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Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Fokus

Ein Großteil der Teilnehmer am Städteseminar „Banater Kleinstädte“ im Tagungszentrum „Der Heiligenhof“ Foto: privat

In der Bildungs- und Begegnungsstätte „Der Heiligenhof“ in Bad Kissingen fand vom 1. bis zum 3. November eine Tagung statt, die die Banater Kleinstädte Hatzfeld und Großsanktnikolaus im Fokus hatte. Gefördert wurde die Veranstaltung als Fortsetzung der vor einem Jahr mit Reschitza begonnenen Reihe „Banater Städte“ durch das Kulturwerk Banater Schwaben Bayern. Gastgeber war erneut die Akademie Mitteleuropa im Heiligenhof, einer Studien- und Lernoase mit vielen persönlichen Begegnungen. Auch diesmal stellte sich schnell heraus, dass die meisten Teilnehmer sich bereits kannten und mit dem Bildungshaus vertraut waren.

Der Studienleiter des Hauses Gustav Binder eröffnete die Veranstaltung, durch die als Moderator, der aus Großsanktnikolaus stammende Dr. Anton Sterbling führte. Er las aus dem Manuskript seines neusten Erzählungsbandes zur „Versunkenen Republik“. In einem historischen Raum und einer fiktiven Zeit in einer imaginierten, aber literarisch möglichen Republik blickt der Stadtschreiber von seinem Kirchturm aus auf eine multiethnisch geprägte Banater Kleinstadt. Insidern konnten dabei anhand vieler Hinweise und Erinnerungsstützen das namentlich nicht genannte Großsanktnikolaus erschließen.

Der Samstagvormittag war Hatzfeld vorbehalten. Die Hatzfelder waren zahlreich vertreten: der Historiker Walter Tonța, der Ehrenvorsitzende der HOG Hatzfeld Josef Koch, der neue HOG-Vorsitzende, Journalist und Schriftsteller Hans Vastag und der Schriftsteller und Übersetzer Herbert-Werner Mühlroth.

Walter Tonța referierte über „Alleinstellungsmerkmale der Banater Heidegemeinde Hatzfeld im regionalen Kontext“. Strukturiert und zielorientiert, mit Orts- und Sachkenntnis schaffte er es, auch Nichtkennern Hatzfeld näher zu bringen.

Josef Koch referierte über „Grenzverschiebungen – seit 100 Jahren Hatzfeld in Rumänien“ und bezog sich einerseits auf den vor 100 Jahren unterzeichneten Staatsvertrag zwischen dem Königreich Rumänien und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen und die neuen Grenzziehungen und -korrekturen, die einige vorwiegend von Serben bewohnte Ortschaften Jugoslawien zuschlugen, während mehrere von Deutschen und Rumänen bewohnte Ortschaften – darunter vor allem Hatzfeld – Rumänien zugesprochen wurden. Das Spannende an Josef Kochs Vortrag waren seine laufenden Gegenwartsbezüge, inklusive zur 100-Jahr-Feier der Zugehörigkeit Hatzfelds zu Rumänien vom vergangenen Sommer.

Bewusst stark improvisiert, erregte der Vortrag von Hans Vastag erst einmal den Eindruck des Verzettelns, mit Streiflichtern, Abschweifungen und Zusatzerklärungen, die letztendlich doch noch auf Hatzfeld, einem multikulturellen Städtchen im Banat, hinausliefen. Dabei wusste er sehr wohl, wie er seine Zuhörer dorthin zu bringen hatte, wo er sie haben wollte: zum Nachdenken auch über die eigene Herkunft, über das eigene Werden als Banater, oder – die Nichtbanater – zur Weiterreflexion von Denkanregungen zum multikulturellen, multiethnischen und multireligiösen Banat, der habsburgischen Vorwegnahme des EU-Ideals einer Einheit in der Vielfalt.

Den Nachmittag eröffnete Herbert-Werner Mühlroth mit der Lesung: „Ich erinnere mich“, einer stark emotional geprägten Niederschrift der Impressionen von seiner ersten Rumänienreise nach seiner Flucht über die Grüne Grenze und Jugoslawien nach Deutschland. Hiermit katapultierte die Zuhörer in den real existierenden Kommunismus einer sich im Sinkflug befindlichen Republik, aus der dem Autor kurz vor seinem Abitur die Flucht in den Westen gelang.

