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Plädoyer für das Heimatbuch (Teil 1)

Zum Studienband »Das Heimatbuch – Geschichte, Methodik, Wirkung« (1). Jeder, der sich einigermaßen für Geschichte und Heimatkunde interessiert, eine emotionale Beziehung zu seinem Heimatort hat oder eine eigene Erinnerung daran bewahrt, weiß ganz allgemein, was mit „Heimatbuch“ gemeint ist. Besonders die deutschen Vertriebenen und Aussiedler, die den Verlust ihrer Heimat nach dem Zweiten Weltkrieg hinnehmen mussten – darunter die Banater Schwaben – werden diese Buchbezeichnung auf die Chronik oder die kurzgefasste heimatkundliche Geschichte des verlorenen, aber noch nicht versunkenen Heimatortes beziehen. Über eine wissenschaftliche Definition dieses Publikationsgenres wird dabei in der Regel wenig nachgedacht. Die Unterschiede zwischen den Heimatbüchern in ihren inhaltlichen Schwerpunkten, in ihrer formalen Gestaltung und in ihrem wissenschaftlichen Anspruch sind denn auch so gravierend, dass die zusammenfassende Beschreibung ihrer Charakteristika eine komplexe Forschungsarbeit erfordert.

Mit dem hier besprochenen Sammelband legt nun der Historiker Mathias Beer laut Klappentext „die erste Bestandsaufnahme zum Thema Heimatbuch, einer der populären Geschichtsschreibung zuzurechnenden Buchklasse“ vor. Das Buch ist, wie der Herausgeber in seiner einführenden und grundlegenden Studie hervorhebt, „fächerübergreifend und grenzüberschreitend angelegt“. Denn einerseits verzahnen sich im Heimatbuch mehrere Wissenschaftsbereiche – Geschichte, Landeskunde, Geografie, Volkskunde, Soziologie, Sprache und Literatur –, andererseits gibt es regional bezogen und aus zeitgeschichtlicher Perspektive unterschiedliche Ausprägungen der Heimatbücher. Diese vielfältigen Aspekte im Einzelnen zu untersuchen und auch in vergleichender Betrachtung zu einer Gesamtdarstellung des Phänomens Heimatbuch zusammenzuführen, hat sich der Herausgeber Mathias Beer mit diesem Band vorgenommen. Eng verknüpft damit ist das Ziel, das Heimatbuch als „Buchklasse“ und Gegenstand historischer Forschung zu etablieren. Dies ist letztlich der hohe Anspruch des vorliegenden Sammelbandes. Vierzehn Beiträge zum Thema Heimatbuch sind darin in vier thematische Abschnitte gruppiert: Erstens: Begriff, Geschichte, Forschungsstand; zweitens: Regionale und zeitspezifische Ausprägungen; drittens: Merkmale und Geschichtsbilder; viertens: Funktionen und Wirkung.

Vorneweg sei festgehalten: Es handelt sich um ein wissenschaftlich aufklärendes und hilfreiches Buch zur Förderung der Forschung in diesem Bereich, zur Ermutigung unserer Heimatforscher im Allgemeinen und der Verfasser von Heimatbüchern im Besonderen. Ein Leitfaden zur Erstellung von Heimatbüchern ist es aber nicht und will dies auch nicht sein. Mathias Beer begibt sich mit seinem Forschungsthema auf ein „weitgehend unbeackertes Feld“, denn das Stichwort Heimatbuch ist, wie er feststellen konnte, in keinem Lexikon, nicht einmal im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm zu finden. In seiner einführenden Studie „Das Heimatbuch als Schriftenklasse. Forschungsstand, historischer Kontext, Merkmale und Funktionen“ bietet er erstmalig einen systematischen, kommentierten Überblick über die Forschungsliteratur zum Thema „Heimatbuch“, die er aus zeitgeschichtlicher Perspektive kritisch bewertet und geografisch grenzüberschreitend zusammenfasst. Aus guten Gründen unterscheidet Mathias Beer zwei „Forschungsstränge“, die vom Forschungsgegenstand „Heimatbuch“ vorgegeben werden: Forschungen zu westdeutschen und österreichischen Publikationen einerseits und die auf Heimatbücher der früheren deutschen Ostgebiete und südostdeutschen Siedlungsgebiete bezogene Forschung andererseits. Die aufschlussreich herausgearbeiteten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Bereichen fügen sich zu einem überzeugenden Gesamtbild der deutschen HeimatbuchForschung, in der die beachtliche Heimatbuch-Produktion der Süd-ostdeutschen – darunter jene der Banater Schwaben, der Siebenbürger Sachsen und Ungarndeutschen – vor allem in den letzten drei Jahrzehnten einen bemerkenswerten Platz einnimmt.

