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Erzählte Historie grafisch eindrucksvoll veranschaulicht

Titelbild: Anna, die Großmutter und Gewährsperson der Autorin.

Flucht im Herbst 1944: Die Angst vor Fliegerbomben ist ständiger Begleiter der Mutter und ihrer vier Kinder.

Hilfsaktionen für die notleidenden Landsleute: An der Grenze mussten oft Schikanen erduldet werden.

Annemarie Ottens Bachelor-Arbeit „Elternerde“ befasst sich mit der Lebensgeschichte ihrer Großmutter. Es ist kein gewöhnliches Buch, das mir Annemarie Otten bei unserem Gespräch in einem Münchner Café vorlegt. Den Umschlag ziert eine Schwarz-Weiß-Zeichnung: das Brustbild einer jungen Frau, dahinter, auf hellblauem Hintergrund, ein Bahngleis. Über der Zeichnung steht, von Hand geschrieben, „Elternerde“. Die einzelnen Buchseiten enthalten eine oder mehrere Zeichnungen in der gleichen Technik wie das Titelbild und nur wenige Zeilen umfassende handgeschriebene Texte. Das Buch, so scheint mir, weist eine gewisse Ähnlichkeit zu Comics auf. Meine Gesprächspartnerin bestätigt mir diesen Eindruck und klärt mich auf: Es handle sich um eine so genannte „Graphic Novel“, eine aus den Vereinigten Staaten übernommene Bezeichnung für Comics in Buchform, in denen eine längere, abgeschlossene Bildgeschichte erzählt wird. Diese seien mittlerweile auch in Europa fest etabliert und zeichneten sich durch eine beachtliche thematische und ästhetische Vielfalt aus.

Diese Form des grafischen Erzählens wählte Annemarie Otten für ihre Bachelor-Arbeit, mit der sie ihr Studium an der Fakultät für Design (Studiengang Kommunikationsdesign) der Hochschule München in diesem Sommer abschloss. Die 25-jährige gebürtige Hamburgerin hatte nach dem Abitur ein Germanistikstudium an der Ludwig-Maximilians-Universität München aufgenommen, stellte aber schon bald fest, dass ihr die Art des Studiums nicht zusagt. Sie sah ihre Stärken eher im kreativ-künstlerischen Bereich. Den Zugang dazu eröffnete ihr das International Munich Art Lab, ein einzigartiges Kunstprojekt für Jugendliche, worauf das Kommunikationsdesign-Studium folgte.

In ihrer Bachelor-Arbeit beschäftigt sich Annemarie Otten mit der Lebensgeschichte ihrer aus Perjamosch stammenden und in Düsseldorf beheimateten Großmutter. Deren Erinnerungen an ihre Kindheit im Banat, an Krieg und Flucht, an das Leben in der kommunistischen Diktatur, an die Aussiedlung und den Neuanfang in Deutschland hat sie in einer Graphic Novel zeichnerisch festgehalten. All das wollte sie eh mal dokumentieren, erzählt die Absolventin, die Abschlussarbeit habe ihr jetzt die Gelegenheit dazu geboten. Sie sei der Meinung, es liege in der Verantwortung der Enkelgeneration, die Geschichte der Großeltern als Zeitzeugen der großen politischen Umwälzungen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu bewahren, „solange sie noch da sind, um sie uns zu erzählen“. Man müsse den Erinnerungen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration Raum geben, zumal – diesen Eindruck habe sie – ein Teil dieser Menschen vieles von dem, was sie erleiden und erdulden mussten, angesichts der permanenten Herausforderungen, die das Leben an sie stellte, gar nicht verarbeiten konnten, sondern einfach verdrängen mussten und nicht darüber sprachen. „Ich habe gehofft“, sagt Annemarie Otten, „dass es hilft, nach so vielen Jahren über das Geschehene zu reden und nachzudenken“.

