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Chronik von Guttenbrunn: Es muss nicht immer eine Festschrift sein

Manumissionsschein für den Guttenbrunner Ansiedler Johann Gölz, ausgestellt von der kurfürstlichen Kanzlei in Mainz am 1. April 1760. Foto: Archiv der HOG Guttenbrunn

Vor zwei Jahren jährte sich das Jubiläum der karolinischen Ansiedlung im Banat zum dreihundertsten Mal. Von 1722 bis 1726 vollzog sich die erste deutsche Masseneinwanderung in die 1716 eroberte habsburgische Provinz. Mit wenigen Ausnahmen hat die akademische Forschung bisher kein nennenswertes Interesse an den Gedenkjahren gezeigt, auch die Heimatforschung nicht. Öffentlich inszenierte Veranstaltungen scheinen wichtiger zu sein als gut dokumentierte neue Veröffentlichungen, die angeblich schon vorliegen: Heimatbücher, Ortsmonographien und Familienbücher.
Zu den Ortschaften, die während der frühen karolinischen Einwanderung entstanden sind, zählt auch Guttenbrunn (Zăbrani). Die Heimatortsgemeinschaft hat sich aus Anlass des Gründungsjubiläums der Ansiedlung entschieden, keine Festschrift, sondern ein Buch herauszubringen, in dem die wichtigsten Daten aller edierten und unedierten Chroniken und Publikationen zur Ortsgeschichte zusammengefasst sind (S. 3). Die Vorsitzende der HOG, Hiltrud Leber, hat sich der Sache mit Diligenz und Kompetenz angenommen.
Entstanden ist eine ein beachtenswertes Buch: Chronik des Orts und der Heimatortsgemeinschaft unter Berücksichtigung der deutschen Einwohner. Herausgegeben von der Heimatortsgemeinschaft Guttenbrunn in der Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V. Rohrbach a.d. Ilm 2024, 177 Seiten. Es ist die Geschichte in Daten eines repräsentativen Orts von mehrfacher historischer Relevanz. Die große karolinische Hecke-Ansiedlung weist einen komplexen Siedlungsverlauf auf. Signifikante Zusiedlungen haben in der mariatheresianischen Zeit stattgefunden. Ihre Entwicklung war von einem Auf und Ab gekennzeichnet, das mit anderen banatschwäbischen Siedlungen vergleichbar ist. Nicht zuletzt ist die Gemeinde die Geburtsstätte der Identifikationsfigur banatschwäbischer kollektiver Identität, Adam Müller-Guttenbrunn.
Ortschroniken
Eine wichtige Textsorte der Lokalgeschichte sind die Ortschroniken. Sie beleuchten Historie und Kultur eines Ortes über einen längeren Zeitraum und bilden oft das Gerüst von Heimatbüchern, die die Geschichte eines Ortes in monographischer Form erzählen. Im Unterschied zum Heimatbuch bringt die Chronik ihren Lesern das Werden ihrer Gemeinde kurz und bequem benutzbar näher. Die griffbereite Datengeschichte ist eine praktische Alternative zur erzählten Geschichte.
Ähnlich wie Heimatbücher verfolgen Ortschroniken einen ganzheitlichen Ansatz: Erzählt soll die „ganze Geschichte“ eines Ortes werden. Die Autorin konzentriert sich bewusst auf die deutsche Bevölkerung des Ortes und verfolgt demnach das Leben einer abgeschlossenen, sich kontinuierlich entwickelnden deutschen Dorfgemeinschaft, in die punktuell die „große“ nationalstaatliche, kontinentale Geschichte oder sogar die Weltgeschichte – vor allem in Form von Kriegen, gesellschaftspolitischen Umbrüchen, Bevölkerungsbewegungen, Pandemien und wirtschaftlichen Krisen – „von außen“ in das Dorf hereinbrachen.
