Johann Lippets »Dorfchronik, ein Roman« ist ein Stück banatschwäbische Zeitgeschichte
Feste Urteile hat man schon gern, und vielleicht ist es manch einem egal, woher er sie bekommt. Mir ist es jetzt nicht egal, deshalb werde ich die Geschichte auch erzählen. (Johannes Bobrowski – Levins Mühle). Dieses und noch zwei andere Zitate, eines von Dostojewski und eines aus Christa Wolfs „Kindheitsmuster“, stellt Johann Lippet seinem Text voran, als müsse er sich dafür rechtfertigen, dass er die Chronik seines Dorfes aufschreibt. Das Dorf Wiseschdia, ohne Bahn-anbindung, ist abgeschottet und überschaubar. Umso erstaunlicher die Vielfalt an Schicksalen und Geschichten, die sich in dieser kleinen Gemeinschaft zugetragen haben. Dass die Dorfchronik auch für andere von Interesse ist, liegt daran, dass die Ereignisse und Begebenheiten sich ebenso woanders hätten abspielen können, in jedem anderen der Banater Dörfer, die heute als soziale Gemeinschaften nicht mehr existieren. So gesehen ist Lippets Chronik ein Dokument der Geschichte, das die alltäglichen Sorgen, Ereignisse und Wirrnisse einer dieser bereits historischen Dorfgemeinschaften festhält.
Es ist nicht das erste Mal, dass Lippet sich dem sozialen Mikrokosmos seines Heimatdorfes zuwendet. Bereits in dem noch Anfang der achtziger Jahre in Rumänien geschriebenen „Totengräber“ (1997 in Heidelberg erschienen) entwarf er die Vision einer komplett emigrierten Dorfgemeinschaft, deren Spuren nur noch auf dem Friedhof zu finden sind. Dort hält der einzige zurückgebliebene Bewohner – der Totengräber – im Auftrag der Ausgewanderten eine blühende Gräberlandschaft aufrecht. Die eigene Familiengeschichte verarbeitete Lippet später in Romanform in den beiden Bänden „Die Tür zur hinteren Küche“ (2000) und „Das Feld räumen“ (2005). Viele der Geschichten, die jetzt in der Dorfchronik auftauchen, kommen dort bereits vor. Jetzt also die komplette Dorfchronik, die jedoch – anders, als der Titel suggerieren mag – keineswegs ein Roman ist. Ein Roman steckt in dem Stoff mit Sicherheit drin – oder auch mehrere –, aber Lippet ist in diesem Fall zu sehr Chronist und hat sich bewusst der Dokumenta-tion verschrieben. Nicht ohne sich – wie auch schon Christa Wolf – der Problematik bewusst zu sein, „ein unglaublich verfilztes Geflecht, dessen Fäden nach den strengsten Gesetzen verschlungen sind, in lineare Sprache zu übertragen, ohne es ernstlich zu verletzen“.
Das „verfilzte Geflecht“ als Außenstehender zu durchdringen oder auch nur zu verstehen, ist utopisch. Die einzelnen Personen und ihre verwandtschaftlichen Verflechtungen wären, ähnlich wie bei den großen Romanen wie „Buddenbrooks“ oder „Forsyte Saga“, nur mit Hilfe eines beigegebenen Stammbaums nachvollziehbar. Doch darauf kommt es für den Leser nicht an. Nicht die Namen sind wichtig, sondern die Typen und die Geschichten, wie sie jeder in seinem Stammbaum und in seinem familiären Umfeld haben könnte (und meistens auch hat). Denn die zeitlichen Ereignisse formen das Raster, dem alle Familien im Banat in irgendeiner Weise ausgeliefert waren: Das Ende der Monarchie, der Erste Weltkrieg, die facettenreiche Zwischenkriegszeit, der Zweite Weltkrieg, die Deportationen in den Baragan und nach Russland und die ebenfalls sehr vielschichtige Nachkriegszeit im sozialistischen Rumänien, die letztlich zum Exodus führte. Diese Nachkriegsperiode nimmt, da der 1951 geboren Lippet seine Chronik aus der Perspektive des eigenen Erlebens schreibt, einen breiten Raum ein. Nicht zuletzt deshalb ist die Darstellung ein wertvolles Novum in der einschlägigen Literatur, richtete man seinen dokumentarischen Blick bislang und traditionell doch eher auf die weiter zurückliegenden Ereignisse.
Doch nun ist das, was viele von uns noch als Gegenwart erlebten, bereits Geschichte und droht in Vergessenheit zu geraten. Dass Johann Lippet sich diese Dokumentationsaufgabe für Wiseschdia auferlegt hat, ist vielleicht kein Zufall, kam der in Linz Geborene doch selbst erst als Fünfjähriger mit seinen geflüchteten bzw. deportierten Eltern und den ebenfalls in Österreich geborenen Geschwistern nach Wiseschdia „zurück“. Der Blick „von außen“ blieb ihm, wie er gelegentlich gestand, immer ein bisschen erhalten und damit auch die Neugier, Zusammenhänge und Tabus der Dorfgemeinschaft zu ergründen. Ob es Lippet gelungen ist, die Chronik der Gemeinde Wiseschdia und ihrer Bewohner mit „phantastischer Genauigkeit“ wiederzugeben, müssen diese entscheiden. Gelungen ist ihm auf jeden Fall ein dokumentarisches und trotz aller Sachlichkeit auch emotionales Panorama des Zwischenmenschlichen in der banatschwäbischen Dorfgeschichte.
Johann Lippet: Dorfchronik, ein Roman. 789 Seiten, ISBN: 978-3-937139-99-9 Preis 25,90 Euro. Pop-Verlag Ludwigsburg.