Ich erlebte die Flucht als Kleinkind und meine Erinnerung ist nur schemenhaft, deshalb versuche ich, mich über die Erzählungen meiner Mutter in diese Zeit zu versetzen. Denn wir waren lange Zeit von diesen Geschehnissen geprägt.
Es war September 1944, noch schöne Sommertage, aber die Gefahr, die vom Näherkommen der Roten Armee ausging, wuchs von Tag zu Tag. Die Aufregung in der Banater deutschen Gesellschaft war überall zu spüren. Mein Kinderdasein war in dieser Zeit von Verunsicherung, Vorsicht, Verschwiegenheit und Angst bestimmt. Auch in einem Brief meines Vaters Elmar Böss vom 18. Februar 1944 konnte man zwischen den Zeilen lesen, dass er besorgt war. Er war zu der Zeit als Dolmetscher für Rumänisch in Halle an der Saale tätig und verfolgte die Geschehnisse in Rumänien und im Banat sehr aufmerksam.
Schon seit dem Sommer wurden in Hatzfeld Stimmen laut, dass man sich auf die Flucht aus Rumänien vorbereiten soll. Mein Großvater Josef Schmidt beschloss daher, die Flucht seiner Tochter mit den zwei kleinen Enkelkindern zu organisieren. Die drei sollten gerettet werden, auch wenn man sich möglicherweise nie mehr wiedersehen würde.
Zwei große Holzkisten wurden angeschafft, für Nahrung und Kleidung. Der Winter stand ja vor der Tür und die Kinder sollten mit Essen, warmer Kleidung und warmem Bettzeug versorgt sein. Diese beiden großen Holzkisten stehen heute noch auf dem Hausboden, meine Mutter hatte sich nie von ihnen trennen können. Sie hatte selbst dann nicht das Herz, sie zu verbrennen, als im Kommunismus das Brennholz knapp wurde und man nur mit Maiskolben und Sonnenblumenstängeln heizen konnte, um den Winter zu überstehen. Auch ich habe die Kisten weiterhin behalten.
Großvater hat einen Wagen mit Plane und zwei kräftige Murak Öser Murapferde (ungarische Zugpferde) besorgt. Darauf wurden die großen Kisten aufgeladen und alles für die kleinen Kinder vorbereitet.
Meine Großeltern selbst beschlossen, in Hatzfeld zu bleiben, auch wenn es ihnen schwerfiel. Sie wollten das Haus ihrer Tochter vor Übergriffen schützen, das Haus, das sie mit ihrem Schweiß und Fleiß erwirtschaftet hatten, um es der Tochter mit in die Ehe geben zu können. Die anderen Verwandten trennten sich bei der Flucht nicht von den Großeltern, was zur Folge hatte, dass sie nach Kriegsende alle in Deutschland geblieben sind.
In einer Kolonne ging es Mitte September los ins Ungewisse. Wir flohen als Deutsche vor den sogenannten „Befreiern“, die mit ihren Methoden und ihrem System so viel Unheil über das Banat und seine Bevölkerung gebracht haben. Meine Mutter musste nach unserer Rückkehr bei jeder dieser „Befreier-Feierlichkeiten“ – und davon gab es viele – an die schwere Zeit denken, wo sie als Frau allein mit zwei kleinen Kindern aus ihrem Zuhause flüchten und in der Fremde über Berg und Tal mit Wagen und Pferd herumirren musste. Sie war Absolventin des Ursulinenklosters aus Hermannstadt, wo man das nicht gelernt hatte. Die Not jedoch hat sie dazu gezwungen, und die Kinder im Wagen erinnerten sie jede Minute daran, dass sie diese kleinen Mädel vor dem Bösen retten muss.
Vor der Abfahrt war beschlossen worden, dass wir nicht Deutsch sprechen, dass wir keine Deutschen sein durften, damit wir leichter durch die verschiedenen Kontrollen kommen. Für meine Mutter Ella Böss, geborene Schmidt, war das nicht schwer, sie sprach perfekt Ungarisch und Französisch. Doch schon bei der ersten ernsten Kontrolle geschah es. Ich war drei Jahre alt und rief von hinten aus dem Wagen: „Mutti, bitte, ich muss mal Pischi machen.“ Die Wagen, die mit uns in der Kolonne waren, mussten stehenbleiben. Alle waren geschockt, doch meine Mutter konnte die Sache klären: Das Kind sei nur hungrig und habe in dieser Form schreiend geweint. Daraufhin konnte die Kolonne ihren Weg fortsetzen.
