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„Grenz“-Erfahrungen und die Eisenbahn im Traum

Hatzfeld hat zwar viele Schreibende in deutscher Sprache hervorgebracht, der größte Teil widmete sich aber der Sachliteratur. Nur wenige schrieben bzw. schreiben Belletristik. Zu nennen sind mit eigenständigen Publikationen Paul Moussong und Peter Jung. Keine gebürtigen Hatzfelder sind Karl von Möller und Karl-Hans Gross. Beide – der eine Wiener, der andere Lenauheimer – gelten trotzdem als Hatzfelder, da sie ihre kreative Phase in der Heidestadt erlebt beziehungsweise hier lange gelebt haben. Zu diesen Autoren gesellt sich nun schon seit geraumer Zeit Herbert-Werner Mühlroth.

1963 in Hatzfeld geboren, besuchte er hier die Allgemeinschule und das Industriegymnasium. Auf sein Sporttalent (Handball) aufmerksam geworden, wird er von der Staatssicherheit, die auch für Sportkader zuständig war, für das Industriegymnasium 8 mit Sportlerinternat in der Temeswarer Fabrikstadt abgeworben. Kurz vor dem Abitur, im April 1982, flüchtete er aus Rumänien. Mühlroth holte das Abitur am Stuttgarter Zeppelingymnasium nach und studierte Germanistik, Romanistik und Philosophie an der Universität Heidelberg und an der Freien Universität Berlin (Abschluss 1990 als Magister Artium). 1995 legte er die Staatliche Prüfung zum Übersetzer und Dolmetscher ab und wurde als gerichtlich beeidigter Übersetzer und Dolmetscher für Rumänisch zugelassen. Zurzeit arbeitet er als freiberuflicher Autor, Übersetzer, Dolmetscher und Werbetexter.

Herbert-Werner Mühlroth schreibt Lyrik, Prosa und Essays. 2006 erschien sein Gedichtband „Nachtlaub“, mit „Narr in Trance. Geschichte einer unheimlichen Liebe“ veröffentlichte er 2012 seinen ersten Roman. Unter anderem übersetzte er Reiner Kunzes „Die wunderbaren Jahre“ ins Rumänische und gab das erste Rumänisch-Aromunische Wörterbuch von Apostol Caciuperi heraus. Soweit die Fakten. Ende 2014 veröffentlichte er nach längerem Zögern die Geschichte seiner Flucht aus dem kommunistischen Rumänien, die er als Achtzehnjähriger zusammen mit zwei Freunden unternommen hatte, in einem 108 Seiten starken Buch mit dem Titel „Eine Eisenbahn in meinem Traum“.

Anstelle eines Vorwortes steht der vom Autor aus dem Rumänischen übersetzte Rundfunkbeitrag „Das Phänomen der Grenzgänger. Ein vergessenes Kapitel in der Geschichte des rumänischen Kommunismus“ von William Totok, der von der Deutschen Welle am 16. März 2009 ausgestrahlt wurde. Totok thematisierte damals schon die spektakuläre Flucht der drei Jugendlichen aus Rumänien und resümiert, dass zwanzig Jahre nach dem Fall des Kommunismus das Phänomen der „Grenzgänger“ noch immer ein Tabuthema sei. Insofern kann das Buch von Herbert-Werner Mühlroth – neben ähnlichen Publikationen der letzten Jahre – als Tabubruch gelten.

Obwohl der Text anhand der eigenen Aufzeichnungen während der verschiedenen Stationen der Flucht mit einem Güterzug von Hatzfeld (die Fluchtmethode wird äußerst genau beschrieben und könnte Teil einer Dokumentation zu diesem Thema werden) über das Gefängnis in Zrenjanin, das Flüchtlingsauffanglager Padinska Skela und Belgrad bis zur Ankunft in Deutschland verfasst wurde, bemerkt man beim Lesen immer wieder, dass der Autor eine gewisse Distanz zu den Ereignissen von vor gut drei Jahrzehnten gewinnen konnte, was durch den zeitlichen Abstand zu den Erlebnissen erklärlich wird. Trotzdem kann der Leser die Gedanken, Ängste und Freuden gefühlsmäßig gut nachvollziehen. Diesen Spannungsbogen zu schließen, ist dem Autor hervorragend gelungen.

Der Text ist schwer einem Genre zuzuordnen. Natürlich ist es ein autobiografischer Text, der aber auch selbstreflektierende und essayistische Züge hat und sich wie ein Roman lesen lässt. Wenn man erwartet, dass nach solch traumatischen Erlebnissen eines Jugendlichen ein verbitterter Unterton oder gar eine Abrechnung zu erkennen sei, wird man enttäuscht, denn der Autor resümiert etwas ironisch: „[…] Insofern war ich in Rumänien vor meiner Flucht doch nicht ganz unfrei, denn ich habe gerade diese Freiheit besessen, nämlich wählen zu können.“ Gemeint ist die Wahl zwischen Bleiben oder Gehen.

Die beiden Schlusskapitel betitelt „Freiheit“ und „Angekommen“ schildern die ersten Monate im Westen, wobei den freundlichen Helfern Ernst Stoffel und Martin Mühlroth eine Hommage ausgesprochen wird. Das Buch endet mit zwei bildlichen Zugaben. Die eine enthält ein lyrisches Bild in Worten, das dem Vater des Autors gewidmet und mit „zäuneschweigen“ überschrieben ist, die andere präsentiert einige im Jahr 1999 aufgenommene Bilder vom „Tatort“.    

Herbert-Werner Mühlroth: Eine Eisenbahn in meinem Traum: Meine Flucht aus dem kommunistischen Rumänien. Berlin: Edition Noack & Block, 2014. 108 Seiten. ISBN 978-3-86813-025-6. Preis: 12,80 Euro. Zu beziehen über den Buchhandel.