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Eine Reise in den Donbass: Wiederbegegnung nach 30 Jahren

Grubenarbeitersiedlung bei Donezk, ehemals Stalino mit stillgelegtem Schacht, Förderturm und Schutthalden. Das Foto entstand 1994. Foto: Siegrun Jäger

Seit Ausbruch des Ukraine-Krieges ist die Region Donezk immer wieder in den Schlagzeilen. Wenn ich die Bilder von zerstörten Dörfern und Städten sehe, denke ich, ob von dem noch etwas übrig ist, was wir bei unserer Reise 1994 besichtigt hatten.
Nach Ausstrahlung des Films „Donbass Sklaven“ 1992 richteten ehemalige Deportierte an den Regisseur Günter Czernetzky die Frage, ob es möglich sei, die ehemaligen Orte der Deportation zu besuchen. Daraufhin organisierte er 1994 zusammen mit Johann Gehann und dem ukrainischen Reiseleiter Fjodor Juschin eine Reise in die Ukraine. Weitere sollten in den nächsten Jahren noch folgen. Ich begleitete die Reisegruppe, die aus 15 Siebenbürgern Sachsen und drei Banater Schwaben bestand. Eine anstrengende Busreise stand uns bevor. Am vierten Tag erreichten wir Konstantinowka, dort teilte sich die Gruppe auf: Diejenigen, die Konstantinowka, Tschassow Jar und Dimitrowka besuchen wollten, blieben, der Rest fuhr mit einem Kleinbus weiter nach Donezk. Ich begleitete letztere, da meine beiden Großmütter in Donezk/Stalino und in Makejewka waren. Von Donezk aus wurden die Stätten der ehemaligen Lager Stalino, Tschulkowka, Steklowka, Trudowkaja und die etwas weiter gelegenen Rovenki und Nikanor/Sorbinsk besucht.
Als wir durch Donezk fuhren, kamen bei den ehemaligen Deportierten die ersten Erinnerungen hoch. Da war ein Gebäude, das mir Josef Schwarz aus Segenthau zeigte und mir erzählte, dass an dessen Bau die Deportierten mitgearbeitet hätten und in dem er sein Akkordeon gekauft habe. Ich begleitete ihn nach Tschulkowka und er konnte sich sofort orientieren, als wären nicht 45 Jahre vergangen. Er entdeckte das Gebäude des ehemaligen Krankenhauses. Selbst Teile der Gebäude des ehemaligen Lagers 1054 standen noch. Dort, wo sie damals die Schlafräume gebaut hatten, befanden sich eine Schule und eine Kantine. Detailgenau erinnerte er sich, wo sich früher der Eingang befand und stellte fest, dass dieser nun zugemauert war und dass größere Fenster eingesetzt worden sind. Er zeigte mir das Fenster, hinter dem sich sein früherer Schlafraum befunden hatte. Innen war allerdings alles umgebaut, bemerkte er. Der Schacht der Kohlengrube war zwischenzeitlich stillgelegt. Lediglich der verrostete Förderturm und Schutthalden ließen erkennen, dass hier irgendwann eine Kohlengrube war. Wie viele Jahre seither vergangen waren, wurde ihm bewusst, als er versuchte, Menschen zu finden, mit denen er gearbeitet hatte. Die Männer, an deren Namen er sich erinnerte – erfuhr er – seien schon längst gestorben. Aber er fand heraus, dass seine erste Meisterin im Bergbau und danach Vorarbeiterin seiner späteren Frau, Sinna Kapustina, noch lebte, also machten wir uns auf den Weg, sie zu suchen.
Was danach geschah, werde ich nie im Leben vergessen und es bewegt mich selbst jetzt, während ich das schreibe: Wir mussten gegen Abend wiederkommen, da sie trotz ihrer 72 Jahre noch arbeitete, um ihre karge Rente aufzubessern. Sie saß am Fenster und als er sie sah, sagte er zu mir: „Des is die Sinna Kapustina, ich kenn se wider.“ Sie war erstaunt, als ihr unser Dolmetscher erklärte, wer wir seien, hatte sie doch nicht mal im Traum an einen solchen Besuch gedacht. An ihn konnte sie sich zwar nicht erinnern, aber als er sagte, er hätte nach der Heimkehr die Nani geheiratet, erinnerte sie sich an sie und ihre Schwester Midi. Ihre erste Frage war, ob Midi ihre beiden Kinder wiedergefunden hat, als sie heimkam. Dann fiel den beiden ein, wie sie seiner späteren Frau und Schwägerin Wolle brachte und diese Socken und andere warme Sachen für sie strickten. Nach und nach begann auch er russisch zu sprechen, erstaunlich nach so vielen Jahren, in denen er es sicherlich nicht mehr gesprochen hatte. Als wir uns verabschiedeten, mussten wir versprechen, am nächsten Tag wieder zu kommen. Das tat er, und sie begleitete ihn zum ehemaligen Lager, zum Schacht und zu dem Ort neben dem russischen Friedhof am Waldesrand, wo die Zwangsarbeiter beerdigt worden waren. Er lag brach, mit Gras überwuchert und nur, wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass da irgendwann Grabhügel waren. Gemeinsam erinnerten sie sich an vieles und sie fragte nach anderen Frauen, zu denen er ihr keine Auskunft geben konnte. Er versprach aber, sich zu erkundigen. Beim Abschied sagte er mir, sie hätten sich noch so viel zu erzählen nach all den Jahren.
Der zweite Teil dieser Geschichte ereignete sich in Deutschland. In der Ausgabe Nr. 15 vom 5. August 1994 erschien ein Bericht von der Reise und seiner Begegnung mit Sinna. Daraufhin meldeten sich bei ihm ehemalige Lagerinsassen, die sich an Sinna erinnerten, und sie legten zusammen und luden sie nach Deutschland ein. Sie kam mit einer ihrer Enkelinnen und wurde von vielen herzlich aufgenommen. Es war ihre weiteste und einzige Reise ins Ausland, an die sie sich sicherlich bis zu ihrem Lebensende erinnerte. Und sie wurde nicht vergessen: Solange sie lebte, bekam sie kleine Geldzuwendungen, die ihr in der Ukraine eine große Unterstützung waren.
Was mag wohl aus ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln geworden sein?