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Eine Prosa, in der „dissidentisches Potential“ schlummert

Das dreifache Geleit für den Prosaband einer der bekanntesten und mutigsten rumänischen Schriftstellerinnen, der 1942 in Temeswar geborenen Ana Blandiana, führt den Leser auf einen Pfad, der durch die Zensurbehörde der Ceauşescu-Diktatur der 1970er Jahre hindurch den Weg in eine nicht mehr hermetische Textwelt öffnet. „Der Titel verspricht listig etwas“, so die Herausgeber Katharina Kilzer und Helmut Müller-Enbergs in ihrer Einleitung, „was das Buch in Wirklichkeit nicht ist: eine Naturbeschreibung.“ Und was ist es dann? Die Antwort: „Darin schlummert dissidentisches Potenzial.“ Und wie lautet die Begründung? Ana Blandiana sei bereits als Autorin in Rumänien verboten gewesen, bevor der Prosaband zusammen mit ihrem Gedichtband „Somnul din somn“ (Schlaf aus dem Schlaf) im Jahr 1977 erschien. In diesen vier Novellen, die die Bezeichnungen der Jahreszeiten tragen, mache sie die Ceauşescu-Tyrannei kenntlich: „die Zwänge des Alltags, die sozialen Nöte und die
eigenen Ängste.“ Das Besondere an den Plots sei jedoch, „dass die Situation nie ausweglos ist, alle Erzählungen enden in einer befreienden Vision“. Eine große Rolle spiele dabei die Phantastik, die sich „wie ein roter Faden durch die Geschichten zieht.“

Mit der Funktion des phantastischen Erzählens in den „Vier Jahreszeiten“ setzt sich Viorica Patea aus-
einander. Die 1977 aus Rumänien ausgewanderte Romanistin, Verfasserin des Vorworts zur spanischen Ausgabe „Las cuatro estaciones“ aus dem Jahr 2008, verweist im Nachwort zur vorliegenden deutschsprachigen Ausgabe auf ein auffälliges Merkmal in der Reihenfolge der Jahreszeiten. Der Zyklus beginne nicht, wie zu erwarten, mit dem Frühling, sondern dem Winter, „als Symbol des Ablebens, des Todes“ und „endet mit dem Herbst, der gleichsam für die Jahreszeit des Ertrags und der Vergänglichkeit steht“. Neben diesem auffälligen strukturellen Merkmal des Prosabandes weise auch der Plot ein auf den ersten Blick nicht wahrnehmbares Kennzeichen auf: „Das erzählende Ich ist umgeben von einer absurden Welt, in der sich die Grenzen zwischen tatsächlichem und imaginiertem Leben, zwischen Wirklichkeit und Phantasie aufheben.“ Und in welcher Weise verwischen sich die Grenzen? Im Laufe der Erzählzeit häuften sich die verstörenden Ereignisse und der Leser betrete eine Welt, „in der der Grad der Phantasie immer mehr ansteigt“. Doch Ana Blandiana, so Viorica Patea, kopiere nicht die Realität, sie ringe ihr hartnäckig einen Sinn ab. Die nun folgende Lektüre erbringt den Nachweis für diese Behauptung.

In der ersten Jahreszeit, die unter der Überschrift „Die Kapelle mit Schmetterlingen“ steht, sind es zwei Tiere, die die Ich-Erzählerin inmitten einer düsteren Umgebung in eine heitere Stimmung versetzen: eine Maus, mit der sie Blickkontakt pflegt, und wunderschöne Schmetterlinge, die auf einem von Schnee bedeckten Altar die seltsamsten Visionen hervorrufen. Im Frühling sind es „Liebe Vogelscheuchen!“, mit denen die Erzählerin kommuniziert und denen sie bestätigt, dass sie eine unnatürliche Begabung habe: Sie sei auf unnatürliche Weise nicht opportunistisch. Hat der Zensor damals in der rumänischen Ausgabe nicht eingegriffen, fragt sich der Rezensent, oder hat er sich von der folgenden amüsanten Beschreibung der Frühjahrsmüdigkeit blenden lassen? Auch andere Erzählpassagen verblüffen den Leser, wie zum Beispiel dieses seltsame Weinen, das hinter dem Rücken der Erzählerin plötzlich in ein lautes Lachen umschlägt. In solchen Erzählabschnitten ist der Leser zunächst irritiert, wird aber sofort von der Ich-Erzählerin in neue phantastische Teilwelten entführt. Und der Sommer? Er steht unter dem drohenden Eindruck einer geschmolzenen Stadt, in der die Erzählerin jegliches Gefühl für Zeit verloren hat und dem Leser gesteht, dass Glück nur ein langer Schlaf ist, „der unterbrochen wird von Träumen und Erwachen, die einander so ähnlich und so schwer voneinander zu unterscheiden sind, dass sich der Schlaf selbst in eine nebulöse Unruhe verwandelt.“

