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80 Jahre seit der Deportation: Gedenken an die Verschleppung der Banater Schwaben in die Sowjetunion

Sebastian Leicht (1908 - 2002): Deportation (Abtransport aus den Banater Dörfern), Kohlezeichnung Foto: Archiv BP

Im Januar 2025 gedenken wir der vor 80 Jahren, Anfang des Jahres 1945, also noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, erfolgten Deportation der Banater Schwaben wie auch anderer Deutschen aus Rumänien in die Sowjetunion. Bereits zum 75-jährigen Gedenken legten wir einen Band mit Erzählberichten zu diesen Geschehnissen, hauptsächlich aus der Sicht der Kinder von Deportierten verfasst, vor (Albert Bohn/Werner Kremm/Peter-Dietmar Leber/Anton Sterbling/Walter Tonţa (Hg.): Die Verschleppung der Deutschen aus dem Banat in die Sowjetunion aus der Sicht ihrer Kinder. Erzählberichte, München 2021). Dieser löste bei vielen Lesern Erschütterung, Betroffenheit und Nachdenken aus. Wir haben das Buch nicht zuletzt als einen Beitrag zu einer lebendig gehaltenen kollektiven Erinnerungskultur verstanden, als ein Nachdenken aus der Perspektive subjektiver Betroffenheit über wesentliche, einschneidende und nachhaltige Ereignisse der wechselvollen Geschichte der Banater Schwaben.
„Deportation“ war und ist auch in meiner Generation noch ein Schrecken auslösendes, bei vielen Menschen auch tiefe Trauer und Angstgefühle hervorrufendes Wort. Die Deutschen aus dem Banat und aus anderen Teilen Rumäniens verbinden damit, in ihrer gemeinsamen Erinnerung, vor allem die Verschleppung in die Sowjetunion, wiewohl auch die Deportation in die Bărăgan-Steppe ähnliche Gefühle anspricht. Ich erinnere mich, dass in meiner Kindheit immer wieder, wenn auch mit Bedacht und Vorsicht, mit einer gewissen Zurückhaltung und stets nur in vertraulichen Kreisen, fast wie in einer eigenen, aus Chiffren bestehenden, verkürzten Sprache, von der „Verschleppung nach Russland“ gesprochen wurde. Im Rahmen meiner späteren historisch-soziologischen Ost- und Südosteuropaforschungen, meiner Beschäftigung mit der Geschichte des Kommunismus und den Verbrechen des Sowjetsystems kam ich gelegentlich auf das Thema zurück. Aber erst nach meiner eingehenderen Beschäftigung mit den Erzählberichten zur Deportation aus der Sicht der Kinder ehemaliger Deportierter erfasste ich die gesamte erschütternde Tragweite wie auch die weitreichenden und vielfach traumatischen Folgen dieser Geschehnisse. Unter diesen unmittelbaren Eindrücken entstand auch folgendes Gedicht: „Deportation“. Dunkle Wolken zieh’n / mit den nordostwärts fahrenden Zügen / wie eine Ahnung des Todes. // Wie eine Ahnung der Toten in eiserstarrter Erde; / der toten Mütter, ihrer / verwaisten Kinder ewig fern; / der toten Väter, die nie ihre / noch ungeborenen Söhne / kennen werden; / der jenseits des Nichts / entschwundenen, / namenlosen Toten. // Dunkle Wolken zieh’n / mit den nordostwärts fahrenden / Zügen.
