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Und über uns der blaue endlose Himmel (2)

Ein selbstgegrabener Brunnen (Bildmitte) und ein mit Lehm gestampftes Haus im Rohbau

Das sogenannte »große Haus« hatte zwei Zimmer und eine Küche

Winter im Baragan: Die Häuser versinken im Schnee

Hilfsbereite Dorfbewohner schaufeln eingeschlossene Nachbarn frei. Einsender der Fotos: Wilhelm Weber

Die ersten Anzeichen einer bevorstehenden Deportation bildeten die seit Anfang Juni 1951 auf allen Bahnhöfen in der Grenzzone auf Nebengleisen zahlreich abgestellten leeren Güterwaggons. Um bei der Bevölkerung keine Panik aufkommen zu lassen, trugen die Waggons auf beiden Seiten den Aufdruck „Geeignet für den Getreidetransport“. Trotz dieser Irreführung rief der Anblick so vieler Waggons Erinnerungen an die erst sechs Jahre zuvor stattgefundene Russlandverschleppung wach. Dass ein vermutlich unerfreuliches Ereignis bevorstehe, wurde am Samstag, dem 16. Juni 1951, zur Gewissheit, als Miliz- und Securitate-Angehörige in Schulgebäuden Quartier bezogen. Noch beunruhigender wirkten die mittels Trommelschlag bekanntgemachten Anweisungen, dass keiner mehr das Dorf verlassen dürfe, und dass der Eisenbahnverkehr wegen Manöver eingestellt werde und deshalb auch keiner am folgenden Montag zur Arbeit fahren brauche. Die Anwesenheit des Militärs sollte mit der Ankündigung von Manö-vern begründet werden. Das glaubte jetzt keiner mehr, und dem letzten Zweifler wurde zur Gewissheit, dass sich Schreckliches anbahnte, möglicherweise wieder eine Verschleppung, ähnlich der von 1945. Keiner aber dachte im entferntesten daran, dass es dieses Mal ganze Familien betreffen könnte, vom kleinsten Kind bis zum ältesten Greis.

Am 17. Juni blieb alles ruhig. Doch in der darauffolgenden Nacht, in der von Sonntag auf Montag, dem 18. Juni 1951, schlug die Staatsmacht zu und startete die Verschleppungsaktion. Kurz nach Mitternacht wurde mit Gewehrkolben auch an unser Haustor geklopft. Nachdem wir öffneten, trat eine Gruppe von Militärpersonen und ein Zivilist ein. Nach Überprüfung unserer Identität wurden die Personalausweise beschlagnahmt. Es wurde uns befohlen, die nötigsten Sachen zu packen und nach zwei Stunden transportbereit zu sein. Es durften nur Sachen des täglichen Bedarfs, einfache Hauseinrichtungsgegenstände und Werkzeuge mitgenommen werden und nur soviel, wie auf dem Fuhrwerk, das man uns zugeteilt hatte, Platz fand. Weil wir sechs Personen waren, konnten wir nur wenig an Möbeln, Bekleidung und Lebensmitteln aufladen. Der restliche Hausrat, Lebensmittel, Werkzeuge und andere Besitztümer blieben entschädigungslos in Haus und Hof zurück. Um jedweden Kontakt mit Nachbarn und anderen Einwohnern des Dorfes zu unterbinden und auch um eine eventuelle Flucht zu vereiteln, wurde ein mit Maschinenpistole bewaffneter Soldat im Hof postiert. Dieser begleitete uns auch später zum Bahnhof, wo er uns seinem Vorgesetzten übergab. Auf dem Bahnhofsgelände verbrachten wir drei Tage unter freiem Himmel. Am Abend des 20. Juni wurde uns dann ein Güterwaggon zugeteilt. Dass es nur ein vorübergehendes „Dach über dem Kopf“ sein sollte und dass wir noch viele Tage und Wochen unter freiem Himmel verbringen müssten, konnten wir damals nicht ahnen.

Betroffen von dieser Deportation waren sehr viele Deutsche, darunter laut einer Statistik 2344 ehemalige Soldaten der Deutschen Armee mit ihren Familien. Aber auch andersnationale Großbauernfamilien, Bauern, die sich der Kollektivierung der Landwirtschaft widersetzten und andere besitzende Schichten der Bevölkerung aus der Grenzzone waren von den Verschleppungsmaßnahmen betroffen. Auf dem Bahnhofsgelände in Billed, wohin auch alle Deportierten aus den Nachbardörfern Groß- und Kleinjetscha gebracht wurden, drängten sich die Menschen mit ihrer spärlichen Habe. Wären da nicht die bewaffneten Bewacher gewesen, hätte man meinen können, es handle sich um einen aus den Fugen geratenen Jahrmarkt. Eingeschlossen von einer Bewacherkette bewegten sich über 1946 Personen auf engstem Raum zwischen Möbeln, Pferden und Kühen. Überall stand Gepäck herum und Kisten mit Schweinen und Geflügel. In diesem Trubel schien für Angst und Klage kaum noch Raum zu sein, denn zu sehr war man beschäftigt mit der Erledigung der dringenden Verrichtungen, wie die Versorgung der Tiere, der Kinder und der Kranken. Dem Schock über das Geschehene folgte eine Art innere Starre, die alles Wehklagen und Jammern verstummen ließ. Was wird aus uns? Wohin werden wir gebracht? Diese Fragen und besonders die Ungewissheit beschäftigte die Menschen. Ratlosigkeit und Trauer standen auf ihren Gesichtern, und in den Augen glitzerten Tränen der Verzweiflung. Nicht wenige alte und kranke Menschen lagen auf improvisierten Liegestätten und beteten dafür, noch in der Heimat sterben zu dürfen. Sie wollten ihren Angehörigen nicht mehr zur Last fallen. Allein schon der Gedanke, es könnte wieder nach Russland gehen, stürzte diese Menschen in tiefe Verzweiflung.