Aus der Vielzahl der Heimatbücher des deutschen Sprach-raums greift Beer unter anderem das „Reutlinger Heimatbuch“ von Karl Rommel heraus, das beispielhaft steht für die große Akzeptanz, Vitalität und Entwicklungsfähigkeit dieser Buchgattung, auch für eine originelle Darstellungsweise und für die Einbeziehung des Lesers. Vom Erscheinungsjahr 1913 bis 1999 hat dieses Heimatbuch sechs Auflagen erlebt, davon zwei erweiterte Auflagen nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Einleitung (5. Auflage 1948) wird es vorgestellt als „ein Volksbuch (…), das nicht auf trockene Weise Heimatkunde vermitteln will, sondern (…) heimatliches Leben aus fernen und nahen Tagen. Ein Buch, das unterhaltend Wissen vermittelt und allem, Freude wie Not und Sorge, das weichere Kleid des Literarischen leiht, dass uns daraus vielleicht das sanftere Gesetz der Erkenntnis wachse“.

Als bahnbrechenden Beitrag in der Anfangsphase der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit westdeutschen Heimatbüchern bewertet Beer die Publikation des Volkskundlers Rudolf Schöck: „Das Heimatbuch – Ortschronik und Integrationsmittel?“ aus dem Jahre 1974. Von grundlegender Bedeutung für die Anfänge der Forschungsgeschichte zum ostdeutschen Heimatbuch war hingegen Wolfgang Kesslers Einführung in die Bibliographie „Ost- und südostdeutsche Heimatbücher und Ortsmonographien nach 1945“, Herausgeber: Stiftung Ostdeutscher Kulturrat (1979).

Die nach Flucht und Vertreibung von Millionen Menschen aus den früheren deutschen Ostgebieten und aus Südosteuropa sowie nach der Aussiedlung deutscher Bevölkerungsgruppen aus Rumänien und Ungarn entstandenen Heimatbücher rücken seit Beginn des 21. Jahrhunderts verstärkt ins Blickfeld der Forschung. Als einprägsames Beispiel für diesen zweiten Forschungsstrang hebt Mathias Beer den Band „Zugänge zur Gemeinde“ (Köln / Weimar / Wien 2000) hervor, herausgegeben von Georg und Renate Weber, die rund 160 „Heimatbücher/Ortsmonographien“ in ihre Forschung einbeziehen. Als „auslösendes Moment“ für die Gestaltung dieser ortsbezogenen, vorwiegend unter historischem und volkskundlichem Vorzeichen verfassten Publikationen spielt die Aussiedlung eine entscheidende Rolle. Der Heimatverlust erscheint als Impetus der Entstehung und prägendes Merkmal dieser Ortsmonographien.

Der Herausgeber untersucht sodann die Forschungsarbeiten von Ulrike Frede („Unvergessene Heimat Schlesien. Eine exemplarische Untersuchung des ostdeutschen Heimatbuchs als Medium und Quelle spezifischer Erinnerungskultur“, Marburg 2004) und die von Jutta Faehndrich veröffentlichten Aufsätze zu Vertriebenen-Heimatbüchern. Aus seiner Sicht macht Jutta Faehndrich „einen wichtigen Schritt von der Beschreibung hin zu einer theoriegeleiteten Erforschung insbesondere des Vertriebenen-Heimatbuchs“. Sie sehe „in den Heimatbüchern eine eigene Schriftenklasse“. Dies nachzuweisen und theoretisch zu untermauern ist im Kern das Anliegen von Mathias Beer in seinem akribisch argumentierenden Einführungsbeitrag und wohl auch darüber hinaus. Wesentlich erscheint mir der Hinweis auf den Wandel in der grundlegenden Zielsetzung der Heimatbücher aus dem ostdeutschen Bereich, der als Folge des Krieges und Heimatverlustes eingetreten ist. Jutta Faehndrich bringt es auf den Punkt: „Die Heimatbücher der Vorkriegszeit sind (…) Festschriften zu Lebzeiten, während die Vertriebenen-Heimatbücher eher einem Nachruf gleichen.“ Damit ist die „Erinnerungsfunktion“ der Heimatbücher angesprochen, die in der Forschung in vielfachen Varianten beschrieben wird. Mathias Beer bringt dazu ein bezeichnendes Zitat aus der Dissertation von Katalin Orosz-Takács „Die zur Erinnerung gewordene Heimat. Heimatbücher der vertriebenen Ungarndeutschen“ (Budapest 2007): „Der besondere Stellenwert der Heimatbücher besteht nicht nur darin, dass sie das kollektive Gedächtnis formen und transferieren helfen, sondern dass sie Archiv, Geschichtsbuch, Regelkodex gleichsam ersetzen und selbst als funktionale Gedächtnisorte auftreten.“