Während den Abschlussarbeiten der zweiten Auflage unseres Bandes waren wir sodann auch bald mit einem aktuellen Geschehen konfrontiert, das sich unabweisbar als Bezugsgröße aufdrängte, nämlich mit dem brutalen, völkerrechtswidrigen Überfall der Ukraine durch Russland und das unermessliche menschliche Leid, dass damit einhergeht. Vor diesem Hintergrund gewinnen die Erinnerungen an die Deportation vor 80 Jahren – so wurde uns bald klar – eine erschreckende und aufwühlende Aktualität, denn es sind nicht nur erneut vielfach an den Geschehnissen und ihren Verursachungen unbeteiligte, unschuldige Menschen und Kinder, die als die Hauptleidtragenden all dessen erscheinen. Wenn man sich zudem die Lagerorte der damaligen Deportationen der Deutschen aus dem Banat in die Sowjetunion ansieht, treffen wir vielfach auf Ortsnamen im Donbass, in denen die Menschen damals zur Zwangsarbeit in den Kohlengruben und zu anderen schweren Arbeiten eingesetzt waren und dabei vielfach erkrankten oder starben – und in denen oder in deren Nachbarschaft gegenwärtig wieder, schon seit nahezu drei Jahren ein grausamer, unmenschlicher und zerstörerischer Krieg wütet, der bereits viele zivile und sonstige Opfer forderte und immensen Schaden verursachte.
Der lange Weg in die Ungewissheit
Gerüchte über die Verschleppung der Deutschen und andere repressive Maßnahmen kursierten schon seit längerem. Wie konnte es, nach dem Heranrücken der Front und der Schrecken des Krieges, der Flucht eines Teils der deutschen Bevölkerung des Banats im Herbst 1944 (Albert Bohn/Werner Kremm/Anton Sterbling (Hg.): Flucht der Deutschen aus dem Banat 1944, München 2024) und dem weiteren Kriegsgeschehen auch anders sein? Bereits Monate vor der Deportation wurden Namenslisten erstellt, von denen einzelne gerüchteweise erfuhren, und noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs, nämlich ab dem 12./13. Januar 1945, wurden über 70000 Rumäniendeutsche zur Zwangsarbeit oder sogenannten „Reparationsarbeit“ in die Sowjetunion verschleppt. Insgesamt wurden damals rund 150000 Deutsche aus unter sowjetischen Einfluss geratenen ostmittel- und südosteuropäischen Ländern deportiert. Es betraf im Falle der Deutschen aus Rumänien Männer im Alter zwischen 17 und 45 Jahren und Frauen zwischen 18 und 30 Jahren, soweit diese nicht schwanger waren oder Kinder unter einem Jahr hatten. Dabei nahm man es mit diesen Altersgrenzen nicht immer so genau, etwa wenn sich bestimmte Personen der Aushebung zu entziehen versuchten oder einfach nur die vorgesehenen Zahlenkontingente aufgefüllt werden mussten. Dann wurde Druck auf die Angehörigen der Versteckten ausgeübt und diese stellvertretend zu deportieren angedroht. Manchmal geschah dies auch. In manchen Fällen sogar, obgleich sich die Gesuchten stellten. Oder es wurden auch jüngere oder ältere Deutsche oder in seltenen Fällen auch Angehörige anderer Ethnien ersatzweise deportiert. Selbst deutsche Kommunisten blieben übrigens von der Deportation keineswegs verschont.
Von den deutschen Deportierten aus Rumänien waren rund die Hälfte, also etwa 33000 Banater Schwaben, einschließlich der Berglanddeutschen (Deutsche aus der Industriestadt Reschitza und aus dem Banater Bergland). Man schätzt, dass etwa 15 bis 20 Prozent der verschleppten Banater Schwaben in der Deportation, auf dem Heimweg oder an den unmittelbaren Folgen der Verschleppung verstorben sind. Der Anteil der mittelfristig oder längerfristig an den Deportationsfolgen Verstorbenen ist schwer zu schätzen. Jedenfalls hatten nicht wenige auch lebenslange Leiden, Beschwerden und Krankheiten – vielfach auch seelische Verletzungen und entsprechende Nachwirkungen – aus der Deportation mitgebracht. Und viele haben diese belastenden Erlebnisse und Erfahrungen auch lange Zeit ins Ungesagte, ins absichtliche Verschweigen oder ins Vergessen verdrängt.