Dorfchroniken sind Teil der banatschwäbischen Lokal- und Regionalgeschichte. Ihre älteste Form war die Historia domus, die Pfarreichronik, die von Ortspfarrern kontinuierlich chronologisch geführte Aufzeichnungen. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert gehörte das Führen von Schulchroniken zu den Aufgaben der Dorflehrer.
Unter Ortschronik versteht die Verfasserin nicht nur die wichtigsten Daten zur Vergangenheit der Ortschaft, sondern auch die diesbezügliche Lokalgeschichtsschreibung, aus der sie zahlreiche relevante Informationen entnimmt. Der Aufbau der Chronik orientiert sich ausschließlich am chronologischen Zeitablauf, im Unterschied zu den Heimatbüchern, die chronologisch und thematisch gegliedert sind.
Die inhaltliche Konzeption der Veröffentlichung überzeugt. Sie fasst die historischen Eckpunkte in der Entwicklung Guttenbrunns und der Guttenbrunner Heimatortsgemeinschaft zusammen. Leber knüpft an die großen Themen der banatschwäbischen Ortschronistik – Ansiedlung, Kirche, Schule, Vereine, Wirtschaft und Gesellschaft im lokalen Raum und Aussiedlung – zwar an, überschreitet diese aber auch durch bemerkenswerte Hinweise. Die reichhaltige Illustration ist mit den Inhalten abgestimmt. Es ist eine Chronologie in Wort und Bild.
Demographie
Mehrere thematische rote Fäden wie die demographische, wirtschaftliche und kirchliche Entwicklung durchziehen die Veröffentlichung. Während des Türkenkriegs 1715-1718 haben die habsburgischen Militär- und Kameralbeamten 1717 eine Konskription (Zusammenschreibung der Steuerpflichtigen zur Erhebung der Kriegssteuer) der ansässigen Banater Bevölkerung durchgeführt. Dabei wurden im späteren Guttenbrunn lediglich zwanzig steuerzahlende Haushalte gezählt. 1724 ließen sich rund 500 Odenwälder in der neuen Kolonistensiedlung nieder. Es war die erste deutsche Siedlung in dem zwischen Neuarad (Aradul Nou) und Lippa (Lipova) gelegenen Abschnitt der unteren Marosch.
Die Daten der Chronik geben Aufschluss über die Einwanderungsschübe, die den Ort in der Frühphase seit der Ansiedlung erfasst haben. Im Vorfeld des neuen Türkenkriegs haben sich 1736 Schwarzwälder Familien im Ort niedergelassen, denen 1745 weitere 61 Personen folgten. In der frühtheresianischen Regierungszeit kamen bis 1752 weitere Ansiedler aus Lothringen und den linksrheinschen Gebieten (Kurmainz) hinzu. Eine letzte Ansiedlungswelle erfolgte in der Schlussphase des Siebenjährigen Krieges, ab 1762. In der späten mariatheresianischen Zeit entstanden östlich und westlich des Ortes weitere deutsche Siedlungen.
Die Josephinische Landesaufnahme verzeichnete im Ort 284 Häuser, die Gemarkungsfläche wird mit 7571 Katastraljoch und 1834 Quadratklafter angegeben. 1777 zählte Guttenbrunn rund 1.500 Einwohner. Das Dorf wies 1783 eine ausgeglichene Besitzverteilung auf: in 278 Häusern lebten fünf Vollbauern (Bauern mit einer ganzen Ansässigkeit), 182 Halbbauern, 88 Viertelbauern und ein einziger Achtelbauer. Die weitere Bevölkerungsentwicklung wird sowohl anhand des in der Pfarreichronik oder in Diözesanschematismen mitgeteilten Seelenstandes (Status animarum), als auch – später, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – aufgrund der Angaben in den staatlichen Volkszählungen verfolgt.
