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80 Jahre haben geklärt, aber nichts vergessen gemacht

Bohn, Albert / Kremm, Werner / Leber, Peter-Dietmar / Sterbling, Anton / Tonţa, Walter (Hrsg.): Die Verschleppung der Deutschen aus dem Banat in die Sowjetunion aus der Sicht ihrer Kinder. Erzählberichte. München: Landsmannschaft der Banater Schwaben, 2. erw. Aufl., 2022, ISBN 978-3-9818760-7-9

Deportarea germanilor din Banat în Uniunea Sovietică. O prezentare a perspectivei copiilor prin relatări (re)povestite. Ed.: Albert Bohn, Werner Kremm, Peter-Dietmar Leber, Anton Sterbling și Walter Tonța. Traducerea în limba română și note de Sigrid Kuhn și Werner Kremm. Timișoara: CosmopolitanArt, 2022.

Im Januar 2025 sind es nunmehr 80 Jahre, seit der Gemeinschaft der Rumäniendeutschen einer der entscheidenden historischen Schläge versetzt wurden, die sie bewogen, in den darauf folgenden Jahrzehnten – nach der Wende von 1989 richtig entfesselt – Rumänien zu verlassen. Die Russlandverschleppung traf die betroffenen Familien nachhaltig. Die Nach-Wirkung des Schocks, ausgelöst durch die Tatsache, dass eine ganze ethnisch definierte Bevölkerungsgruppe einfach mit einer Kollektivschuld beladen (und zwar sowohl vom sowjetischen Diktator Stalin als auch von seinem zeitweiligen Zweck-Alliierten, dem „lupenreinen Demokraten“ englischer Facon Churchill und mit stiller Duldung des Weltpolzisten USA, durch die Präsidenten Franklin D. Roosevelt und Harry S. Truman) und mit fünfjähriger Deportation bestraft wurde – die Nachwirkung dieser Tatsache ist so „nach-haltig“, dass sie bis heute nicht verwunden werden konnte.

Davon zeugt das Buch, das wir – die Herausgeber Albert Bohn, Werner Kremm, Peter-Dietmar Leber, Anton Sterbling und Walter Tonța – in Form von „Erzählberichten“ als „Erinnerungsanthologie der Nachfolgegeneration der Russlandverschleppten“ unter dem Titel „Die Verschleppung der Deutschen aus dem Banat in die Sowjetunion aus der Sicht ihrer Kinder“ 2021/2022 in zwei (untereinander leicht abweichenden) Ausgaben (die Ausgabe II ist mit mehreren Berichten vervollständigt) und ebenfalls 2022 auch in rumänischer Sprache (Übersetzung: Werner Kremm, in Zusammenarbeit mit Sigrid Kuhn), diese Ausgabe ebenfalls mit sie bereichernden Beiträgen und Dokumenten, veröffentlicht haben.

In diesem Buch geht es uns darum, den Heutigen zu vermitteln, wie die damaligen Kinder die Deportation ihrer Eltern und älteren Geschwister erlebt und erlitten haben. Wie sehr das brutale Herausreißen von einfachen Menschen ihnen ein Weltbild und -gefüge zerstört hat, bis zur Unmöglichkeit einer Wiederherstellung. Es war eine Bevölkerung, die in ihrer überwiegenden Mehrheit ans Landleben gebunden war, die nur ihr Leben leben und im ihr bescheiden bescherten Rahmen in Ruhe ihr Glück, das Ruhe und Zufriedenheit hieß, er-leben wollte.

Die Herausgeber versuchten, mit Hilfe ihrer Gewährsleute (die sich aufgrund eines Aufrufs, als Folge einer Initiative von Albert Bohn und der Landsmannschaft der Banater Schwaben, meldeten) ein realitätsnahes, multiperpektivisches Bild zu entwerfen von der Deportation in die Sowjetunion und ihren generationsübergreifenden Folgen, aus der Sicht der nicht direkt Betroffenen, der Daheimgebliebenen – großteils die Großeltern und die Kinder. Die Beschreibungen aus den Erzählberichten sind gut verständlich, oft stark emotional geprägt, leicht komprehensibel, fatal subjektiv.

Doch à propos Subjektivität der Erzählberichte: gerade das ergibt einen „Masseneffekt der erzählten Subjektivität“. Nämlich dadurch, dass die Mehrheit der Gewährsleute bei aller Subjektivität (bei Selbsterlebtem kann es gar nicht anders sein!) unweigerlich auf gleiche (vergleichbare/ähnliche) Gefühle, Erlebnisse, Reaktionen hinweisen, bekommt diese so artikulierte Subjektivität, welche aus den Erzählberichten ein „Mosaik an Subjektivem“ entstehen lässt, einen hohen Grad an Objektivität.

Auch dadurch kommt das Gemeinschaftswerk der Herausgeber und ihrer Gewährsleute seinem Ziel nahe: einen Dokumentationsband vorzulegen, der künftigen Forschern oder der Erlebnisgeneration III – eine Vorlage liefert zur weiterführenden generationenübergreifenden Untersuchung der Folgen jenes Gewaltakts und Machtmissbrauchs, wie es jede Massendeportation ist und bewirkt.