Ana Kremm sorgte für eine Premiere in der langen Tradition der Heiligenhof-Seminare. Sie trug ihr Referat zu „Großsanktnikolaus. Aufstieg und demografischer Fall einer Stadt“ in ihrer rumänischen Muttersprache vor – wozu vorsorglich den nicht (oder nur noch schlecht) das Rumänische Beherrschenden eine Übersetzung ins Deutsche zur Verfügung gestellt wurde.

Werner Kremm trug aus dem schriftlichen Nachlass seines Vaters Josef Kremm (1926-2022) „Erinnerungen an meine Mitbürger jüdischer Herkunft in Großsanktnikolaus“ vor. In diesem berichtet Josef Kremm über die Beschäftigungen der rund 400 Juden, die in Großsanktnikolaus nach dem Ersten Weltkrieg lebten (manche ihrer Kinder waren seine Schulkameraden) und erzählt, welchen geschäftlichen Schock/Verlust der von den rumänischen Faschisten unter Marschall Ion Antonescu 1942 verhängte Zwangsaufenthalt für das Geschäft seines Vaters, des Färbermeisters Josef Kremm (1897 – 1962), bedeutete, als sein bester Kunde und Freund der Semikloscher Jude Leopold/ Lipót Ürmenyi zum Aufenthalt in Temeswar gezwungen wurde, und zuvor seinen gesamten Vorrat an Garnen und Wolle zum Weben seinem Färber anvertraute, um es vor der Beschlagnahmung durch die rumänischen Faschisten zu retten. Nach dem Krieg nahm Ürmenyi sein „Restvermögen“ wieder in Empfang und schaffte es nach Temeswar, wo er sich inzwischen niedergelassen hatte.

Der Sonntag begann mit einem Highlight zum Thema Großsanktnikolaus. Der Referent Peter-Dietmar Leber erwies sich als der wohl bestinformierteste Kenner von Großsanktnikolaus. Er sprach über die „Stadt- und Kirchengeschichte von Großsanktnikolaus“ und entwarf ein umfassendes Bild der Entwicklung dieser Kleinstadt, deren spektakuläre Entwicklung nach der Wende von 1989 viele neidisch machte: rund 4000 Arbeitnehmer pendeln täglich in die Kleinstadt mit knapp 11000 Einwohnern. Ausführlich waren auch Lebers Erläuterungen zur Kirchengeschichte, zu der Grafenfamilie der Nákós, die als Stifter wesentlich das heutige Stadtbild von Großsanktnikolaus geprägt haben, und zu den römisch-katholischen Pfarrerpersönlichkeiten Jakob Linden (1780-1810), Dr. phil. Ludovicus Kuhn (1880-1900), Stephanus Pacha (1900-1908), dem Bruder des Bischofs Augustin Pacha, Josephus Elsner (1942-1951) oder Hans Fidelis Deschu (1951-1986), einer der wenigen römisch- katholischen Pfarrer, die nach Russland deportiert worden waren und über deren seelsorgerische Arbeit, verrichtet neben und nach der Zwangsarbeit, Überlebende der Russlandverschleppung Beeindruckendes berichtet haben.

Den Schluss der Veranstaltung bildete der präzise recherchierte Vortrag der Soziologin Rita Stockmann (geb. Rossmann) zu ihrer Familiengeschichte, wozu sie den Titel gewählt hatte: „Bleiben oder Gehen? Familiengeschichtliche Fragen in Großsanktnikolaus“. In diesem ging die Soziologin Rita Stockmann einer Frage auf den Grund, von der alle Banater betroffen waren/sind. Diese Frage stellten sich bereits unsere Ahnen, bevor sie in das gelobte Ungarland aufbrachen. Die Frage entzweite Gemeinschaften und Familien bei der Flucht vor der Roten Armee 1944, sie wiederholte sich in den finsteren Jahren des Kommunismus und sie gewinnt bei einigen in Anbetracht einer Remigration erneut an Aktualität.

Mit ihren spannenden, gut dokumentierten Beiträgen haben die Referenten immer wieder eine aktive Diskussion der Mitwirkenden und Teilnehmer angeregt, wobei vor allem die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Banater Kleinstädte Hatzfeld und Großsanktnikolaus zur Sprache kamen. Bei der Abschlussdiskussion wurde die Fortsetzung der Reihe „Banater Städte“ vorgeschlagen. Diese hat die Stadt Lippa im Fokus. Organisiert wird sie von Astrid Ziegler.