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Auftrag: Wir müssen erinnern

Rückkehr-Dokument von Anna Jauch (1947). Fotos: Archiv Luzian Geier

Der aus dem Sathmar-Gebiet stammende Helmut Berner stellte seinem Buch zur Deportation aus dieser Region in die damalige Sowjetunion –eine gute Zusammenarbeit mit dem Banater Historiker Doru Radosav (Partos 1950) unter dem Titel „und keiner weiß warum“ (1996, 288 Seiten) – ein vom Deportierten Peter Altbach geschriebenes Fürbitt-Gebet voran: „Wir wollen bitten, Allmächtiger, / bewahre unsere Kinder / und alle Völker / vor dem gleichen Schicksal, / versöhne alle Völker und / lasse Frieden in der Welt sein.“

Der Vorstellung des Buches von Dr. Ilie Schipor ist Dank an den Autor vorauszuschicken, ebenso gilt Dank den Übersetzerinnen Roxana Stănescu und Hannelore Baier (Lektorat, sie hatte bereits 2020 Hauptteile übersetzt und in der ADZ veröffentlicht) wie der Leitung des Landesforums der Deutschen in Rumänien und dem Honterus-Verlag in Hermannstadt. Dr. Schipor ist Militärhistoriker, geboren am 18. Juli 1952 in Ober-Wikow (Vicovul de Sus) in der Südbukowina. Er war Stabsoffizier und Diplomat, als solcher zehn Jahre in Moskau als Ministerialrat an der Botschaft Rumäniens (2009-2019). In seinem Buch, das er „dem Gedenken“ all jener widmete, „die 1945-1956 den Leidensweg der Deportationen und Verhaftungen erdulden mussten“ (Seite 8), kündigte der Forscher ein weiteres Buch an, das auf den Recherchen in Moskauer Archiven fußt: „Der Leidensweg der rumänischen Zivilinternierten in der ehemaligen UdSSR“, wobei es um alle damaligen rumänischen Staatsbürger geht, unabhängig ihrer ethnischen Zugehörigkeit.

Dr. Ilie Schipor hat gemacht, was bisher keiner so gründlich und vielseitig erforscht hat in Moskauer Archiven – auch in denen des sowjetischen Geheimdienstes, im Militär- und im Militärhistorischen Archiv. Das sind Dokumentensammlungen, die bis dahin für Ausländer nicht offen waren und zu denen er jetzt sehr wahrscheinlich keinen Zugang mehr hätte. Der Forscher hat tausende Dokumente ausfindig gemacht, die relevant sind für die Deportationspolitik der damaligen Sowjetunion (eine interne Praxis seit 1920) und erstrangig für die Klärung der Gesetzeslage über die Behandlung der Kriegsgefangenen sowie der „Internierten“ (Volksdeutsche Zwangsarbeiter), wobei es nicht nur um Deutsche ging und nicht nur um ethnisch deutsche Staatsbürger aus Rumänien, sondern um Volksdeutsche aus allen Nachbarländern Rumäniens, von Bulgarien, Jugoslawien und Ungarn, bis hin in die entfernteren Tschechoslowakei und Polen.