Der höchste Bevölkerungsstand wurde 1880 erreicht: 3165 Einwohner. Im nachfolgenden Zeitraum ließ das natürliche Bevölkerungswachstum bei steigender Lebenserwartung schrittweise nach. So hielten sich Geburten- und Sterberate von 1906 bis 1915 die Waage. Nicht nur Guttenbrunn, sondern die ganze Region befand sich im sogenannten ersten demographischen Übergang, dessen wichtigstes Kennzeichen im Banat die Verbreitung des Ein-Kind-System war. 1936 siedelten sich in Guttenbrunn mehrere kinderreiche Familien aus dem Banater Bergland (Wolfsberg und Weidenthal) an. Wie in vielen anderen banatschwäbischen Orten hat infolge des tiefgreifenden gesellschaftspolitischen Wandels nach dem Zeiten Weltkrieg eine Umkehr der Mehrheitsverhältnisse stattgefunden. Das heutige Guttenbrunn ist weitestgehend ein ethnisch homogener rumänischer Ort, die historische kulturelle Vielfalt ist abhandengekommen.
Inhalte und Quellen
Die Chronik dokumentiert Ereignisse, die in eine Lokalgeschichte mit wissenschaftlichen Ansprüchen einfließen können. Einen thematischen Schwerpunkt bildet die Kirche. In der späten mariatheresianischen Zeit erfolgte die Errichtung fester Kirchen in Guttenbrunn, Altbeschenowa (Dudeştii Veci), Deutschsanktpeter (Sânpetru German), Großsanktnikolaus (Sânnicolau Mare), Hatzfeld (Jimbolia), Saska (Sasca) und Detta (Detta). Im Vordergrund stehen dabei Kirchenbau und –renovierungen wie auch die Anlage und Betreuung des Friedhofs im Laufe der Zeit. Zu den interessanten Akten, zählt das fotographisch wiedergegebene Schrei- ben, das 1973 aus Anlass des Wiederaufbaus des Kirchenturmes vom Ortspfarrer verfasst, in der Kugel des Turmkreuzes zur Memoriabildung deponiert und 2019 bei Renovierungsarbeiten wieder ans Tageslicht gebracht wurde. Eng verbunden mit der Kirche war die Schule. Im Schuljahre 1857/58 unterrichteten drei Lehrkräfte über 400 Schulkinder.
Viele Einträge thematisieren die Veränderungen der Ortsgemarkung seit der Siedlungsgründung, durch den Erwerb von Überland, Pußten und die Erweiterung des Landbesitzes in Nachbargemeinden. Im Bereich der Wirtschaftsaktivitäten kommen schwerpunktmäßig das in Guttenbrunn zahlreich vertretene Mühlengewerbe und der Weinbau zum Zuge. Als Ausdruck der Wirtschaftskraft der Gemeinde werden punktuell die Steuerabgaben der Gemeinde angeführt. Mitberücksichtigt sind die Einführung agrartechnischer Neuerungen und die Entwicklung des lokalen Kreditwesens. Wirtshäuser und Blaskapellen stehen für die Formen lokaler Geselligkeit. Festgehalten werden die leidvollen periodischen Missernten und zerstörerischen Feuerbrünste. Schon 1898 gab es im Ort ein Fotografengewerbe, der „Abnehmer“ musste nicht wie andernorts aus der Stadt kommen. Daher sind auch die überlieferten lokalen Bildquellen zahlreicher als in anderen Gemeinden.
Die Vielfalt der Quellen, die von der Autorin ausgewertet werden, macht diese Chronik zu einer wahren Fundgrube. Herangezogen werden die historische Matrikelbücher (Kirchenregister) – Tauf-, Heirats- und Totenbuch. Wenn vielerorts auch schon früher vorhanden, waren Pfarrämter seit der mariatheresianischen Zeit zu ihrer Führung verpflichtet. Sie sind öffentliche Urkunden über die in ihnen verzeichneten kirchlichen Handlungen. Bis ins ausgehende 19. Jahrhundert wurden im alten Ungarn Personenstandsfälle nur von den Religionsgemeinschaften verzeichnet. Erst 1895 wurden die entsprechenden staatlichen Personenstandsbücher eingeführt.