Bereits die Geschehnisse der Aushebung, der Festnahme, der Vorbereitung für die Reise ins Ungewisse in den oft seit Tagen bereitstehenden Viehwaggons war für die Betroffenen und ihre Angehörigen, für die zurückgelassenen Eltern oder auch für die kleinen Kinder, die bei Großeltern oder Verwandten zurückblieben, bedrückend und erschütternd. Und danach begannen die wochenlangen Fahrten „nordostwärts“, wie es in dem Gedicht am Anfang dieses Beitrags heißt, zusammengepfercht in den Viehwaggons, unter scharfer Bewachung und zugleich unter unwürdigen hygienischen Bedingungen, unter Peinlichkeits- und Schamgefühlen, bei Kälte und Hunger, bei bereits um sich greifender Schwäche und Krankheit, ins unendlich Trostlose und Ungewisse.
In Herta Müllers Roman „Atemschaukel“ wird zu dieser Fahrt eines Siebzehnjährigen festgehalten: „Vielleicht wurde in dieser Nacht nicht ich, aber der Schrecken in mir plötzlich erwachsen. Vielleicht wird Gemeinsamkeit nur auf diese Art wirklich. Denn alle, ausnahmslos alle setzten wir uns bei der Notdurft automatisch mit dem Gesicht in Richtung Bahndamm. Alle hatten wir den Mond im Rücken, die offene Viehwaggontür ließen wir nicht mehr aus den Augen, waren bereits auf sie angewiesen wie auf eine Zimmertür. Wir hatten schon die verrückte Angst, dass die Tür sich ohne uns schließt und der Zug ohne uns wegfährt.“ (Herta Müller: Atemschaukel, München 2009, S. 21). Und in den Gesichtern mancher der Schwächsten zeigte sich auf dieser, subjektiv oft unendlich lange erscheinenden Fahrt in den Viehwaggons bereits der „Hungerengel“, wie er trefflich in Herta Müllers „Atemschaukel“ genannt wird, als erkennbarer Vorbote des Todes.
Gedenkfeier und Erinnerungskultur
Aber warum gedenken wir solcher historischer Geschehnisse, warum erinnern wir uns und wie erinnern wir uns? Welche Bedeutung hat die Erinnerungskultur für das Selbstverständnis menschlicher Gemeinschaften?
Wir wissen, eine kollektive Erinnerung gibt es nur soweit, wie es mehr oder weniger genaue, ins unverwechselbar Einzelne gehende, manchmal recht schwierige und nicht selten auch schmerzhafte individuelle Erinnerungen gibt. Sicherlich liegt es in der Natur und möglicherweise auch in der Dialektik dieser Dinge, dass das kollektive Gedächtnis nicht nur auf dem individuellen aufruht und aufbaut, sondern gleichsam auch auf dieses später erneut übergreift und zurückwirkt, es in seiner Selektivität, Deutungsmustern und in seinen Bedeutungszuschreibungen beeinflusst und dadurch vielfach mitprägt. Doch der Ursprung und Ausgangspunkt ist stets das erfahrungs- und erlebnisbestimmte individuelle Erinnern und das aus einzelnen persönlichen Erzählungen, beispielsweise im engen Familien-, Verwandtschaft- oder Bekanntenkreis sich bündelnde gemeinsame Gedächtnis, das sodann eine neue Qualität durch schriftliche Aufzeichnungen und intellektuelle Reflexionen erreichen kann.
Als eine weitere übergreifende Ebene erscheinen – nicht immer, aber wohl dort, wo eine kollektive Tiefenbedeutung vorliegt – die Erinnerungskultur und die diese begleitende Erinnerungspolitik, deren Gestaltung und Betrachtung eine besondere, durchaus auch kritische Sensibilität fordert, zumal sich hierbei wissenschaftliche Geschichtsschreibung, historische Mythenbildungen und kollektives kulturelles Gedächtnis in einer komplizierten und manchmal auch schroffen Weise begegnen, widersprechen, überlagern oder verschränken können. Dessen ungeachtet oder gerade deshalb, bleibt die Gedächtnis- und Erinnerungskultur für jede menschliche Gemeinschaft, für ihr Selbstverständnis und ihren Zusammenhalt unverzichtbar wichtig.