Nach der Vorgehensweise bei der Erstellung ihrer Bachelor-Arbeit befragt, erläutert die junge Frau die einzelnen Schritte. Zunächst nahm sie die Erzählung ihrer Großmutter mittels Diktiergerät auf und tippte diese in den Computer. „Es kam so unglaublich viel“, erinnert sie sich, wobei ihr aber auch alles wichtig erschien, um die Lebensgeschichte in ihrer ganzen Dimension erfassen und darstellen zu können. In einem weiteren Schritt erstellte sie ein Storyboard, eine Art Szenenbuch zur Visualisierung ihres Konzeptes. Daraufhin experimentierte sie mit verschiedenen Stilen und Techniken, um sich letzten Endes für die Anfertigung der Zeichnungen am PC, unter Benutzung eines Grafiktabletts, zu entscheiden. „Ich wollte, dass es wie von Hand gezeichnet aussieht, was es eigentlich auch ist“, sagt die Autorin. Auch die Texte wurden in gleicher Weise erstellt.

Das Ergebnis ihrer Arbeit ist ein künstlerisches Werk in Buchform, eine Graphic Novel mit dem Titel „Elternerde“. Wie sie eigentlich auf diesen Titel gekommen sei, will ich wissen. Bei ihren Recherchen und Überlegungen zum Thema Heimat habe sie herausgefunden, dass der entsprechende Begriff im Ungarischen „szülőföld“ lautet. „Elternerde“ sei die wortwörtliche Übersetzung dieses Begriffs. „Ich fand das sehr passend“, sagt Annemarie Otten, „handelt es sich doch auch im Falle des Banats, der Heimat meiner Großmutter und meiner Mutter, um ein Stück Erde, in der ihre Wurzeln liegen, die sie geprägt hat, die sie in ihrer Erinnerung tragen, auch wenn die alte Heimat so nicht mehr existiert“.

Die Geschichte gliedert sich in vier Kapitel. Im ersten Teil setzt Annemarie Otten die Schilderung ihrer Großmutter – sie wird im Buch Anna genannt – zur Flucht aus dem Banat im Herbst 1944 zeichnerisch um. Anna war damals erst sechs Jahre alt, als ihre allein zurückgebliebene Mutter – der Vater war zur deutschen Wehrmacht eingerückt – mit den vier Kindern Perjamosch überstürzt verlassen musste. Einige Episoden und Vorkommnisse haben sich im Gedächtnis des Mädchens festgesetzt: die schwierige Theißüberquerung über eine Notbrücke; die ständigen Fliegeralarme und Bombenangriffe; die Erkrankung des kleinen Bruders, worauf die Mutter mit ihm ins Krankenhaus musste und sich fremde Leute um die anderen drei Geschwister kümmerten; die Unterkunft bei einer Familie in der Steiermark, wo die vier Kinder in Schubladen schlafen mussten, die abends aus der Kommode gezogen wurden; das Aufsuchen des Bunkers beim Aufheulen der Sirene; schließlich der letzte Brief vom Vater im Mai 1945 und die spätere Nachricht, dass dieser in der Nähe von Berlin gefallen sei.

Das zweite Kapitel nennt sich zwar „Enteignung“, behandelt aber den gesamten Zeitraum von der Rückkehr der Familie nach Perjamosch bis zu ihrer Ausreise nach Deutschland Mitte der 1970er Jahre und liefert eine treffliche Beschreibung der Lebensverhältnisse im kommunistischen Rumänien. Die Familie findet ihr Haus geplündert vor, die Kuh, ihre Hauptnahrungsquelle, wird im Zuge der Agrarreform enteignet, die Mutter muss alleine für den Unterhalt der Familie sorgen. Obwohl in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, hat Anna viele schöne Erinnerungen an ihre Kindheit, unter anderem an das Baden in der Marosch in den Sommermonaten. Sie wird Lehrerin, heiratet Georg und bekommt drei Kinder. Anna beschreibt die schwierige Versorgungslage im Land, die um sich greifende Korruption, die allgegenwärtige Angst vor der Securitate und das tiefe Misstrauen in das Regime. All dies bestärkt die Familie in ihrem Wunsch auszuwandern.

Der dritte Teil der Graphic Novel handelt von der Ausreise aus Rumänien und den durch einen schweren Schicksalsschlag belasteten Neuanfang in Deutschland. Georg erhält die Genehmigung, eine besondere Augenkrankheit in Österreich behandeln zu lassen, und gelangt so nach Deutschland. Ein Jahr später darf Anna mit den drei Kindern ausreisen – „mit vier Koffern und einer Kiste“. Georg ist inzwischen durch Ärzteverschulden vollkommen erblindet. Es folgt eine lange Odyssee durch alle Gerichtsinstanzen, aber Gerechtigkeit widerfährt dem Kläger nicht. Anna, die wieder als Lehrerin arbeitet, ist auf sich alleine gestellt,  schafft es aber dennoch, das gekaufte alte Haus komplett zu renovieren.

