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Zu Gast in der Heimat meines Vaters: Ein Pfälzer Bürgermeister auf den Spuren seiner Familie im Banat

Vor dem Denkmal in Schag-Temesch: Michael Gaudier, Bürgermeister der Stadt Kandel-Deutschland (rechts) mit Toni Kapor, Mitglied im Gemeinderat Schag-Temesch Fotos: Michael Gaudier

Empfang im Rathaus von Schag-Temesch (v.l.): Toni Kapor, Michael Gaudier und der Bürgermeister von Schag-Temesch Flavius-Călin Roşu

Grabstätte der Familie Gaudier im Friedhof von Schag-Temesch. Ein Vorfahre trägt auch den Vornamen Michael. Der Friedhof sah sehr gepflegt aus, das Gras war frisch gemäht.

Kurz nach meiner Wahl zum Bürgermeister von Kandel (Pfalz) bot sich mir die Gelegenheit, nach 50 Jahren erneut die Heimat meines Vaters zu besuchen. Wie oft hatte ich es geplant, wie oft zerschellten meine Pläne? Nun war es Constantin, der mich dazu anregte. Er betreibt mit seiner Frau Michaela im Nachbarort Hatzenbühl eine Pizzeria. Mit einem Flug von Baden-Airport nach Temeswar begann meine Reise. Constantin, der auch gerade in Rumänien weilte, holte mich ab und begleitete mich.
Busiasch
In seinem Heimatort Busiasch lernte ich abends seine Familie kennen –seine Schwiegermutter und Michaelas Oma empfingen mich herzlich. Die aus meiner Kindheit bereits bekannte Gastfreundschaft verbietet es, in ein Hotel zu gehen. Wie selbstverständlich wurde mir ein Zimmer im Haus angeboten. Dazu wurde ich rundum umsorgt. Gegessen wurde, was der große Garten zu bieten hatte. Diese großen Hausgärten zur Eigenversorgung entsprachen meinen Erinnerungen von „damals“. Die Speisen, nach Rezepten zubereitet, die mir von meinen früheren Aufenthalten noch gut in Erinnerung sind, wirkten sehr vertraut. Obwohl ich leider kaum ein Wort Rumänisch verstehe, geschweige denn sprechen kann, unterhielten wir uns stundenlang und wussten, was gemeint war. „Oma“ war herzlich und nicht zu übertreffen. Nur eines durfte man bei Oma nicht: In einer Gaststätte essen und damit ihre Küche ignorieren! Das sollte mir auch später bei meinen Angehörigen in Schag noch zum Verhängnis werden.
Die kleine Stadt Busiasch hat als Kurort viel zu bieten und ist bekannt durch ihre Heilquellen. Wir besuchten den Wochenmarkt mit all den regionalen Produkten. Auch der Kurpark mit seinem großen Laubengang ist beeindruckend. Der wohl größte und längste Holzbau in Europa ist hervorragend renoviert und lädt zum gemütlichen Flanieren ein. Damals wurde er von Kaiser Franz Joseph errichtet, damit seine Mutter auch bei Regen den herrlichen Park besuchen konnte. Da sollten sich meine Kinder mal ein Beispiel nehmen! Okay, ich nehme den Vergleich zurück, woher sollten wir auch so viel Holz hernehmen? Frisch renoviert ist er neben der noch nicht renovierten Sommerresidenz der damaligen Kaiserin ein wirklich starker Kontrast.
Temeswar
Der nächste Tag führte uns nach Temeswar, die  Europäische Kulturhauptstadt 2023. Temeswar ist auch die Partnerstadt von Karlsruhe. Unser Rundgang in der Altstadt war faszinierend und nachhaltig eindrucksvoll. Die Stadt ist geprägt von ihren vielen historischen Gebäuden, die aufwendig renoviert sind und einen absolut gepflegten Eindruck vermitteln. Die mit alten Natursteinen gepflasterten Straßen der Innenstadt laden zum Flanieren und Verweilen ein. Die vielen verschiedenen Lokale und deren Außengastronomie bieten einfach alles, ohne touristisch überlaufen zu wirken. Eine Stadt mit 150000 Studenten zeigt sich sehr beeindruckend von ihrer besten Seite.
In unserer Stadt Kandel hatten Schüler durch eine sehr löbliche Sammelaktion von Zigarettenkippen auf die Gefahren der achtlos weggeworfenen Kippen für Tiere und Umwelt aufmerksam gemacht. In Temeswar gibt es kaum eine Zigarettenkippe auf der Straße oder auf dem historischen Pflaster, alles ist vorbildlich sauber. Auch sonst ein absolut tadelloser Zustand, auch in den vielen Stadtparks. Kein Müll, kein Dreck, keine Spuren von Vandalismus oder „Kunst“ von Sprayern.
Bei gutem Wetter und einem Kaffee in der Innenstadt konnte man das Leben gut beobachten und auf sich wirken lassen. Keine Spur von großer Hektik oder getriebenen Leuten, die mit Handy am Ohr durch die Fußgängerzone hetzen. Die Aufenthaltsqualität lädt zum Verweilen ein.