Vom Billeder Bahnhof fuhren innerhalb der nächsten vier Tage genau 230 Güterwaggons mit Deportierten ab. Insgesamt wurden für diese gesamte Verschleppungsaktion 6211 Waggons benötigt. Oft mussten sich zwei bis drei Familien einen Waggon teilen und bei großer sommerlicher Hitze tagelang darin ausharren. Auf der Reise in den Osten wurden die Züge natürlich von bewaffneten Zugbegleitern bewacht. Eine Flucht war aussichtslos. Auf dem Bestimmungsbahnhof in der Baragansteppe wurden die Habseligkeiten ausgeladen und zusammen mit den Deportierten auf abgeerntete Ackerflächen transportiert. Hier hatte sich bis zum Herbst jede Familie ihr zukünftiges Wohnhaus zu bauen. 2500 Quadratmeter große Haus- und Gartenplätze waren schon ausgemessen und mit Pflöckchen markiert, auf denen die Hausnummer stand. Dass so etwas sechs Jahre nach dem Ende des Krieges noch geschehen konnte, konnten wir einfach nicht fassen. Auf dem Weg in die Verbannungsorte hofften wir noch, in bestehende Unterkünfte einquartiert zu werden. Dass jedoch ein Ackerland ohne Baum und Strauch jetzt unser ständiger Aufenthaltsort sein sollte, das konnten wir uns einfach nicht vorstellen. Um Schutz vor dem ununterbrochen wehenden Wind und der glühenden Sonnenhitze zu haben, errichteten wir uns mit den mitgebrachten Möbeln, Teppichen, Decken und dem herumliegenden Stroh hütten-ähliche Unterkünfte. Darin „wohnten“ wir in den ersten Monaten. Denn bis ein neues Haus erbaut werden konnte, verging noch eine Zeit. Es mussten erstmals Lehmziegel gefertigt werden. Das „Ziegelschlagen“, eine kräftezehrende Arbeit, beschäftigte uns in den nächsten Wochen von früh bis spät. Die Häuser mussten genau nach vorgegebenem Plan gebaut werden. Es gab zwei Haustypen: mit einem und mit zwei Zimmern. Dazu kam noch eine Küche. Je nach der Anzahl der Familienmitglieder fiel die Entscheidung für das „große“ oder „kleine“ Haus. Der Staat stellte nur das Bauholz für den Dachstuhl, Fenster mit einfacher Verglasung und die Türen zur Verfügung. Alles andere musste sich jeder selbst anfertigen. Die Häuser deckte man mit Stroh oder mit Schilfrohr, wo solches vorkam. Erst 1954 erlaubte man uns, auf eigene Kosten das Haus umzubauen und das Strohdach durch ein Teerpappe- oder Ziegeldach zu ersetzen. Das taten wir dann auch an unserem Haus. Um eine Kontrolle über die in den neuen Dörfern lebenden Menschen gewährleisten zu können, durften die Deportierten sich nur in einem Umkreis von 15 Kilometer bewegen. In den Personalausweisen gab es einen deutlich sichtbaren Vermerk: DO (Domiciliu obligatoriu), was auf Deutsch „Zwangsaufenthalt“ bedeutete.

So entstanden im Spätsommer und im Herbst 1951 innerhalb kürzester Zeit in der Baragansteppe 18 neue Dorfanlagen mit je 400 bis 700 Häusern. Unser Dorf Dalga beispielsweise hatte 516 Hausnummern. Unser Haus lag am Dorfrand und hatte die Nummer 498. Die Zimmer und die Küche waren klein und eng, die Fußböden aus Lehm und die Zimmerdecken aus Lehmwickeln. Die Trinkwasserversorgung war in der gesamten Baragansteppe ein Problem. In den Dörfern, die in der Nähe der Flüsse Jalomita oder dem Donauarm Borcea lagen, musste abgekochtes Flußwasser zum Trinken und Kochen benützt werden. Brennholz oder Kohle war schwer zu beschaffen, so dass mit Maiswurzeln, Maisstengeln, Maiskolben, mit Stroh und auch mit einer besonderen Art von vertrocknetem Steppengras geheizt wurde. Zur Beleuchtung dienten Petroleumlampen. Wenn es kein Petroleum gab, nahm man Kerzen.