35 Jahren sind vergangen, seitdem am 11. März 1990 vom Balkon der Temeswarer Oper die Proklamation von Temeswar („Proclamația de la Timișoara“) öffentlich gemacht wurde. Vor 15000 versammelten Menschen verlas der Journalist und Schriftsteller (später auch Politiker) George Șerban die insgesamt 13 Absätze des Textes. Es ist bis heute ein grundlegendes Dokument, das den Einsatz der rumänischen Gesellschaft für Demokratie und gegen die Unterwanderung durch altkommunistische Kader markiert.
Die Ideen der Proklamation sind heute aktueller denn je, und das nicht nur in Temeswar. In der derzeitigen politischen Stimmung, in der Demokratien immer anfälliger werden, ist es umso wichtiger, das bürgerliche Gewissen als Abwehr gegen autokratische Tendenzen zu stärken, äußerte der langjährige Vorsitzende der Gesellschaft „Timișoara“, die das Erbe des Initiators und den Geist der Proklamation bewahrt.
Antikommunistische Revolution
Die Proklamation entstand vor allem aus der Erkenntnis heraus, dass die Temeswarer Revolution durch einen „getarnten Staatsstreich“ vereinnahmt worden war. Sie mahnte insbesondere die dezidiert antikommunistische Stoßrichtung des Volksaufstands vom Dezember 1989 an. Absatz 8 der Proklamation forderte ein Gesetz, das allen ehemaligen Aktivisten und Geheimdienstmitarbeitern das Recht absprechen sollte, in den nächsten drei Amtszeiten für ein Staatsamt zu kandidieren. „Der Präsident Rumäniens muss eines der Symbole unserer Trennung vom Kommunismus sein“, hieß es dort. Nicht zuletzt richtete sich diese Forderung gegen den Altkommunisten Ion Iliescu, der sich im Zuge der Revolution im Dezember 1989 an die Spitze des Rates der Front zur Nationalen Rettung (FSN) gesetzt hatte und nach dem Sturz des langjährigen Herrschers Nicolae Ceaușescu die Regierungsgewalt übernahm. „Die Temeswarer Revolution war von den ersten Stunden an nicht nur gegen Ceaușescu gerichtet, sondern auch kategorisch antikommunistisch“, führten sie ins Feld. Der Text der Proklamation hält explizit fest, dass an allen Tagen der Revolution nicht nur „Nieder mit Ceaușescu“, sondern auch „Nieder mit dem Kommunismus“ skandiert wurde. „Das Volk von Temeswar war der Initiator der rumänischen Revolution. Zwischen dem 16. und 20. Dezember 1989 führte es im Alleingang einen erbitterten Kampf gegen eines der mächtigsten und abscheulichsten Unterdrückungssysteme der Welt. Es war ein schrecklicher Kampf, dessen wahre Ausmaße wir, das Volk von Temeswar, kennen. Auf der einen Seite die unbewaffnete Bevölkerung, auf der anderen Seite die Securitate, die Miliz, die Armee und die eifrigen Truppen der Parteiaktivisten. Doch alle Methoden und Mittel der Unterdrückung erwiesen sich als machtlos gegenüber dem Freiheitswillen und dem Siegeswillen der Temeswarer Bevölkerung. Keine Verhaftungen, keine Schikanen, nicht einmal Massenmord konnte sie aufhalten,“ heißt es in der Proklamation. Der Text wurde von insgesamt 189510 Unterstützern unterzeichnet, doch der Absatz 8 wirkte sich nicht wesentlich auf die rumänische Politik nach der Wende aus. Am 20. Mai 1990 fanden die ersten freien Wahlen im postkommunistischen Rumänien statt, bei denen die FSN die Macht übernahm und Ion Iliescu mit 85 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt wurde.
Im Rückblick stellt sich auch die Frage, was passiert wäre, wenn der Absatz 8 damals doch umgesetzt worden wäre? Wäre die Geschichte anders verlaufen? Florian Mihalcea ist davon überzeugt: „Nicht nur dieser Absatz, auch die Umsetzung anderer Forderungen in diese Richtung hätten zu einer anderen politischen Lage in Rumänien geführt“. Den engagierten jungen Menschen sei es damals, 1990, leider nicht gelungen, einen Bruch in der gesellschaftlichen Entwicklung zu erzwingen: „Die Strukturen, die vom kommunistischen Regime und der Securitate über so viele Jahrzehnte aufgebaut wurden, sind geblieben.“ Das Verbot der Kandidatur für Kommunisten hätte dazu geführt, dass sich nach 10 Jahren alles normalisiert. „Diese Pause hätte es der Gesellschaft ermöglicht, sich zu reinigen und zu regenerieren“.
