen Hinsichten in ausdrücklichem Widerspruch zum vorherrschenden Zeitgeist steht.

Anton Sterbling: Zuwanderung, Kultur und Grenzen in Europa. Aachen: Shaker Verlag, 2015. 111 Seiten. ISBN 978-3-8440-3968-9. Preis: 10 Euro