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Leb wohl, „Ducki“, du wirst uns fehlen! - Zur Erinnerung an Helmut Duckadam

Helmut Duckadam bei der Präsentation des Buches „Der Tormann“ 2022 in Bukarest Foto: Milan Radin

Eines Tagen vor etwa zehn Jahren bin ich ihm begegnet. Der lebenden Legende. Dem Landesmeister. Dem Europameister. Dem ersten Rumänen, der es ins Guiness-Buch geschafft hat. Dem Fußballer des Jahres 1986. Nominiert zum „Ballon d´Or“, wo er den achten Platz mit Marco Van Basten teilte und mehr Stimmen bekam als Platini, Laudrup, Gullit, Matthäus, Völler, Futre, Dalglish, Tigana, oder die Torleute Dassaev, Pfaff oder Schumacher. Der Mann, den ich da kennengelernt habe, hatte einen Rekord aufgestellt, den – davon bin ich überzeugt – niemand mehr brechen wird. Er war der Tormann, der im letzten Akt des Europapokals der Landesmeister gegen FC Barcelona alle vier von vier Elfern hielt, in einem unglaublichen Endspiel zwischen einem Militärverein aus dem kommunistischen und einem Fußballklub aus dem westlichen Block, in einem Finalspiel zwischen einem Verteter des Warschauer Paktes und dem Lokalmatador der NATO-Allianz. Um den damals aufgestellten Rekord von Helmut Duckadam zu brechen, müsste einer heute in einem Endspiel der Champions League fünf von fünf Elfern abwehren. Nicht fünf von sechs, nicht fünf von sieben, sondern ganz genau fünf von fünf. Und das ist unmöglich!
Nach den vielen vorhergehenden Erfahrungen mit „wichtigen Leuten“ hatte ich keine besonderen Erwartungen von dieser Begegnung. Ich dachte mir, dass er, die lebende rumänische Torwartlegende, größer und bedeutender als alle, mich nicht einmal anschauen, geschweige denn begrüßen würde. Aber er war ein wunderbarer Mensch: Normal, freundlich, mit guten Manieren, bescheiden, lustig. Ein großer Optimist.
Helmut wurde in Semlak nahe der ungarischen Grenze geboren, aus der Sicht von Bukarest am Ende der Welt. In der dortigen multikulturellen Umgebung wuchs er mit Rumänen, aber auch mit Ungarn, Slowaken, Serben, Roma und selbstverständlich mit seinen deutschen „Gubaschen“ und „Berinnern“ auf. Berühmt und berüchtigt waren die dortigen Fußballspiele zwischen „Deutschland“ und „Italien“. Oder „Deutschland“ und „Brasilien“. Oder zwischen „Bayern München“ (den Semlakern) und allen anderen. Und im Tor, im Schulhof, in der „Sandgrube“ stand niemand anderer als „Sepp Maier“, nämlich er, Ducki, in einem schwarzen Rollkragenshirt, mit Schweißerhandschuhen bis zu den Ellenbogen.
Er träumte, eines Tages als „schwarzer Mann“ – eine ehrenvolle Bezeichnung für die Torleute – im Tor der landwirtschaftlichen Genossenschaft „FC Semlecana Semlac“ zu stehen. Und einen Elfmeter zu halten – den Elfmeter, der seiner Dorf-Mannschaft den Sieg bringen würde. Er übte täglich, auf dem Spielfeld, auf seiner „Hada“ am Ufer der Marosch. Mitten in der Nacht stand er  auf, um mit dem „Fünfuhrzug“ nach Arad zu fahren, wo er noch vor Schulbeginn sein erstes Training absolvierte. Der allbekannte lokale Meister Patschker bastelte ihm seine ersten Fußballschuhe - professionelle mit Lederstollen, scharf wie Zähne, fest genagelt, sodass seine Sohlen ständig blutig waren. Im Dorf tobte er herum mit den anderen Kindern aus der „Daitschenstross“, über die Felder und durch die Zwetschgengärten. Und er überlebte auch einen schlimmen Autounfall, als ihn Touristen aus der Tschechoslowakei auf der angrenzenden Landesstraße niedermähten.
