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Dreizehn Jahre lang rechtlos und vogelfrei: Ereignisse aus den Jahren 1945 bis 1958

Albert Müller als Achtzehnjähriger Fotos: privat

Mit meinem Bericht „Schlimme Zeiten und das Schweinchen Itzi“ (BP vom 20. April 2024) habe ich meine ersten Erinnerungen an die Herbsttage 1944 festgehalten. Die Zeit danach blieb nicht stehen. Das, was folgte, sollte mein weiteres Leben so beeinflussen und prägen, dass aus dem kleinen Jungen von damals ein Mann mit unumstößlichen „Prinzipien“ heranreifte.
Ich lernte sehr früh, was „Recht“ und „Unrecht“ bedeutet und dass all dies im festen Glauben an Gott seinen Anker hat. Daran halte ich mich nun seit fast achtzig Jahren mit Erfolg fest, obwohl von außen schon oft daran gerüttelt wurde.
Wie man weiß, hat die rumänische Regierung mit dem Gesetz zur Bodenreform vom 23. März 1945 alle Staatsbürger deutscher Nationalität entschädigungslos enteignet. Anfang April 1946 nahmen die neuen Eigentümer, das waren bei uns „Motzen“ aus der Halmagier Gegend, unser Dorf Traunau in Besitz. Die landwirtschaftlichen Flächen und die Gerätschaften samt Tierbestand gingen in den Besitz der Kolonisten über.
Meine Mutter war zu jener Zeit wie viele andere nach Russland verschleppt und mein Vater befand sich in französischer Kriegsgefangenschaft. Meine Großeltern mütterlicherseits hatten mich, den damals Fünfjährigen, in ihrer Obhut.
Die Kolonisten kommen
Die Kolonisten wurden in die Häuser eingewiesen und hatten ab sofort das Sagen. Unsere Rechtlosigkeit war damit offenbar. Mein Großvater sprach außer deutsch noch ungarisch – eine Sprache, die er seinerzeit in der Schule und beim Militär erlernt hatte. Meine Großmutter sprach auch noch rumänisch, das hatte sie als Haushälterin bei einem Zahnarzt in Lippa gelernt.
In das Haus meiner Großeltern wurde ein Kolonisten-Ehepaar mittleren Alters eingewiesen, Tiron und seine Frau Mariza, die sich sofort ihrer neuen Rolle als „totum factor“ im Haus bewusst waren. Meine Großmutter verteidigte entschieden unsere hinteren zwei Zimmer, den Keller, den Dachboden, den Kuhstall, den Hühnerhof und das Gartenrecht, das uns zur Hälfte zustand. Dennoch benahm sich Tiron wie der alleinige Hausherr. Es kam sehr oft zu lautstarkem Streit, wenn Tiron und Mariza sich über die Regeln des Zusammenlebens hinwegsetzten und uns bis ins Mark schikanierten. Wäre es zu Handgreiflichkeiten gekommen, wären meine Großeltern den Kolonisten unterlegen gewesen, und die verbale Auseinandersetzung brachte gar nichts. Bei meinem Großvater, wuchsen aus den ständigen Reibereien mit den Kolonisten Rachepläne. Er sagte: „Ich lauere diesem Teufel auf und erschlage ihn bei Dunkelheit mit der Holzhacke.“ Ab diesem Zeitpunkt ließ meine Großmutter meinem Großvater bei Dunkelheit nicht aus den Augen.
Als die ersten Männer heimkehrten, verschafften sie sich nach und nach Respekt. Es kam immer wieder zu Handgreiflichkeiten, bei denen die deutschen Nachbarn den Bedrängten zu Hilfe kamen. Unsere Nachbarn zur linken Seite waren geflüchtet und zur rechten Seite war der Hausherr nach Russland verschleppt. Von der Miliz oder von den Behörden war kein Beistand zu erwarten. Bei uns gab es großen Streit wegen einem Platz im Stall für unsere neu erworbene Kuh. Tiron wollte sie nicht in den Stall lassen, doch die Behörden sagten ihm, dass er dies nicht verwehren kann.