Im Fall der Erinnerungen an die Deportation in die Sowjetunion, für die es heute ja kaum noch Zeitzeugen gibt und die daher aus der Sicht der Kinder, der Enkel oder sonstiger Angehöriger oder Nachkommen erfolgt, ist zudem auf einige Besonderheiten zu achten. Es handelt sich zumeist um bedrückende, oft schmerzhafte, existenziell tiefgreifende und lange nachwirkende Erfahrungen, die bei ähnlichen Grundmustern des äußeren Geschehens doch stets subjektiv einmalig bleiben. Wir haben es mit ihrer Natur und den gegebenen Umständen nach zumeist schwer kommunizierbare, oft unter einem besonderen Erinnerungsfilter oder – wie der Soziologe Niklas Luhmann sagt – „Latenzschutz“ stehende individuelle und familiale Erfahrungen zu tun, die erst ihre Verortung und Deutung im kollektiven Gedächtnis suchen und dabei nicht selten auch Hemmungen oder Blockaden überwinden müssen. Es geht um Geschehnisse und Erfahrungen mit oft schwer überschaubaren, nicht selten weitreichenden oder traumatischen, in ihrer Nachhaltigkeit und Tragweite wahrscheinlich selbst in der Generationenfolge noch kaum hinreichend eingeordneten und abgewogenen Folgen und Folgewirkungen.
Gedenkveranstaltungen und Gedächtnispflege, wie die, die an die Deportation in die Sowjetunion vor 80 Jahren erinnern, versuchen über weite Zeiträume hinweg historisch Erlebtes und damit Zusammenhängendes, das zum Teil vergessen, das zeitweilig ideologisch verdrängt oder umgedeutet oder das vielleicht auch bewusst betäubt und unter Erinnerungsschutz gestellt wurde, doch erneut schärfer ins Bewusstsein zu heben und auch für spätere Generationen in der kollektiven Erinnerung zu bewahren. Dies geschieht natürlich auch auf verschiedenen Wegen.
Neben den mündlichen Erzählungen und Berichten, die teilweise später auch schriftlich in der einen oder anderen Weise festgehalten wurden, liegen zur Deportation der Deutschen aus Rumänien und der Banater Schwaben in die Sowjetunion seit längerer Zeit anspruchsvolle wissenschaftliche Arbeiten, eindrucksvolle literarische Werke wie auch sonstige künstlerische (musikalische, literarische, photographische oder filmische) Bearbeitungen der Thematik vor, die sich in ihrer jeweils besonderen Art in ihrer Summe ergänzen und zusammen bleibende Erinnerungsmarkierungen an diese bedrückenden Geschehnisse setzen. Solche Erinnerungen graben sich emotional aufgeladen und daher besonders tief in den kollektiven Gedächtnishaushalt menschlicher Gemeinschaften ein und bilden so ein bleibendes Element ihrer kollektiven Identität.
Deportation als „Kollektivschuld“
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, mit der Deportation der Deutschen, war nicht mehr nur von der „Kriegsschuld“, wie nach dem Ersten Weltkrieg, sondern vielfach und insbesondere im östlichen Europa nur noch von der „Kollektivschuld“ (der Deutschen) die Rede. Zur Frage der „Kollektivschuld“ schrieb der namhafte Philosoph Karl Jaspers indes bereits 1946 u.a.: „Es ist aber sinnwidrig, ein Volk als Ganzes eines Verbrechens zu beschuldigen. Verbrecher ist immer nur der einzelne. Es ist auch sinnwidrig, ein Volk als Ganzes moralisch anzuklagen. (…) Moralisch kann immer nur der Einzelne, nie ein Kollektiv beurteilt werden.“ (Karl Jaspers: Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands, München 2019 (3. Aufl., zuerst 1946, S. 27).