Trotz des Beitrags der Heimatbücher zur deutschen Erinnerungskultur ist der stiefmütterliche Umgang der Wissenschaft mit dem Thema „Heimatbuch“ zu beklagen. Und Mathias Beer vermerkt in diesem Zusammenhang „offenbar historisch gewachsene Berüh-rungsängste gegenüber dem von der Laienforschung getragenen Phänomen Heimatbuch“. Als wichtiger Faktor für die Entstehung des Publikationsgenres Heimatbuch war allerdings nach Auffassung von Mathias Beer – außer der Einführung der Heimatkunde als Unterrichtsfach an den Schulen im 19. Jahrhundert – die „Ausdifferenzierung“ der Geschichtswissenschaft. Neben der großen, „national- und politikgeschichtlich ausgerichteten Geschichtswissenschaft“ konnte sich allenthalben die der Landesgeschichte als akademisches Fach behaupten. Die „Heimatgeschichtsschreibung“ unterscheide sich von der akademischen nicht nur durch ihren lokalen Bezug und die Verfasser als „Laienforscher“, sondern vor allem durch die „in der Heimatverbundenheit begründete Beschäftigung mit der Vergangenheit des eigenen Wohn- und Wirkungsortes“. Ihr spezifisches Motiv sei – Beer beruft sich dazu auf Harm Klueting – eben die Heimatliebe und die Identifikation mit dem historisch Gewordenen. Erschütternde Großereignisse wie die beiden Weltkriege und ihre verlustreichen Folgen bedingten das wachsende Interesse der Betroffenen am Heimatbuch. Die Rückbesinnung auf das Heimatliche als Zufluchtsraum aus der Katastrophe, das emotionale Festhalten an den Wurzeln, am Herkunftsraum führte zur Fortschreibung der Heimatbücher aus der Zwischenkriegszeit, auch jener über inzwischen verlorene Orte im Osten. Eine Parallele dazu ist im Falle der Aussiedler festzustellen.

Mathias Beer unterscheidet zwischen dem „klassischen Heimatbuch“, das als „Erinnerungsbuch“, als „Denkmal der Heimatliebe“ zu definieren ist, und einem „neuen Typus“ des Heimatbuchs, der der „Wiederentdeckung“ der Heimat zu verdanken ist, als Reflex auf die Dominanz der Technik im Alltag. Nachzutragen wäre, welche Rolle die Rehabilitierung des Heimatbegriffs dabei gespielt hat. Bis in die achtziger Jahre galt selbst das Wort „Heimat“ in weiten Kreisen der Intelligenz und Politik als belastet, und sein Gebrauch war verpönt. Nicht zuletzt große Schriftsteller aus dem Osten wie der Ostpreuße Siegfried Lenz und der Oberschlesier Horst Bienek haben den öffentlichen Gesinnungswandel mitbewirkt, der verkrustete ideologische Positionen zu verdrängen vermochte. Akribisch und kritisch-assoziativ hat Mathias Beer die bisherigen Erkenntnisse der Forschung zu den spezifischen Merkmalen der Gattung „Heimatbuch“ zusammengetragen im Hinblick auf eine griffige und gültige Definition dieser Buchklasse. Zweifellos verleiht er dabei den Begriffen Heimat, Heimatforscher, Lokalhistoriker, heimatliches Bewusstsein einerseits und der Heimatgeschichte als wissenschaftlicher Disziplin andererseits schärfere Konturen.

Den Heimatbüchern wird vor allem eine identitätsstiftende, „geschichtsbildende“ Funktion und ein wichtiger Beitrag zur kollektiven Erinnerung zugesprochen. Mathias Beer merkt kritisch an, dass die Heimatbücher als Teil der „populären Geschichtsschreibung“ in ihrem besonderen historischen Quellenwert viel zu wenig wahrgenommen werden und dass diese Buchklasse nach wie vor von der Geschichtswissenschaft unterschätzt werde.

Als Fazit stellt der Herausgeber dazu fest: „Dieser Quellenwert ist umso höher einzuschätzen, als Heimatbücher so wie Geschichte schlechthin, immer wieder geschrieben werden, so dass man mit dem Heimatbuch in der Regel nicht nur einen zeitlich begrenzten Querschnitt des Selbstverständnisses eines Ortes und vieler seiner Bewohner fassen kann, sondern mit den Neuausgaben oder neu verfassten Heimatbüchern in der vorteilhaften Lage ist, über ein ganzes Jahrhundert verteilt gleich mehrere Querschnitte zu haben.“

(Fortsetzung folgt)