Für die Pferde mussten Pausen eingelegt werden, denn sie waren ein wertvolles Gut, auf das meine Mutter aufpassen musste. In den Bergen wurde der Weg immer schlimmer, steiler, mit viel Geröll – für meine Mutter als Frau eine Kraftprobe. Auf einem solchen steinigen Weg begannen die Pferde plötzlich zu rennen. Meine Mutter konnte die Zügel nicht mehr halten und fiel vom Wagen zwischen die Pferde. Der Wagen rollte mit den schreienden Kindern über sie hinweg, doch die Räder rollten rechts und links an ihr vorbei und sie blieb zum Glück unverletzt liegen. Ein Bauer auf dem Feld sah diese Szene, eilte herbei, ergriff die Zügel und konnte die Pferde aufhalten.
Diese Szene hat mir meine Mutter oft erzählt, denn sie fragte sich immer: Was wäre in der Fremde mit ihren kleinen Kindern geschehen, wenn sie bei diesem Unfall ums Leben gekommen wäre? Wer hätte diese Kinder jemals gefunden?
Nicht umsonst hatte man bei der Vorstellung des Buches mit den gesammelten Fluchtgeschichten die herausragende Rolle der Frauen hervorgehoben: Sie haben die Flucht organisiert und sie bis zu Ende geführt – egal in welche Richtung und in welches Land. Meine Mutter ist mit den Kindern bis tief in die Berge Österreichs gekommen.
Auf dem einen Bauernhof, wo wir angehalten haben, bin ich in einen großen rostigen Nagel getreten und musste daher sofort eine Tetanus-Impfung bekommen. Aber da war weit und breit kein Arzt. Die anwesenden Bauern erklärten, dass der nächste Arzt gleich im Ort hinter dem Berg wohnt und man dorthin nur zu Fuß kommen kann. Meine Mutter versorgte kurz meine sechsjährige Schwester Karin-Ingrid bei den Pferden, nahm mich wie einen Rucksack auf den Rücken und begann den schweren Aufstieg auf den Berg. Aber es war ja noch Krieg, die Bomben fielen rechts und links, meine Mutter musste sich mit mir oft auf den Boden schmeißen, um nicht Opfer von Bombensplittern zu werden. Mit Müh und Not erreichten wir den Arzt, die rettende Impfung wurde verabreicht, doch musste meine Mutter jetzt mit einem kranken Kind zurück, denn die Impfung verursachte Fieber. Meine Mutter musste den Vorschlag des Arztes, bei ihm zu übernachten, ablehnen. Die Sorge um ihr anderes Kind, das sie in einem fremden Ort neben zwei großen Pferden zurückgelassen hatte, war zu groß.
Wir kamen schließlich auf einen großen Bauernhof, wo uns einige Überraschungen erwarteten. Am Hof selbst war alles in Ordnung, wir durften in einem Nebengebäude schlafen, die Pferde in einem Stall abstellen und bekamen auch zu Essen. Doch auf diesen Hof kamen eines Tages russische Soldaten. Jede Frau versteckte sich in ein Zimmer, um nicht gesehen zu werden, denn man hatte große Angst, von diesen Soldaten vergewaltigt zu werden. Der alte Herr auf dem Hof wollte einem Soldaten nicht seine goldene Taschenuhr geben, darum hat er ihn ganz einfach erschossen. Dann begannen die Soldaten die Frauen zu suchen und man hörte nur Schreie auf dem Hof – die Hilfeschreie der jungen Frauen und das Weinen der Älteren.
Meine Mutter versperrte sich mit uns Kindern in einem abgelegenen Zimmer, doch bald erschien auch dort ein Soldat, der immer die Worte wiederholte: „Ich guter Russ.“ Er war rothaarig, klein und kräftig von Statur und kam immer näher zu meiner Mutter, die sich in ein Bett gelegt hat, mit beiden Kindern auf ihrer Brust, mit meinen Armen um ihren Hals. Sie sagte zum Soldaten: „Ich viele Kinder“. Wir Kinder begannen zu weinen, und der Soldat entfernte sich aus dem Raum. In späteren Jahren hat meine Mutter immer gesagt: „Ihr Kinder habt mir das Leben gerettet.“
Alle Frauen auf dem Hof, ob jung oder alt, wurden von den anderen Soldaten vergewaltigt. Die eine junge Magd hatte sich in einem großen Krautfass versteckt, doch sie wurde gefunden und alle fielen über sie her. Danach begannen die Soldaten, den Hof zu verwüsten, holten sich Schinken und Speck und suchten nach Alkohol. Die Hausfrau hatte ihren Vater verloren, war vergewaltigt worden und stand vor einem kaputten Hof. Das ist der Krieg.
Es waren grausame Zustände. Meine Schwester war damals sechs Jahre alt. Vielleicht hat sie diese Geschehnisse wahrgenommen, aber sie war so verschwiegen, so voller Angst, und wir haben in späteren Jahren nie darüber gesprochen. Fragen kann ich sie leider nicht mehr, sie ist in jungen Jahren an Krebs verstorben.
Zu den Ereignissen auf diesem Bauernhof kann ich leider kein Datum nennen, weil beim Erzählen das Datum keine Rolle spielte und selbst wenn es genannt wurde, habe ich es vergessen.