Nicht zuletzt ist der Band – in allen drei Versionen (Auflage I und II deutsch, Auflage I und Komplementär-Nachdruck rumänisch) – ein Eintauchen ins kollektive Gedächtnis der Rumäniendeutschen, bzw. der Banater Schwaben. Es ist, implizite, die Auslotung der Dimension des Wahrheits(unter)bewusstseins der Rumäniendeutschen über die Deportation, über Russland, über Gewaltherrschaft und -ausübung, über die Folgen von Gewaltanwendung gegenüber Wehrlosen, über das Verhältnis einer anderssprachigen Volksgruppe zu einem Staat, in dem sie eine „Minder-“heit darstellt (man vergegenwärtige sich, dass der Begriff „Minderheit“, und sämtliche Inhalte, den dieser impliziert, angefangen von der vollen Bedeutungssphäre des Wortes „minder“, erst nach dem ersten Weltkrieg aufkam und „Karriere“ machte, indem er Begriffe wie „Ethnie“ oder „Volksgruppe“ oder auch „Nationalität“ verdrängte.

Fakt ist – und auch das kann aus dieser Leidensanthologie Post-Russlandverschleppung herausgelesen werden – dass historische Katastrophen und politische Verbrechen (in deren Nähe Deportationen gerückt werden müssen, gleichzusetzen mit Kriegs-Verbrechen), egal wer dafür verantwortet, wer (und ob jemand) zur Rechnung gezogen wird oder nicht, prägende Langzeitfolgen im individuellen und Kollektivgedächtnis haben, generationsübergreifend sind und wirken. Und sie wirken nicht nur psychisch und psychologisch, sie haben auch ganz konkrete materielle Folgen, unmittelbare materielle Folgen.

Ein Kernpunkt der Anthologie ist die Haltung zur Kollektivschuld, die den Banater Schwaben – implizite allen Rumäniendeutschen – angelastet wurde. Allen ist es sehr bewusst gewesen, dass die einzige wirkliche Schuld, die sie hatten, jene war, Deutsche zu sein – das ethnische Kriterium war das Selektionskriterium für die Verschleppung (neben dem Alter, doch war dieser Aspekt zweckbedingt: Stalin wollte billige und leicht niederzuhaltende Arbeitskräfte, Frauen wie Männer). Selbst der Nationalkommunist Ceauşescu erkannte: „Auch nach der Befreiung unseres Vaterlandes wurden falsche Maßnahmen getroffen. Ich zitiere in diesem Sinn die Versetzung der deutschen und serbischen Bevölkerung (Anm. Verfasser: Bărăgan-Deportation), die vollständige Verstaatlichung der landwirtschaftlichen Flächen aus deutschem Besitz und andere Wirtschaftsmaßnahmen. (…)“.

Zu den schönen Seiten dieser traurigen Anthologie mit Erlebnisberichten gehören die zahlreichen Hohelieder an die Großeltern, die in aller Selbstverständlichkeit  Elternstatt annahmen, das abgeklärte Verhältnis, auch der Kinder der Russland-Deportierten, zur Zivilbevölkerung Russlands, der mitfühlende Sympathie entgegengebracht wird, so wie sie die heimgekehrten Verschleppten vermittelt haben, weil so erlebt, die vielschichtige Beschreibung von Sehnsucht und Entfremdung, die mitklingt in vielen der Erzählberichte, der immer wieder anklingende Appell für Frieden, „damit so etwas nie mehr vorkommt“, der tiefe Glaube an die Allmächtigkeit Gottes, der schon alles irgendwann irgendwie wieder ins gerechte Lot bringen wird (siehe die Gebetsrunden, die viele Großeltern mit den zurückgebliebenen Kindern allabendlich abhielten). Bemerkenswert auch das Verhältnis zu den „Kolonisten“, den Neubesiedlern der Banater deutschen Ortschaften, zu denen ein anfangs klar zwiespältiges Verhältnis herrschte, das sich aber durch einen Dekantierungsprozess derart klärte, dass mit den als „anständig“ Befundenen Freundschaftsbeziehungen entwickelt wurden, die Jahrzehnte hielten, auch nachdem die „Kolonisten“ der endvierziger - Anfang fünfziger Jahre Jahre in ihre Herkunftsgebiete zurückgekehrt waren. Oder eigene Häuser bezogen im selben oder in Nachbarorten. Selbstverständlich sind auch die Raubzüge andersnationaler Ortsbewohner vermerkt, die die Häuser Verschleppter, auch wenn diese nicht herrenlos und leer standen, bis einschließlich Türen und Fenster samt Rahmen ausraubten.

Extrem beeindruckend die Erzählung eines damals jungen Burschen aus Tschanad, der jeden Abend zu seinen Großeltern zum Schlafen ging und jedesmal alle Türen zunagelte – um sie morgens jedes Mal aufgebrochen vorzufinden. Und der zuletzt glücklich war darüber, dass ihm Nachbarn die letzten Schweine, von mehreren Dutzend Sauen und Ferkeln, aus dem Koben holten. Glücklich war der Dreizehnjährige, weil er nach dem letzten Schweineraub endlich weniger Arbeit hatte…