Kein halbes Jahr nach Einzug der Kolonisten waren Hof und Geflügelgarten ganz verändert. Mit seinem Pferdegespann hatte Tiron das Hoftor und das Scheunentor niedergerissen. Vom Fahrweg hatte man nun freie Sicht bis zu den „Krautstücker“, den Kartoffeläckern. Das Haus, das meine Großeltern 1929 erbaut hatten, wurde total heruntergewirtschaftet. Ringsum bröckelte mit der Zeit der Putz ab. Wehmütig dachten wir daran, wie sorgfältig die stolzen Besitzer vorher immer damit umgegangen waren. Doch wir konnten nichts sagen und durften hier gerade nur wohnen.
Der gebrochene Arm
An Allerheiligen 1947 ging meine Großmutter mit mir in den Friedhof zu den Gräbern der Angehörigen,  um am großen Kreuz mit dem Pfarrer den Rosenkranz für die Verstorbenen zu beten. Mein Großvater versorgte das Vieh und wollte dann nachkommen. Während der Andacht am Kreuz hörte man aus der Ferne lautes Schreien. Der Pfarrer sagte: „Die Kolonisten wollen wohl unsere Andacht stören“. Meine Großmutter wurde unruhig und wir gingen heimwärts. Auf halbem Weg begegnete uns ein Mann, der sagte: „Dem Vetter Franz haben die Kolonisten den Arm durchgeschlagen“. Wir liefen rasch nach Hause und fanden dort zwei Männer, die notdürftig den gebrochenen Arm meines Großvaters mit zwei schmalen Brettern schienten und in eine Schlinge legten. Mein Großvater erzählte, was vorgefallen war: Er war auf dem Gehweg entlang gegangen, wo die Kolonisten im Vorgarten eines Hauses einen Pferdewagen mit Maisstroh abluden. Als er dem Wagen und den Männern auswich, stellte sich ihm ein junger Kolonist in den Weg. Er wich ihm aus, doch der Bursche stellte sich ihm nochmal in den Weg. Da drückte mein Großvater ihn mit einer Hand sanft zur Seite, um vorbei zu kommen. Daraufhin holte dieser ein Sielenscheid vom Wagen und zielte auf den Kopf meines Großvaters. Dieser schützte seinen Kopf mit der rechten Hand, so dass der Schlag seinen Unterarm-Knochen zersplitterte. Auch die Miliz bekam diesen Vorfall zu hören und es gab eine Anzeige, die vor Gericht verhandelt wurde. Der Richterspruch schrie zum Himmel: „Der Geschädigte hat arbeitsame Bauern beim Arbeiten behindert.“ Dadurch wurden wir Deutschen mal wieder als „vogelfrei“ bestätigt.
Meine Mutter kam Mitte Juni 1948 aus Russland nach Hause. Als sie hörte, dass eine Getreide-Drusch-Partie im Dorf zusammengestellt wird, meldete sie sich Anfang Juli sogleich an. Sie hatte gesehen, dass auf unserem Dachboden fast keine Vorräte mehr vorhanden waren. Diese Knappheit war dem gebrochenen Arm meines Großvaters geschuldet,  er konnte ihn nur sehr eingeschränkt zum Arbeiten einsetzen. Die Drescher wurden für ihre schwere und schweißtreibende Arbeit gut entlohnt. Meine Mutter brachte den nötigen Weizen für ein ganzes Jahr nach Hause. Ebenso ging sie im Herbst zur Maisernte und brachte genug Körnermais nach Hause, um ein Schwein zu mästen. Die auf dem Dachboden gelagerten Vorräte wurden aber weniger, obwohl wir noch nichts davon verwendet hatten. Der Verdacht lag nahe, dass Tiron und seine Mariza die Ursache dafür waren. Wahrscheinlich glaubte Tiron, dass meine Mutter nicht zuhause war, als er die Treppe hinauf auf den Boden ging. Meine Mutter folgte ihm ganz leise. Oben angekommen sah sie, wie Tiron von unseren Maiskolben auf seinen Haufen raffte. Sie schrie ganz laut: „Tiron ce faci?“, („Tiron was machst du?“). Er kam auf sie zu und wollte sie die Treppe hinabstoßen, doch sie hielt sich fest. Durch das laute Schreien meiner Mutter kamen wir alle herbei. Tiron lachte nur und sagte: „Evi e nebună.“, („Evi ist verrückt“). Es gab auch weiterhin immer große Spannungen und man traute Tiron alle Widerlichkeiten zu. Die gegenseitige Beobachtung wurde ein alltägliches Ritual.