Es war schon 1945 geworden, da zogen wir mit Wagen und Pferden weiter nach Fehring. Ein Arztrezept von einem Dr. Hans Koller liegt von hier vor, es trägt das Datum vom 2. März 1945. In Fehring waren wir wohl nicht lang, denn am 9. Mai 1945 war meine Mutter als Flüchtling mit zwei Kindern beim Bürgermeisteramt Liezen gemeldet. Auf der Rückseite der Anmeldung sind „Lebensmittel für 3 Personen“, mehrere Abkürzungen und „Kartoffeln“ vermerkt. Unsere Nahrungsvorräte waren schon lange alle aufgebraucht, meine Mutter musste sich um Essen kümmern.
Der Sommer näherte sich, wir alle hatten Heimweh, der Krieg war zu Ende und meine Mutter wollte unbedingt zurück ins Banat, zu ihren Eltern. Am 1. Juni wurde ich vier Jahre alt, und am 1. August wurde meine Schwester sieben Jahre alt und musste eingeschult werden – was meine Mutter nur zuhause, in Hatzfeld, machen wollte. Die Verwandten begannen ihre Männer zu suchen, auch meine Mutter. Mein Vater war nicht in Gefangenschaft geraten, dafür aber einer unserer Verwandten, den die Familie weitersuchen wollte. Ohne Handy und ohne Drohnen hat mein Vater uns gefunden. Zusammen wurde die Heimreise nach Rumänien beschlossen.
Es war Oktober 1945 und schon kalt geworden. In den Kisten gab es noch Winterkleidung und unsere lieben, braven Pferde wurden wieder für einen langen Weg vorbereitet. Ein ganzes Jahr lang standen sie uns treu zur Seite und waren schon Mitglied unserer Familie.
Es sollte eine abenteuerliche Heimreise werden, die meine Mutter nie vergessen und uns Kindern öfters erzählt hat. Ich habe dieses abenteuerliche Ende der Flucht an meinen Sohn und Enkelsohn und auch an die Söhne meiner Schwester weitergegeben, die alle stolz auf ihre Großeltern sind.
Die Fahrt selbst war leichter geworden, denn nun war ein Mann dabei und wir fühlten uns geschützter. Aber es herrschten noch Kriegsverhältnisse und da musste man vorsichtig sein, denn überall lauerten Gefahren. Zwischen zwei Dörfern, mitten auf dem Weg, wurden wir von Partisanen überfallen. Sie nahmen uns die Pferde weg und den großen Laib Brot aus dem Wagen. Wir standen da und konnten nicht mehr weiter. Jeder Versuch der Eltern, sie zum Einlenken zu bringen, war umsonst, das waren radikale Räuber, mit denen war nicht zu spielen. Wir Kinder waren stumm, sprachen aus Angst kein Deutsch und meine Eltern sprachen alles andere außer Deutsch, damit sie uns nicht noch umbringen.
Meine Eltern mussten einen Plan schmieden, um die Heimreise fortsetzen zu können. Wir warteten, bis es Nacht wurde. Weil es kalt war, zündeten die Partisanen ein großes Feuer an, saßen um das Feuer herum und begannen zu essen und zu trinken. Sie hatten sich in den Dörfern genügend Alkohol verschafft und feierten dies in der Runde. Vater wartete, bis sie alle betrunken waren und beim warmen Feuer einschliefen.
Dann hat er mitten in der Nacht, mit viel Courage, unsere zwei Pferde zurückgestohlen. Die kannten unsere Stimmen und ließen sich von meinem Vater zum Wagen zurückbringen, ohne Lärm zu machen und die schlafenden Partisanen zu wecken. Wir fuhren sofort los und waren so leise wie nur möglich, damit uns niemand entdeckt. So eine Courage hat man nur im Krieg, wenn es um Leben und Tod geht. Dort hat es auch mein Vater gelernt, was aus späteren Erzählungen immer klarer wurde.
Wir näherten uns dem Banat und versuchten, so schnell wie möglich die Großeltern zu verständigen, dass wir bald zuhause sind. Großvater kam uns mit einem anderen Wagen und Pferd entgegen, um uns schnell nachhause zu bringen. Meine Schwester setzte er sogar auf das Pferd, aus Freude, dass wir heimgekommen sind. Es war schon lange Tag geworden, und die Eltern konnten ruhig nachkommen. Für unseren Großvater waren vor allem die Enkelkinder wichtig. Jedenfalls sind wir alle vier heil zuhause angekommen. Was uns danach hier erwartete – meine Großeltern, meine Eltern und auch mich, volle drei Generationen – das kann man nicht beschreiben, dazu ist ein Roman viel zu klein. Was wir aber auf der Flucht erlebt haben, soll nicht vergessen werden.