Der letzte Teil, mit der Überschrift „Revolution“, verdeutlicht den karitativen Einsatz von Anna und Georg für die in der alten Heimat verbliebenen Landsleute. Geschildert wird ihre zusammen mit einer Rotarierin im November 1989 unternommene Reise nach Rumänien mit 400 Kilogramm Lebensmittel im Kofferraum des Autos. An der Grenze lässt man sie nicht einreisen, sie fahren in die erste ungarische Kleinstadt, wo sie einen Pfarrer finden, der ihnen verspricht, die Lebensmittel für sie über die Grenze zu bringen. Von Jugoslawien aus gelangen sie dann doch noch nach Rumänien. Nachdem sie die in einem Temeswarer Dollargeschäft eingekauften Lebensmittel in Perjamosch abgeliefert haben, verlassen sie – nicht ohne erneute Schwierigkeiten an der Grenze – das Land. Wenige Wochen später bricht in Temeswar die Revolution aus, die den Sturz des Ceauşescu-Regimes einläutet.

Die Graphic Novel endet mit folgendem Nachwort der Autorin: „Meine Oma Anna hat einmal gesagt, sie konnte nie verstehen, warum ihre jüngeren Lehrer-Kollegen in Deutschland alle immer über Müdigkeit klagten, schon mittags. (…) Meine Oma hat ihr ganzes Leben lang gearbeitet. Sie hat einen Krieg erlebt, Hunger, Armut und Enteignung. Zweimal musste sie ihre Heimat verlassen. Ihre Kinder hat sie in einem Land großgezogen, in dem Misstrauen, Verrat und Korruption herrschten. Sie hat viel Leid und Unrecht erfahren, meine Oma. Aber müde geworden ist sie nie.“

Das Fazit der Autorin: „Die Arbeit an der Graphic Novel hat mich bereichert, ich habe dabei viel gelernt, natürlich darüber, wie ein solches Werk entsteht, aber auch für mich persönlich. Leute in meiner Generation schlagen sich manchmal mit ziemlich komischen Sorgen herum, ich natürlich auch. Angesichts des Lebensweges meiner Großmutter scheinen mir diese Sorgen völlig unbegründet. Wir denken viel zu viel über dies und jenes nach. Mir wurde bewusst, dass manche Menschen gar nicht die Möglichkeit haben, so viel nachzudenken, weil sie einfach überleben, ihre Familie durchbringen müssen. Das hat mich beeindruckt und auch beruhigt. Und ich glaube, ich verstehe jetzt meine Familie ein bisschen besser.“

Zum Schluss frage ich Annemarie Otten, was sie an der Lebensgeschichte ihrer Großmutter besonders beeindruckt habe. „Die Frauen in der Familie mussten immer die Starken sein, weil die Männer nicht da waren. Das hat mich tief beeindruckt“, sagt sie und fährt fort: „Erst meine Uroma, dann meine Oma waren es, die die Familie getragen haben, alles auf sich nehmen mussten. Ich fand es einfach faszinierend, wie viel sie erlebt und gestemmt haben. Das erscheint mir im Vergleich zu dem, was wir heute erleben, einfach unglaublich.“

Annemarie Ottens Arbeit „Elternerde“ ist ein Beweis dafür, dass die Generation der Enkel verstärkt Interesse für die Herkunft und die Lebensgeschichte der Großeltern aufbringt und sich diese auf unterschiedliche Art und Weise zu eigen macht – in diesem Falle unter Rückgriff auf ein relativ neues künstlerisches Medium, das einen hervorragenden Einblick und Einstieg in Erinnerungsdiskurse bietet. Annemarie Otten vermochte es, eine bewegte und bewegende
Familiengeschichte, in der sich auch ein Stück Banater Geschichte spiegelt, mittels einprägsamer Bilder eindrucksvoll und authentisch zu erzählen.