Die sogenannten Volksdeutschen waren schon lange vor der Deportation und dem Vormarsch der Roten Armee durch die genannten Länder im sowjetischen Augenmerk. Schipor bringt dazu als Belege – er und die Übersetzerinnen bezeichnen die Akten als „Argumente“ – die Planungsdokumente ab 1943, also lange vor der Stalin-Order Nr. 7161 vom 16. November 1944, auf die schon der österreichische Kriegsfolgen-Forscher Prof. Dr. Stefan Karner vom Grazer Boltzmann-Institut in seinem wichtigen, von der Fachliteratur zum Thema wenig beachteten Buch „Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941-1956“ (Oldenburg Verlag, 1995) hingewiesen hatte. Zu den weniger bekannten Akten aus der Zeit kurz vor den Aushebungen, ausgefolgt von rumänischen Regierungsstellen, brachte der Historiker aus dem Moskauer Russischen Staatlichen Militärarchiv u. a. ein für die Banatdeutschen aufschlussreiches Dokument mit, das von der Direktion für Sicherheit und öffentliche Ordnung der Generalinspektion der Gendarmerie dem Innenministerium Rumäniens und den Sowjets bzw. der sowjetischen Kontrollkommission in Bukarest vorgelegt wurde, unter dem Titel: „Dossier mit Vorschlägen für Operationen, die auf dem Gebiet des Banats und in den Kreisen Arad und Hunedoara zur Beseitigung von Spionage und zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Hinterland der kämpfenden Armee durchgeführt werden sollen“ (registriert in Moskau am 17. Dezember 1944). Im Kern wird da festgelegt, welche Volksdeutschen in Westrumänien verhaftet und interniert werden sollten. Es handelte sich praktisch um den Großteil der erwachsenen deutschen Bevölkerung. Zudem sollte „Die gesamte Bevölkerung ethnisch deutscher Abstammung vor Ort festgesetzt“ werden. Weiter, dass von Deutschen geführte Geschäfte oder Unternehmen in Zukunft nur von Rumänen rumänischer Staatsbürgerschaft geführt werden dürfen und dass „allen rumänischen Staatsbürgern deutscher Volkszugehörigkeit alle bei ihnen vorhandenen Radios und Telefonapparate beschlagnahmt werden sollen“. Die mitgelieferte Analyse zur deutschen Gemeinschaft in den fünf westlichen Regionen umfasst auch eine zahlenmäßige Auflistung der Amtsträger der Deutschen Volksgruppe, die interniert werden sollten.

Die sowjetischen Belege

Der Historiker stellt die Deportationen in den europäischen und historischen Gesamtkontext, legt aber den Schwerpunkt gewollt und gezielt auf die Bezüge zu Rumänen und die Internierung von Deutschen aus Rumänien. Der militärische Hauptstab zur Vorbereitung und Durchführung der Deportationen aus den fünf erwähnten Ländern war in Bukarest eingerichtet, das auch, weil die meisten erfassten Volksdeutschen in Rumänien lebten. Sein Buch bringt Klärung zu den früher publizierten Zahlen, da in Veröffentlichungen in Deutschland von bis zu 100000 Rumäniendeutschen ausgegangen wurde. Er belegt, dass von den tatsächlich Inhaftierten bzw. auf den vorgefertigten Listen aus Rumänien (80000 Namen) zuletzt 67341 Personen für die Aufbauarbeit erfasst, aber effektiv 68001 in Arbeitslagern interniert wurden, der Zahlenunterschied entstand infolge der entlassenen rumäniendeutschen Militärangehörigen aus den rumänischen Heeresverbänden. Zuletzt waren es 69332 bis zum 3. Februar 1945 (Anhang Nr. 13 bei Schipor).

Diese Dokumentation zeigt auf, dass aus dem Banater Raum die meisten Deutschen verschleppt wurden, nämlich 46418 Personen, weit mehr als die Hälfte der aus Rumänien Internierten. Etwas überraschend ist das Zahlenverhältnis Männer-Frauen, nachdem laut Heimatbüchern mehr Frauen verschleppt wurden als Männer, insgesamt waren es aus Rumänien jedoch 35381 Männer und 32820 Frauen und Mädchen. Das lässt sich damit erklären, dass die Altersspanne bei den Männern eine größere war und oft auch 16-Jährige mitgenommen wurden. (wie ursprünglich geplant und in der amtlichen Veröffentlichung aus der Bukarester Zeitung „Scînteia“ vom Januar 1945 ersichtlich). Ungenau waren bisher desgleichen die Gesamtzahlen der deportierten Volksdeutschen aus dem damaligen Jugoslawien, die Schipor (Dokument vom 31. Januar 1945) mit 10935 beziffern konnte, davon 7243 Frauen und 3692 Männer. Aus dem damals noch Frontgebiet Ungarn wurden in 19 Güterzügen 26704 Volksdeutsche abtransportiert (in ungarischen Quellen werden viel höhere Zahlen angeführt), aus Bulgarien waren es 75, anderen Quellen gaben bis zu 500 an, aus der Tschechoslowakei konnten aus dem kleinen „befreiten“ Teil 215 Volksdeutsche deportiert werden.