„Berühre mich nicht“
Meine Großmutter war eine gutmütige Frau und schluckte so manche Schikane. Einmal hatte sie den großen Wasserkessel gefüllt und angeheizt, um Bettwäsche zu waschen. Da kam Mariza, schubste meine Großmutter beiseite und wollte selbst zum Kessel. Es kam zu einem Gerangel, dabei schüttete Mariza den Eimer mit kaltem Wasser über meine Großmutter. Ich hörte den Lärm in der Waschküche und eilte ihr zu Hilfe. Mariza verzog sich mit lautem Geschrei. Am Tag danach waren wir gerade beim Mittagessen, als Tiron mit seinem Pferdewagen durchs offene Tor fuhr. Mariza eilte sogleich zu ihm und berichtete ihm, was sich am Tag davor zugetragen hatte. Wir erkannten die Tragweite dieser Szene.  Meine Großmutter schob meinen Großvater in die Kammer und ich holte das spitze Brotmesser mit meiner rechten Hand, den Arm auf dem Rücken, und stellte mich vor die Kammertür. Tiron kam mit eiligem Schritt herbei.: „Unde e Moschu?“, („Wo ist der Alte?“) Er vermutete ihn in der Kammer, stellte sich vor mich und schrie: „Fugi de aici.“ („Geh weg“). Mit seiner Brust wollte er mich beiseite drücken. Ich hielt stand und sagte: „Să nu mă atingi!“ („Berühre mich nicht!“). Vielleicht ahnte er das Messer hinter meinem Rücken. Meine Mutter und Großmutter standen wie versteinert da und hielten den Atem an. Nach bösen Flüchen und Drohungen verließ er endlich unser Zimmer. Danachwaren wir alle nass geschwitzt vor Angst und Aufregung.
Seit meine Mutter aus der Deportation heimgekehrt war, wehrte sie sich gegen die Schikanen der Kolonisten und erstritt sich ihr Recht. Früher Frau eines Steinmetzmeisters mit Kindermädchen, verdingte sie sich nach der Heimkehr aus Russland als Taglöhnerin. Oft in entfernten Ortschaften, wo man etwas mehr verdiente als mit Feldarbeiten bei den neuen Eigentümern. Auch ihr Stolz ließ diese unwürdige Haltung nicht zu.
Eines abends kam sie müde und abgearbeitet nach Hause und sah, dass Tiron seine vom Feld mitgebrachten Kürbisse im vorderen Hof abgeladen und dabei den von ihr errichteten Zaun aus Sonnenblumen-Stängeln niedergewalzt hatte. Hinter dem Zaun hätten Blumen und Küchengemüse wachsen sollen. Sie warf Tirons Kürbisse umgehend auf den Fahrweg. Der wurde handgreiflich und meine Mutter schrie laut um Hilfe. Daraufhin kamen wir heraus,  auch die Nachbarn und Passanten eilten herbei. Doch Tiron lachte nur und sagte wieder seinen Spruch: „Evi e nebună.“ („Evi ist verrückt.“). Meine Mutter schob die Kürbisse alle auf den Fahrweg und reparierte sogleich den Zaun mit der Drohung: „Das lasse ich mir nicht gefallen!“ Darauf sagte Tiron „Evi e un drac.“ („Evi ist ein Teufel“.)