Die Rückkehr zur Anwendung des Prinzips der Kollektivschuld erfolgte ganz gegen die Entwicklungsrichtung der abendländischen Zivilisation und Rationalität, die zunehmend und immer entschiedener das Individuum und dessen Handeln in den Mittelpunkt des sozialen Geschehens wie des Rechtsdenkens und der Rechtspraxis stellte. Diese folgenreiche (semantische und rechtliche) Verschiebung im Daseins- und Rechtsverständnis entsprach dem ideologisch-totalitären Charakter zumindest eines Teils der Herrschaftsordnungen der Kriegsmächte und der weitgehend entgrenzten, „totalen“ Austragungsform des Krieges, mit seinen teilweise unverkennbar deutlichen Zügen eines menschenverachtenden „Vernichtungskrieges“.
Gegenüber einer Sichtweise, die den einzelnen Menschen als mündigen und rechtlich gleichgestellten Bürger und mithin als maßgebliche „Handlungs- und Rechtssubjekte“ auffasst, kehrten in den totalitären und autoritären Herrschaftssystemen des 20. Jahrhunderts mit der herkunfts- und zugehörigkeitsbegründeten „Kollektivschuld“, mit der „Sippenhaftung“ und mit den Vertreibungen und Vernichtungen nicht nur vormoderne, traditional-fundamentalistische, sondern zum Teil sogar archaische und atavistische Denkweisen und Rechtsvorstellungen zurück. Mit anderen Worten: es kam zu einer brutalen Rückkehr der Willkür, des Unrechts und der Barbarei in die zivilisierte Welt.
Ausschlaggebend für die Deportation der Deutschen war allein das ethnische Herkunfts- und Zugehörigkeitsmerkmal, unabhängig von jeder individuellen moralischen Haltung und Gesinnung, Handlungsweise, Verstrickung in die Geschehnisse oder Widerstand gegen Unrecht, subjektiver Mitschuld oder Schuldlosigkeit. Und dies setzte sich in einer kollektiven Mithaftung selbst in der Generationenfolge fort.
Die Wirklichkeit der Arbeitslager
Die Anwendung des Kollektivschuldprinzips und die faktische Umsetzung der Kollektivschuldzuschreibung erfolgte, bürokratisch geplant und durchorganisiert, als Massendeportation der Deutschen aus Rumänien und anderen Ländern des sowjetischen Einflussgebietes und als Zwangsarbeit unter einem inhumanen Lagerregime, mit strengen, gewaltgestützten Regelungen und permanenten Zwängen, Kontrollen, Schikanen, Demütigungen und Repressionen. Sie erfolgte unter oft rudimentären Unterbringungs-, Hygiene- und Lebensbedingungen, bei im Winter eisiger Kälte, häufiger Krankheit, nahezu ständigem Hunger, körperlicher Schwäche, Gebrechlichkeit und vielfachem Tod. Der Tod war eine häufige, alltägliche Erscheinung in den Deportationslagern, und der Umgang mit ihm war den auch ansonsten in nahezu jeder Hinsicht gegebenen Restriktionen und Knappheitsbedingungen unterworfen.
All dies findet sich in eindrucksvoller literarischer Verarbeitung und mit außergewöhnlicher sprachlicher Sensibilität in Herta Müllers „Atemschaukel“ verdichtet. So ist bei ihr zu lesen: „Bei den ersten drei von uns, die am Hunger gestorben sind, wusste ich genau, wer sie sind und die Reihenfolge ihres Todes. Ich dachte ein paar lange Tage an jeden der drei. Aber die Zahl Drei bliebt niemals die erste Zahl Drei. Jede Zahl wird abgeleitet. Und abgehärtet. Wenn man selbst eine Knochenhaut und körperlich nicht mehr gut beieinander ist, hält man die Toten tunlichst von sich weg. Denn es gab in den Spuren der Mathematik, im März, im vierten Jahr schon dreihundertdreißig Tote. Da kann man sich die deutlichen Gefühle nicht mehr leisten. Da hat man nur noch kurz an sie gedacht.“ (Herta Müller: Atemschaukel, München 2009, S. 89 f). Zum gleichen Gegenstand des Todes und der Toten in den Deportationslagern kann man auch in Richard Wagners Roman „Habseligkeiten“ lesen: „In diesem Winter starben mehrere Leute. Karl hob mehrere Leichengruben aus. Die Tischler fertigten jetzt Särge für die Toten an. Die Gräber auszuheben dauerte bei der Kälte manchmal eine ganze Woche. So lagen die Leichen hartgefroren im Werkschuppen. Einmal, als drei Männer beerdigt werden sollten, war der Boden so hart gefroren, daß man die Grube nicht tief genug ausheben konnte. Es hatten genaugenommen nur zwei Särge darin Platz. Nun kam einer auf die Idee, zuerst zwei hineinzustellen und den dritten dazwischen, auf die Kante.“ (Richard Wagner: Habseligkeiten, Berlin 2004, S. 155).