Wenn auch in der Ankündigung zur Gedenkveranstaltung in Ulm vom 18. Januar 2025 von rund 90000 verschleppten Donauschwaben geschrieben wird, so lag die Zahl der „bis zum 31. Januar zum Arbeitseinsatz in die Sowjetunion entsandten Zivilisten deutscher Volkszugehörigkeit aus Südosteuropa“ laut dem streng geheimen Bericht vom 31. Januar 1945 des zuständigen Leiters der Aktion, NKWD-Oberst Pawel Rodionowitsch Efremow, genau bei 105930. Die Zahlen allein belegen nur einen Aspekt, es ist jedoch ein wesentlicher Unterschied von über 10000 Betroffenen mehr (Schipor, S. 111 und Kopie des russischen Originals im Anhang). Die Statistik vom 3. Februar 1945 belegt dann sogar 112480 Deportierte (Dokument Anhang 13, S. 120).

Was der Militärhistoriker in seinem Buch erstmals veröffentlicht, sind u. a. eine Liste der Bahnhöfe, in denen die Inhaftierten ausgeladen wurden, ein Verzeichnis der Namen und Orte der wichtigsten Arbeitsbataillone, in die diese eingegliedert wurden, eine Liste ehemaliger Friedhöfe bzw. Begräbnisstellen im ganzen großen Raum der Sowjetunion, in denen Deportierte beerdigt oder verscharrt wurden. Vielleicht wollen Nachfahren das wissen! Ergänzt werden in dem Buch die Listen der Arbeitslager, erstmals bringt die Dokumentation, auf Arbeitslager getrennt, Listen-Beispiele mit Sterbefällen, mit Namen, Geburtsjahr, meist auch Wohnort und Sterbejahr dazu. Erschütternd die Zahl der mit aufgenommenen in den Lagern geborenen und verstorbenen Kinder, die in den Heimatbüchern und Ortschroniken verständlicherweise meist fehlen.

Status der Deportierten

Bei früheren Treffen und Tagungen im Zusammenhang mit den Deportationen von Rumäniendeutschen nach der politischen Wende in Rumänien war ein strittiger bzw. ungeklärter Aspekt der Status, den die Verschleppten in der Sowjetunion hatten – Internierte oder Kriegsgefangene. Eine klare Antwort gab bereits Prof. Karner, der in den 90er Jahren mit seinem Team in Moskauer Archiven geforscht hat. Schipor zeigt auf, weshalb die Deportierten den Internierten-Status hatten, durch den sie schlechter gestellt bzw. versorgt wurden als die Kriegsgefangen. Das hatte mit der Zuständigkeit der höchsten Unionsbehörden zu tun, z.B. Kohlebergbauministerium und Stahl/Hüttenindustrie.

Weitere kontradiktorische Debatten gab es – vor allem auch seitens der Betroffenen – über die Rolle bzw. den Beitrag der damaligen rumänischen Regierung und der Landesbehörden (Polizei, Militär) bei der geheimen Vorbereitung und Durchführung der Zwangsverschleppung. Auch dazu bringt Dr. Schipor die klärenden Dokumente von sowjetischer und rumänischer Seite auf höchster Ebene. In der Durchführung auf lokaler Ebene verlief die Aktion jedoch sehr unterschiedlich, hier haben örtliche Vertreter mit entschieden. Aus den Verordnungen und sowjetischen Befehlen zum Verfahrensablauf der Deportation geht beispielsweise hervor, dass in den Dörfern die zu internierenden Deutschen „von rumänischen Gendarmen und Soldaten“ ausgehoben werden sollen unter der Kontrolle sowjetischer Einsatzkräfte. Je ein separates Kapitel widmet der Forscher der Haltung der rumänischen Regierung zur Deportation bzw. den Versuchen von rumänischer Seite, Inhaftierte vor der Deportation zu befreien oder aus der Verschleppung zu entlassen. Die Erfolge waren minimal.

Offen lässt Schipor die auch von mir wiederholt aufgeworfene Frage, wie es dazu kam, dass die von den Sowjets verlangten ungarischen Staatsbürger Rumäniens dann doch nicht deportiert wurden, obwohl Listen anscheinend angelegt worden waren.