Für den Erhalt der Demokratie
Wie liest sich die Proklamation von Temeswar heute? Unter dieser Fragestellung haben in Temeswar anlässlich des 35. Jubiläums die Gesellschaft „Timișoara“ zusammen mit der Temeswarer Stadtverwaltung über das Kulturhaus von Temeswar und den Verein „Visit Timișoara“ eine Reihe von Veranstaltungen organisiert, die an die Proklamation erinnerten und die Diskussion über den Wert der Demokratie in den Fokus stellten. So wurde eine Straßenbahn vom Künstler Dan Perjovschi thematisch beschriftet. Eine Ausstellung in der Gedenkstätte der Revolution zeigte Fotos von Liviu Tulbure, die in den ersten Monaten nach der Revolution aufgenommen wurden und die Auswirkungen der Proklamation auf die Menschen in Temeswar illustrieren. In der Stadtkommandatur auf dem Freiheitsplatz war eine Ausstellung über die Revolution von 1989 zu sehen, die vom plastischen Künstler Adrian Florin Pop auf der Grundlage der Fotografien des Revolutionärs Cătălin Regea realisiert wurde. Ergänzt wurde sie durch Texte von Persönlichkeiten, die über die Proklamation reflektiert haben, darunter König Mihai I. von Rumänien, Vladimir Tismăneanu und Ana Blandiana. Auch die Zentrale Universitätsbibliothek (BCUT) beteiligte sich mit einer Ausstellung von Büchern und Presseerzeugnissen zur Proklamation. Desgleichen wurde an der Seitenfassade der Stadtkommandantur in der Alba-Iulia-Straße ein großflächiges Netz mit den Unterschriften der 189510 Unterstützer der Proklamation von 1990 angebracht. Außerdem markierte eine mehrsprachige Tafel (rumänisch, ungarisch, deutsch, serbisch und englisch) am Gebäude der Nationaloper den Ort, wo die Proklamation von Temeswar am 11. März 1990 zum ersten Mal öffentlich verlesen wurde.
Die Botschaft der Proklamation
Florian Mihalcea ist der Überzeugung, dass die 35 Jahre seit der antikommunistischen Revolution und seit der Proklamation von Temeswar einen „Abriss zwischen Generationen“ darstellten. „Die jungen Menschen von heute können kaum noch Unterschiede zwischen Kommunismus, Demokratie und Nationalismus finden und das Thema Revolution bleibt eine große Unbekannte“, stellt er fest. Er erinnere sich an seine Studentenzeit, als 1980 genau 35 Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen waren. „Für mich und meine Generation lag der Krieg irgendwo in der weiten Geschichte. Genauso sehen es heute die jungen Menschen.“ Während aber zum Zweiten Weltkrieg viele Fakten bekannt seien, gäbe es kaum gesicherte Informationen zu den Ereignissen von 1989 in Rumänien.
Um dem Wissensdefizit zu begegnen, hat die Gesellschaft „Timișoara“ zum 35. Jahrestag den französischen Historiker Thierry Wolton eingeladen, einen Vortrag über die Auswirkungen der kommunistischen Regime in Europa zu halten. Im Anschluss gab es eine Podiumsdiskussion zum Thema „Wie liest man heute die Proklamation von Temeswar?“ Im Rückblick findet Mihalcea die Botschaft der Proklamation nach wie vor „äußerst aktuell“, auch wenn einige Punkte aus heutiger Sicht naiv erscheinen mögen. Das Bekenntnis zur Demokratie und zum gemeinsamen Haus Europa sei schon damals zentral gewesen und heute noch so aktuell wie damals.
Im Anschluss an die Diskussion wurden die Preise der Gesellschaft „Timișoara“ verliehen: Der „Speranța”-Preis („Hoffnung“) ging an den polnischen Premierminister Donald Tusk, den ehemaligen Präsidenten des Europäischen Rates. „Er ist unserer Meinung nach der Mann der Stunde. Er ist auch für uns, für die Rumänen, eine Hoffnung, denn er ist auf dem Weg, die Verteidigung der Ostflanke unter allen Umständen zu gewährleisten“, sagte der Vorsitzende der Gesellschaft bei der Preisverleihung. Der „Alexandra Indrieș“-Preis wurde an den Journalisten, Schriftsteller und Menschenrechtsaktivisten Valeriu Nicolae verliehen. Den „Oscar Berger“-Preis erhielten die Journalisten Florin Negruțiu und Ioana Ene Dogioiu. Der Preis „Punkt 12 der Temeswarer Proklamation“ ging an den Organisten und Musikwissenschaftler Franz Metz. (siehe S. 12). Der Preis „Ion Monoran“ wurde Vasile Bănescu, dem ehemaligen Sprecher des rumänischen Patriarchats, und Petru Ilieșu, dem Gründer der Stiftung „Timișoara 1989“, einem der wenigen antikommunistischen Dissidenten in Temeswar, verliehen. Der „Hammer und Sichel“-Preis ging an den PNL-Europaabgeordneten Rareș Bogdan für seine „besonderen Bemühungen um die Erhaltung und Unterstützung des (neo)kommunistischen Systems und der Strukturen in Rumänien“. Er erhielt ihn für den „Schaden, den er an der Spitze der PNL angerichtet hat“, er habe „die Wähler verunsichert und zu einem Bündnis beigetragen, das für Rumänien äußerst schädlich ist. Und nicht zuletzt hat er fleißig Stimmen für Călin Georgescu gesammelt“, fügte Florian Mihalcea hinzu.
Nach 35 Jahren ist die Proklamation von Temeswar kein Fall für die Mottenkiste. Mihalcea sieht vieles darin, was man „in einer neuen Lesart des Jahres 2025 verstehen kann“. Angesichts der Herausforderungen unserer Zeit müsse immer wieder an die Ziele der Proklamation erinnert werden.