Ich erinnere mich zufällig an die Erzählungen meines Vaters Josef, der mir von seinem Schulbesuch des deutschen Gymnasiums in Temeswar berichtete. Ich fragte Constantin, ob er weiß, wo diese Schule ist. Wenn ich schon mal da bin, würde ich gerne vorbeischauen. Als wir uns erkundigen wollten, erübrigte sich die Frage: Wir standen direkt vor dem Haupteingang des Lenau-Lyzeums. Mein Blick fiel auf die in deutscher Sprache angebrachte Hinweistafel. Was für ein Zufall! 
Wir besuchten noch den katholischen Dom „St. Georg“ und die rumänisch-orthodoxe „Kathedrale der Heiligen drei Hierarchen“. 
Bei einem kurzen Besuch bei einem bekannten Rechtsanwalt in der Nähe der Stadtverwaltung wurde ich als Freund der Familie, als Nachfahre eines Banaters und als Bürgermeister der Stadt Kandel vorgestellt. Sofort wurde das Telefon in die Hand genommen und versucht, den Bürgermeister von Temeswar Dominic Fritz zu erreichen, um einen Besuchstermin zu vereinbaren. Dieser befand sich aber an diesem Tag in der Hauptstadt Bukarest, wofür tief betroffen um Entschuldigung gebeten wurde. Beim nächsten Besuch müsste ich mich unbedingt vorher anmelden, um ein persönliches Treffen zu ermöglichen, das wäre Pflicht!
Auf dem Rückweg ging es zu der modernen Einkaufs-Mall „Julius Town“, wo ich von der Außenanlage beeindruckt war. Beim Shopping war ich nicht, was mir nicht schwerfiel. Aber die üppige Begrünung auf dem Parkdeck und den dazugehörenden Passagen hat mich auf eine Idee gebracht: Ich hatte sofort unsere Kandeler „Friedenslinde“ vor Augen, die, in die Jahre gekommen, abgeholzt worden war. Mehrere große und sehr alte Linden hatte man hier auf dem Betonboden der Tiefgarage der Mall angepflanzt. Die Bäume waren aus einem nahegelegenen Wald umgepflanzt worden und entwickelten sich an dem neuen Standort ohne Probleme, denn man hatte sie vor dem Verpflanzen drastisch zurückgeschnitten, wie man mir erklärte.  Da kam mir die Idee, dies auch in Kandel auszuprobieren und unsere alte Linde zu ersetzen.  Unsere Bürokratie dürfte für meinen Plan noch das größte Problem werden. Mal sehen, was wir in Kandel daraus machen!
Abends bei „Oma“ in der Küche lief ein Interview mit dem Temeswarer Bürgermeister im Fernsehen. Der Untertitel war beeindruckend: Dominic Fritz – heute ein deutscher Bürgermeister in Timisoara, morgen Präsident von Rumänien? 
Schag
Wie schon lang ersehnt, ging es am letzten Tag in mein Heimatdorf Schag, einem Vorort von Temeswar, direkt am Fluss Temesch. Mit ca. 8600 Einwohnern ist es mit Kandel vergleichbar. Mein Cousin Anton Kapor holte mich ab. Er wurde im Juni 2024 als 1. Beigeordneter der Stadt Schag wiedergewählt. Bei der Autofahrt durch den Ort erkannte ich zunächst nichts mehr. Geschäfte und Baugebiete entlang der Hauptstraße waren neu. Erst bei der Fahrt in die Seitenstraßen, die mittlerweile asphaltiert sind, konnte ich mich orientieren. Schließlich waren 50 Jahre vergangen! Man könnte auch behaupten, ich bin halt entsprechend älter geworden! Damals hatte Schag nur ca. 2500 Einwohner, überwiegend Schwaben, die vor 200 Jahren hier das Land besiedelt hatten. Ein Kloster, der Bahnhof und die Europastraße E 70 machten den Ort bekannt. Landwirtschaftlich geprägt, mit unbefestigten Straßen und Gänsen auf den Gassen.
Unser erster Weg führte uns auch gleich zum Rathaus von Schag. Toni Kapor wollte mir unbedingt sein Dienstzimmer zeigen. Der ebenfalls anwesende Bürgermeister Flavius-Călin Roşu wurde informiert und bestand gleich auf einem offiziellen „Antrittsbesuch“. Sofort wurden in seinem Dienstzimmer drei Flaggen zurechtgeschoben, um ein gemeinsames Foto zu machen. Dabei wurde mir ein Wimpel überreicht, auf dem die Ortsfahne dargestellt war. Tief beeindruckt von der Spontanität wollte ich doch einen ordentlichen Eindruck auf dem Foto hinterlassen. Zu Jeans und Kurzarmhemd fehlte mir jedoch ein Sakko, womit der Bürgermeister freundlicherweise sofort aushelfen wollte. Leider vergebens, ich hätte zwei Stück davon gebraucht und bekam sein Sakko nicht einmal über den Arm. Aber was soll’s, die Stimmung war einfach toll.