Ursprünglich hatten die Sowjets Listen mit allen Volksdeutschen von 16 bis 50 Jahren angefordert. Das waren in den erwähnten Ländern Mitte Dezember 1944 über eine halbe Million Volksdeutsche, im Dokument für Stalin genau 551049 Deutsche. Die absolute Mehrheit davon war in Rumänien: 421846, in Jugoslawien 73572, in Ungarn 50292 arbeitsfähige zwischen 17 und 45 Jahren. Zu der halben Million erfassten Personen zählten als kleiner Anteil auch „Reichsdeutsche“, in Rumänien immerhin fast 8000, die bereits in 15 Lagern im Inneren des Landes interniert waren, in Jugoslawien sollen es 16804 gewesen sein, alle auch bereits in Lagern festgehalten.

Erfassung der Opfer

Ausführlich behandelt der Autor anhand der Archivunterlagen die Themen „Repatriierung von Deportierten“, aufgeschlüsselt auf die Jahre 1945 - 1949, und die Sterberaten. Die Zahlen diesbezüglich sind keine endgültigen, weil die Toten während der Transporte und unmittelbar danach nicht erfasst sind. Schipor schlussfolgert, dass mehr als 15000 aus Rumänien stammende Zivilisten in der Deportation verstorben sind. Untersucht hat er dazu die Ursachen der hohen Sterblichkeit. Erstmals erwähnt wird von ihm die Existenz von „Kindereinheiten“ (Bataillone), er nennt namentlich eine 13-jährige Elisa Stadler aus Radautz (Bukowina), die mit der Familie deportiert worden war und erst 1955 entlassen wurde infolge eines Urteils wegen angeblicher Unterschlagung.

Wenn in bisherigen Veröffentlichungen unterschiedliche Namen von direkt oder aus dem Hintergrund agierenden Initiatoren und Ausführenden der Deportation genannt wurden, bringt der Forscher auch diesbezüglich endgültige Aufklärung und listet die Namen der neun Generäle und Obersten auf, die direkt an den Vorbereitungen und der erfolgreichen Durchführung beteiligt waren, und die dafür von Stalin mit höchsten Orden belohnt wurden.

Ein Sonderkapitel widmet der Historiker den Themen „Verurteilte, Geflüchtete und Tote“, also Deportierte mit besonderen Schicksalen. Er führt einige Fallbeispiele an, darunter mehrere Banater Frauen und Männer mit hohen, langjährigen schweren Strafen in „Arbeitserziehungslagern“. Ein Lugoscher schlug den Brigadier tot, eine Frau aus Billed wurde wegen Sabotage nach Workuta gebracht, 1953 ist dort ihr Sohn Valentin geboren. Der Eichenthaler Lorenz Schneider, Jahrgang 1927, war ausgebrochen aus dem Lager, zudem angeklagt wegen angeblichem Diebstahl unter Gewaltandrohung, er wurde 1947 zu 20 Jahren Kerker verurteilt, 1953 begnadigt. Er wohnte zuletzt im Augsburger Univiertel.

Abgeschlossen wird das Buch mit einem umfangreichen Dokumentenanhang in deutscher Übersetzung und Kopien der russischen Originale sowie mit Fotos und einer deutsch-rumänischen Liste mit Ortsnamen in Rumänien. Bei dieser Gelegenheit und in Verbindung mit den vielen Gedenkveranstaltungen in Deutschland, Rumänien und Ungarn sei darauf verwiesen, dass es in Ungarn jeweils am 19. Januar einen offiziellen Deportations-Gedenktag gibt, in Polen wird alljährlich im September mit einem offiziellen „Sibirien“-Tag der Zwangsverschleppungen gedacht. In der deutschen Gedenkkultur haben diese Ereignisse ihren Platz noch nicht bekommen.                         
           

Schipor, Ilie: Die Deportation von Rumäniendeutschen in die UdSSR. Argumente aus russischen Archiven. Honterus Verlag Hermannstadt 2023, 230 Seiten, deutsche Fassung: Ruxandra Stănescu, ISBN 978-606-008-144-9