Wenn meine Mutter bei der neu gegründeten Staatswirtschaft auf den Feldern gearbeitet hatte, brachte sie immer ein Bündel Gras mit nach Hause, das sie in der Mittagspause am Wegrand mit der Sichel geschnitten hatte, und legte es sogleich nach dem Heimkommen unserer Kuh zum Fressen vor. Danach verließ meine Mutter den Stall, um sich den Staub des Tages abzuwaschen. Sie beobachtete, dass Tiron unmittelbar danach in den Stall ging. Als sie ihm folgte, sah sie, wie Tiron das Gras zu seiner Kuh hinschob. Sogleich rief sie aus vollem Hals um Hilfe, noch bevor Tiron sie am Hals packte und zudrückte. Wieder kamen alle herbei und Tiron lachte sie wieder aus mit den Worten: „Evi e nebună.“
„Evi ist verrückt“
Als letzte Schandtat von Tiron möchte ich noch das „Keller-Ereignis“ erzählen. Meine Großmutter war allein zu Hause, als Tiron mit einer Axt, einer Kette und einem Vorhängeschloss in unser Kellerzimmer kam. Er stieß sie zur Seite und hackte trotz lautem Protest von ihrer Seite mit der Axt ein Loch in die Kellertür und eines in den daneben liegenden Balken. Dann schob er die Kette durch die zwei Löcher und das Vorhängeschloss durch zwei Kettenglieder, drückte es zu, und der Keller war verschlossen. Als wir am Abend alle zu Hause waren und mein Großvater das sah, nahm er sogleich Axt und Hammer, entfernte die Kette mit Schloss und warf beides vor Tirons Eingangstür. Zu dieser Zeit waren die beiden mit ihrem Pferdegespann unterwegs. Als sie dann kamen und die Kette mit Schloss sahen, brach ein Inferno in unserem Hof aus.
Tiron schrie und auch wir schrien alle vier, was unsere Stimmen an Lautstärke hergaben. Dieses Schreien hörte das ganze Häuserviertel und viele Leute strömten in unseren Hof, als ob ein Feuer zu löschen wäre. Es waren auch Kolonisten dabei, bei denen Tiron aber keine Unterstützer fand. So war er gezwungen, die Kampfarena diesmal ohne Erfolg als Verlierer zu verlassen.
In den dreizehn Jahren, die der Tyrann in unserem Haus wohnte, bin ich vom Kindesalter zu einem jugendlichen Burschen von mehr als 17 Jahren herangewachsen. In dieser Zeit ist auch mein Selbstvertrauen gewachsen, meine Lebenseinstellung, mein Rechtsbewusstsein und mein Ehrgeiz sind gereift. Ich las eifrig Bücher, die ich vom Herrn Pfarrer ausgeliehen hatte, aber auch lesenswerte Bücher aus der Dorfbibliothek, darunter auch die damalige rumänische Verfassung, die dort in deutscher Sprache vorlag. Damit hatte ich einen Trumpf gegen Tiron in der Hand und ich sagte ihm, dass seine Rechte beim Einzug von damals nicht mehr gelten und dass wir Deutsche nun gleichberechtigt sind. Dabei hielt ich ihm die Verfassung vor die Nase. Ich sagte ihm, dies oder jenes lassen wir uns nicht mehr gefallen. Das machte einen gewissen Eindruck auf ihn, auch wenn mein Mut ihn wohl überraschte. Er sagte nur: „Taci din gură.“ („Halt den Mund“). Ab diesem Zeitpunkt trat ich ihm gegenüber immer selbstbewusst auf und war auch bereit, mich bei eventuellen Handgreiflichkeiten zur Wehr zu setzen. Meine Mutter und meine Großeltern bekamen sogar Angst um mich.
Die heruntergewirtschafteten Häuser wurden 1957 den eigentlichen Eigentümern zurückgegeben. Bis aber Tiron endlich im Frühjahr 1958 auszog, vergingen nochmals Monate. Er hinterließ das Haus samt Gehöft in desaströsem Zustand. Mehr als ein Jahr hatten wir zu tun, um alles wieder wohnlich herzurichten. Das erforderte unsere ganze Arbeitskraft und unser ganzes Geld. Ich half dabei mit allen meinen Kräften mit.
Gegenseitige Achtung
Soweit ich nach so vielen Jahren noch weiß, haben die unmenschlichen Kolonisten nach und nach unser Dorf verlassen. Mit den Verbliebenen lebten wir ab Anfang der sechziger Jahre friedlich zusammen. Nach den Erlebnissen mit Tiron hatte ich jedoch einen tiefsitzenden Groll auf das System, das solchen Menschen die uneingeschränkte Macht gegeben hat, um die deutsche Bevölkerung zu entrechten und zu schikanieren. Mit den Jahren änderte sich diese Einstellung aber und ich trat auch in der alten Heimat Banat immer für Gerechtigkeit, gegenseitige Achtung der Menschenwürde und für Hilfsbreitschaft ein.