Als Maria Roth im Januar 1945 zur Zwangsarbeit nach Russland verschleppt wurde, war sie 16 Jahre alt. Eigentlich war sie aufgrund ihres Alters noch gar nicht auf der Liste der zu deportierenden Deutschen. Aber weil einige Personen nicht auffindbar waren, wurden die Güterwaggons eben mit jüngeren oder älteren Menschen gefüllt. Maria Roth wurde am 24. Mai 1928 in Temeswar geboren. Ihre Eltern stammen aus Bakowa. Sie wollten eigentlich nach Amerika auswandern, verkauften Haus und Weingarten in Bakowa. Aber dann nahmen die USA keine Einwanderer mehr auf. So zogen die Eltern nach Hodon, um eine neue Existenz zu gründen. Im Januar 1945 wurde Maria Roth mit ihrer Mutter ins Gemeindehaus gerufen und für den Abtransport nach Russland gleich festgehalten. Ihre Brüder waren im Krieg, beide sind gefallen. In Stalino, Lager 1021, schuftete sie in der Grube, bis zur Heimkehr im November 1949. Es waren tiefe Kerben in ihrem damals noch jungen Leben. Nach ihrer Heimkehr heiratete die Johann Flickinger aus Perjamosch und gründete mit ihrem Mann eine Familie.
Achtzig Jahre danach, am 12. Januar 2025, einem kalten Sonntagvormittag, steht Maria Flickinger als einzige ehemalige Deportierte mit ihrer Tochter am Denkmal für die Opfer von Flucht und Vertreibung in Waldkraiburg. Sie hört die Blaskapelle besinnliche Weisen spielen, sie sieht den Kranz mit den frischen Blumen für die Opfer, sie vernimmt die Gebete, das Erinnern an das Leid der verschleppten Zwangsarbeiter, die Apelle, dass sich so etwas nicht mehr wiederholen dürfe. Maria Flickinger ist in sich gekehrt, das Vergangene scheint näher zu sein als das öffentliche Erinnern und Mahnen.
Dass dies trotzdem nötig ist, heutemehr denn je, sagen alle Redner. Dass es öffentlich, im Zentrum der Stadt, am Rathausplatz stattfindet, ist ein Bedürfnis des Veranstalters, des Kreisverbandes Waldkraiburg unserer Landsmannschaft. Kreisvorsitzender Georg Ledig und sein gesamter Vorstand haben den Termin jedes Jahr auf der Agenda, er lädt Zeitung und das lokale Fernsehen ein, die befreundeten Vereine, Bürgermeister und Stadtrat, Bezirksrat, Landrat, Landes- und Bundestagsabgeordneten – und sie kommen auch.
Die historischen Fakten referierte Kreisvorsitzender Georg Ledig. Bürgermeister Robert Pötzsch verurteilte die Verbrechen von damals entschieden. Er kommt in seiner Stadt herum, er hat schon einige persönliche Geschichten über die Deportation gehört und gelesen und er mahnt, dass diese Geschichten nicht „Geschichte“, also vergessen werden dürfen. Landrat Max Heimerl unterstrich, dass die traumatischen Erfahrungen der Deportierten den Nachkommen eine identitätsstiftende Kraft gegeben hätten. Parallelen zur politischen Situation heute zog der CSU-Bundestagsabgeordnete Stephan Mayer. Er appellierte an die Verantwortung der politischen Akteure in Ost und West, findet doch im ehemaligen Deportationsgebiet ein furchtbarer Krieg statt. Den Verantwortlichen in Waldkraiburg und den Mitgliedern der Landsmannschaft dankte er für ihr beständiges Erinnern an Unrecht und Leid. Bundesvorsitzender Peter-Dietmar Leber erinnerte an die langsame Annahme dieses Teils unserer Geschichte, setzte doch in Deutschland erst 1995, also 50 Jahre nach der Deportation, eine intensive Auseinandersetzung mit diesem Leid ein. Seit dann aber ununterbrochen, mittlerweile auch von der Generation der Kinder und Enkel. Als Vermächtnis hätten uns diese Opfer von politischer Willkür, von Krieg und Gewalt mitgegeben, unsere Stimme zu erheben, wenn Menschenrechte und Grundwerte bedroht sind, zusammenzustehen, einer für den anderen da zu sein, Solidarität zu üben, wie damals die Großfamilien, in deren Obhut die zurückgebliebenen Kinder blieben und trotz schwerer Prüfungen im Glauben Kraft und Vertrauen zu finden.
Das Gedenken beschloss Pater Walter Kirchmann vom Orden der Salesianer Don Bosco mit einem Gebet. Die Banater Blaskapelle Waldkraiburg unter der Leitung von Stefan Munding spielte das Lied vom guten Kameraden, die Fahnen der Siebenbürger Sachsen, der Banater Schwaben, der Sudetendeutschen, der Egerländer Gmoi und des Deutschen Böhmerwaldbundes senkten sich. Auch dies ein sichtbares Zeichen des Zusammenhalts der Landsmannschaften in der einstigen Vertriebenenstadt.
Die Kälte treibt die 60 Versammelten schnell auseinander. Den Dialog zweier Landsleute am Rande will ich doch wiedergeben: „Wenn alle gekommen wären, die die Russlandentschädigung von Rumänien erhalten, wären wir heute mehrere gewesen.“
Das soll aber nicht das letzte Wort sein. „Ich bin immer mit einem Gebet in den Schacht gefahren“, sagte Maria Flickinger später. Und ihre Gebete verrichtet sie auch heute noch. Sie ist überzeugt, dass ihr das geholfen habe, damals und heute.