Diese Stadt verwandelt sich unter den Augen der Erzählerin in eine klebrige Masse: „Die Wände der Häuser begannen sich sanft zu biegen, sie wellten sich kaum spürbar und neigten bedrohlich ihre Traufen. Die Säulen wanden sich und fielen müde zu Boden wie geschlungene Seile.“ Solche Erzählpassagen sind, wie zahlreiche andere in Ana Blandianas Prosawerk, eine Herausforderung an die sozrealistische Doktrin vom glückschwindeligen Realismus einer Auftragsliteratur, wie sie die unterwürfigen Diener der Ceauşescu-Diktatur nicht nur in den 1970er Jahre einforderten. Unter welchen existentiellen Bedingungen die rumänischen wie auch die rumäniendeutschen Autoren sich diesem Diktat hingaben, erläutert Helmut Müller-Enbergs in seinem fundierten Vorwort „Schreiben in Ceauşescus Welt des Jahres 1977“. Er verweist zunächst auf die Ahnungslosigkeit bundesdeutscher Journalisten, die bei Besuchen in Bukarest feststellen mussten, dass sie im Gegensatz zu ihren mit deutscher Literatur wohl vertrauten Gesprächspartnern nur über dürftige Kenntnisse der rumänischer Literatur verfügen, geschweige denn von deren Publikationsmöglichkeiten eine Ahnung hatten. Aber sie hätten, wie ein Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung anmerkt, zumindest den „Odem der Geheimpolizei“ verspürt, und das Schicksal von Paul Goma und anderer aus der rumänischen exilierten Bürgerrechtsgruppe ausführlich kommentiert. Und das Schreiben wie auch die Publikationsmöglichkeiten im Jahre 1977? Es zeigte, so Müller-Enbergs, „das … Aufbegehren von Schriftstellern, Künstlern, ethnischen und sozialen Minderheiten bis hin zu den Bergarbeitern. Im Ergebnis nutzte der Conducător mit Hilfe seiner Partei das Instrument Securitate, um sich seiner Widersacher zu entledigen.“ Ana Blandiana entging – zusammen mit ihrem Ehemann Romulus Rusan – den Verfolgungen nach 1977 durch Flucht in das Dorf Comana in der Bărăgan-Steppe. Damit ist ihr wohl das Schicksal einer Inhaftierung erspart geblieben. Nach dem blutigen Sturz des kommunistischen Regimes nimmt sie in der neu zu bewertenden nationalen Literaturgeschichte eine bedeutende Position ein, nicht nur als autonome Schriftstellerin und Lyrikerin, sondern auch als Mit-Gründerin der Gedenkstätte für die Opfer des kommunistischen Terrors in Sighet an der rumänisch-ukrainischen Grenze.

Der Erzählband zeichnet sich durch eine vorbildliche Kommentierung der Herausgeber wie auch durch eine transparente Übersetzung des satzausschweifenden Originals von Ana Blandiana aus. Darüber hinaus enthält er viele Hinweise auf weiterführende Literatur. Ein Personenregister und Angaben zu den Personen, die diese Publikation auf den Weg gebracht haben, komplettieren den Paperback-Band, der auf dem Umschlag die Abbildung eines Ölgemäldes von Marion Schullerus mit dem Titel „Sonnenaufgang“ trägt. Ein Symbol der Hoffnung für eine immer noch randständige Literatur in Europa?

Ana Blandiana. Die vier Jahreszeiten. Erzählungen. Herausgegeben von Katharina Kilzer und Helmut Müller-Enbergs. Übersetzt von Maria Herlo und Katharina Kilzer. Berlin: Edition Noack & Block, 2015. 195 Seiten. ISBN 978-3-8681-027-0. Preis: 18 Euro