Solche Lebensumstände und Daseinslagen, wie sie in den sowjetischen Arbeitslagern für die Verschleppten gegeben waren, bedeuteten große Herausforderungen der Menschlichkeit und tiefe Beschädigungen der menschlichen Würde. Aber – wie viele der Berichte aus den Lagern ebenso eindrucksvoll erkennen lassen – auch veritable Bewährungsmöglichkeiten der Menschen und ihrer Hilfsbereitschaft in größter Not und Bedrohung, übrigens auch über ethnische Grenzen hinweg. Sie boten vielfach eindrucksvolle Beispiele des zwischenmenschlichen Einfühlungsvermögens in existenziellen Grenzsituationen und der nahezu unbegrenzten und aufopferungsvollen menschlichen Solidarität und Mitmenschlichkeit. Auch die tröstende Wirkung der Religion und die erbauliche Bedeutung der Gemeinschaftstraditionen für einzelne Menschen ließen sich in solchen ungewöhnlichen Daseinssituationen vielfach eindrucksvoll erkennen.
Abschließende Gedanken
Das Gedenken an die Deportation der Banater Schwaben in die Sowjetunion – nach 80 Jahren – soll uns all dies Grauenvolle und Schreckliche, das existenziell Herausfordernde, Bedrückende und manchmal auch Tragische wie auch das Mitmenschliche, Solidarische und Gemeinschaftliche nochmals schärfer ins Bewusstsein heben und uns zum weiteren Nachdenken darüber anhalten. Eine wichtige Lehre zieht sich hierbei durch all diese Erinnerungen, die wir uns für die Gegenwart und Zukunft – auch und gerade angesichts neuer Kriegsgeschehnisse in der heutigen Welt – tunlichst einprägen sollten: Historische Katastrophen und politische Verbrechen, durch wen auch immer verschuldet und zu verantworten, haben nicht selten schwerwiegende und langfristige Auswirkungen, deren zeitliche und sachliche Reichweite man oft gar nicht angemessen zu beurteilen und abzuschätzen vermag. Sie treffen zudem nicht selten individuell und subjektiv schuldlose Menschen, die dafür noch in der Generationenfolge in kollektive Haftung genommen werden können und die daher nicht selten eine schwere und bedrückende Erinnerungslast mit sich tragen.
Solche historische Ereignisse und Erfahrungen können schmerzhafte und nachhaltige Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen. Das Beispiel der Banater Schwaben kann Zeugnis und Aufschluss geben und sollte zur Bedenklichkeit anregen, wie rasch eine menschliche Gemeinschaft, gerade als ethnische Minderheit, ins Räderwerk der Geschichte geraten und – mit oder ohne eigenes Zutun und Schuld – zum willkürlichen Spielball entfesselter und gewaltenthemmter Mächte werden kann – und insbesondere unter dem Vorzeichen der „Kollektivschuld“ ins Leid gestürzt und verhängnisvoll bestraft wird. An solche kollektiv erfahrene Verfolgungen und Repressionen, an solch schmerzhaft nachwirkendes Unrecht erscheint es angebracht und geradezu geboten, in angemessener Weise, entschieden und würdevoll zu erinnern: Damit es sich möglichst nicht mehr – in der Zukunft der eigenen Gemeinschaft, des eigenen Volkes, wie auch im Falle anderer menschlicher Kollektiva – wiederholt.