Nach einem Spaziergang und dem Besuch meines ehemaligen Elternhauses, der Kirche und des Friedhofs sollte ich unbedingt noch einmal in das Gemeindehaus kommen, darauf bestand der Bürgermeister. Beim Betreten des Ratssaals erblickte ich viele Schüler und deren Lehrer. Am Ratstisch saßen schon viele „Offizielle“. Nur neben dem Bürgermeister war noch ein Platz frei. Extra für mich – damit hatte ich natürlich nicht gerechnet. Kaum da, nach 50 Jahren, und schon nahm ich an einer Sitzung der Gemeinde teil. Ich wurde würdevoll als deutscher Bürgermeister vorgestellt, der seine familiären Wurzeln in Schag hat. Ein sehr bewegender Moment!  
Beim anschließenden Rundgang im Ort war ich betroffen, als ich das Ehrenmal am Eingang zum Stadtpark sah. Auf dem imposanten Gedenkstein der gefallenen Soldaten des 2. Weltkriegs war auch mein Familienname Gaudier eingraviert. Mein Vorfahr trug sogar meinen Vornamen Michael. Diesen Namen fand ich später noch einmal auf dem Friedhof von Schag. Ein Grabstein trägt hier ebenfalls diese Inschrift mit meinem Namen. Der Friedhof und die Wegstrecke durch den Ort waren ordentlich herausgeputzt, das Gras war frisch gemäht worden. Welche Ehre!
Nach einem kurzen Besuch mit Kaffee und Kuchen bei meiner Tante setzten wir unsere Ortsbesichtigung weiter fort. Neubaugebiete und Gewerbegebiete prägen heute den Ort. Neubaugebiete entstehen kurzfristig, es muss Bedarf bestehen, und Gewerbeansiedlungen werden bei Nachfrage sofort ausgewiesen. Der Bürgermeister holt sich die Zustimmung im Rat und dann wird einfach gebaut. Junge Familien, die im Ort oder in der Nähe einen Arbeitsplatz haben, bekommen den Bauplatz für 20 Jahre gegen Zahlung einer geringen Pacht. Nach 20 Jahren beginnt dann die Tilgung. Ein zeitgemäßes, schlüsselfertiges Einfamilienhaus in guter Ausstattung nach europäischem Standard kostet ca. 120000 Euro. Gewerbegebiete zahlen ihre Abgaben und Steuern an den Ort. Kultur, Bildung und Sport werden so von der Gemeinde massiv unterstützt. Für mich also in dem Fall ein herber Tiefschlag beim Blick auf unsere Strukturen! 
Auch ich habe Kandel und seine Errungenschaften bei der Gelegenheit bestens herausgestellt. Beim Thema unseres Bienwaldstadions kam sofort ein Angebot:  Zur irgendwann bevorstehenden Einweihung will man die Fußballmannschaft von Șag (rumänische Schreibweise) nach Kandel schicken. Ein Freundschaftsspiel mit dem FC Bienwald sei, so der 1. Beigeordnete Toni Kapor, eine Selbstverständlichkeit.
Abschied von Freunden
Der Abend kam und somit der baldige Abschied. In großer Runde habe ich beide Familien zu einem Abendessen in einem Lokal in Busiasch eingeladen. Ich wollte mich einfach für die überwältigende Gastfreundschaft bedanken. Constantin, Toni und Evi sagten zu und wir verbrachten einen tollen Abend. Allerdings haben wir nicht mit der Reaktion meiner Tante und der von „Oma“ gerechnet: War uns ein Abendessen in einem Lokal wichtiger als „zu Hause“? Pizza gegen Hinkels-Paprikasch, Griewe und Mici?  Dieses Risiko hatte ich leider nicht berücksichtigt. Laut Evi, die mich danach mit Toni in Kandel besucht hat, hing der Haussegen über mehrere Tage extrem schief. Ich gelobe Besserung und entschuldige mich auf diesem Wege.
Zurück in Kandel hat sich meine Tour herumgesprochen. Von vielen Banater Landsleuten in Kandel habe ich großen Zuspruch erhalten und zudem neue Leute kennengelernt. Beim nächsten Banater Stammtisch in Hatzenbühl war ich eingeladen und durfte berichten. Bei ausgewähltem Banater Essen und Wein!
Dank an Michaela und Constantin. Auch an Edi, der mir bei der konstituierenden Stadtratssitzung herzlich gratuliert hat und der für mich als Banat-Repräsentant fungiert. Ich bedanke mich bei Euch „in schärfster Form“!
Freundschaften zwischen Völkern, Ländern und deren Menschen müssen gelebt werden und als gutes Beispiel für ein geeintes Europa, eine friedliche Welt dienen. Die aktuelle geo-politische Lage bereitet große Sorgen, erhält auch durch meine geschilderten Erlebnisse große Bedeutung. Wir müssen uns auf unsere Errungenschaften von Frieden, Freiheit, Gleichheit und damit auf unsere Demokratie besinnen und diese bewusst leben und friedlich verteidigen.