Auf sein Talent wurde bald der Fußballverein UTA aus Arad aufmerksam, „die Alte Dame“, die gerade ein paar Jahre zuvor Ernst Happels Feijenoord Rotterdam, den amtierenden Europameister, aus dem Wettberb herausgeschossen hatte. In Arad parierte Duckadam den Elfmeterschuss vom Mircea Lucescu und wurde in der Hauptstadt bemerkt. Fast hätte er zu Universitatea Craiova gewechselt, der Mannschaft, die Kaiserslautern und den HSV im UEFA-Pokal besiegt hatte. Doch er landete letztendlich bei „Steaua“, dem „Stern“ in Bukarest.
Ende April 1986 war die Nuklearkatastrophe in Tschernobyl. Die Meisterschaft wurde sofort unterbrochen, niemand durfte trainieren, und das gerade zwei Wochen vor dem mit Spannung erwarteten Endspiel in Spanien. In dieser Nacht, am 7. Mai 1986, wurde „Ducki“ zum Helden von Sevilla. Vor dem Spiel hatte der spanische König den Kommunisten nicht einmal die Hand reichen wollen und nachher gab es nicht genug Medaillen für die Rumänen. Er hielt die vier Elfmeter. „Wir haben gewonnen“, schrie sein Mannschaftskoillege. Doch Duckadam verstand nicht: „Der fünfte, der fünfte, es waren erst vier“, konterte er. Doch dann war klar: „Wir sind Europapokalsieger!“
Ich habe das Spiel im schwarz-weißen Fernsehen gesehen und ihn bewundert, den großen Magier, der all diese Spanier hypnotisiert hatte. Und in keinem Moment hätte ich mir damals vorstellen können, dass ich ihn eines Tages kennenlernen, dass er gerade mir seine Geschichte erzählen würde. Die ganze Geschichte, deren Kurzversion inzwischen als Buch vorliegt: „Der Tormann“.
„Ducki“ war der König der Lüfte. Und der „reichste“ Spieler von Steaua Bukarest, wie seine Kollegen scherzten. Denn er gewann jede Wette. Was Maradona unter den Feldspielern war, das war Helmut Duckadam unter den Torhütern: Ein Elfmeterkiller. Beim Training konnte keiner eine „Fünf-von-fünf-Serie“ gegen ihn verwandeln, alle mussten blechen, weil sie die Wette verloren.
In den letzten Jahren war er traurig gestimmt. Traurig, als ihm so richtig bewusst wurde, dass es in seinem Semlak die „Tschuffn“, die „Gubaschen“, die „Berinner-Buben“, den Meister Patschker, die Rückkehrer aus Sibirien, die „Tintenlecker“ und die „Kotskaren“ nicht mehr gab, dass sie alle längst verschwunden sind. Dass es seine „Daitschenstross“ nicht mehr gab. Dass niemand mehr Semlekerisch sprach. Dass er einfach der letzte der „Berine-Puve“ war. Traurig, weil die Gemeinschaft, die ihm einst die Kraft gegeben hatte, seine Ziele zu erreichen, nicht mehr existierte. Dass nur das Alleinsein geblieben war. „Aber was soll man mit sich allein machen?“, fragte er sich. „Allein mit dem Hund, der Katze, dem Computer. Allein beim Joggen. Allein im Altersheim. Allein am Friedhof.“
Du warst eine Legende, ein Stern. Ein Kämpfer, der nie aufgegeben hat.  Du hast uns gezeigt, dass das Unmögliche möglich werden kann. Aber du warst vor allem ein großherziger Mensch. Wie ich dich kenne, wirst du uns und den Fußball auch vom Himmel aus beschützen.
Mit Helmut Duckadam haben wir alle eine Persönlichkeit und einen liebenswerten Menschen verloren. Mein tiefes Mitgefühl gilt seiner Familie. Leb wohl, Ducki. Du wirst uns fehlen!