Von herausragender Bedeutung ist die Pfarrchronik, die für Guttenbrunn von dem, aus dem niederösterreichischen Fels stammenden Pfarrer Balthasar Paschinger (1729-1795) erst eine Generation nach der Ansiedlung eingeleitet wurde. Paschinger wurde 1756 Administrator der Pfarrei und ein Jahr darauf Priester ernannt. Der Seelsorger wirkte in Guttenbrunn bis 1766. Beim Aufzeichnen der Pfarrchronik fasste er die Pfarreientwicklung bis zum Zeitpunkt ihrer Übernahme zusammen. Im Vor- und Nachsatz der Veröffentlichung wird das wichtige Schriftstück abgebildet, auch eine Übersetzung liegt vor. Seine Nachfolger führten die Pfarreichronik regelmäßig fort. Im Volltext wird auch ein Heiratsvertrag aus dem Jahre 1778 wiedergeben (S. 24-25).
Gespalten war lange Zeit das Verhältnis der Ortsbewohner zu ihrem größten Sohn, Adam Müller Guttenbrunn (1852-1923). 1907 soll er seinen Heimatort besucht haben und diesen fluchtartig „wegen Denunziantentum“ verlassen haben (S. 50). Erst im Zuge der politischen Ethnisierung der Banater Schwaben, die zu einem kollektiven Identitätswandel führte, wurde sein Werk und Wirken aufgewertet.
Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg werden Informationen aus den Jahreschroniken und Aufsätzen, die im „Guttenbrunner Heimatblatt“ erschienen sind, entnommen. Zitiert werden auch Aktenstücke wie auch Manuskripte und Typoskripte aus dem Archiv der Heimatortsgemeinschaft. Der Akzent liegt auf der Inszenierung von lokaler Identität in Veranstaltungen der HOG und auf den Kontakten mit der heutigen Guttenbrunner Bevölkerung. Wir erfahren, dass um 1998 Guttenbrunner in etwa 145 Ortschaften in Deutschland eine neue Heimat gefunden haben.
Für die frühkommunistische Zeit stößt der Historiker auf überraschende, zuweilen auch unbekannte Informationen: Berichtet wird beispielsweise von den öffentlichen Gedenkveranstaltungen für die Deportationsopfer aus Anlass der Ankunft der Russland-Heimkehrer oder über die Einsetzung eines deutschen Bürgermeisters 1952.
Dokumentenanhang
Ein statistischer Anhang schließt das Buch ab. Wertvoll ist das Verzeichnis der Erstansiedler und frühen Zuzügler (S. 124-146). Wie in den dokumentarischem Anhang von Heimat- oder Familienbüchern fehlen nicht die namentlich angeführten Opfer der beiden Weltkriege und der Russland-Deportation. Ein erfreuliches Novum ist die Berücksichtigung der rumänischen Opfer aus dem Ort im Ersten Weltkrieg. Bei den Opfern des Zweiten Weltkriegs hingegen werden nur die deutschen Angehörigen der Wehrmacht, Waffen-SS und der rumänischen Armee, nicht aber die gefallenen rumänischen Soldaten aus dem Ort verzeichnet.
Interessant sind die Daten über die Ortszünfte am Vorabend der Revolution von 1848/49 wie auch die Sammelbegriffe, die der statistischen Aufzählung zugrunde liegen (S. 147-149). Die Zünfte umfassten mehrere Berufsgruppen, die unter „schweren“ und „leichten“ Zünften zusammengefasst werden. Die Begriffe verweisen auf gegensätzliche Ordnungskategorien, die für das anbrechende Industriezeitalter spezifisch und bis heutzutage gängig sind: Schwer- und Leichtindustrie. Der Oberbegriff „schwere Zunft“ wird auf das Eisen verarbeitete Gewerbe, auf Hufschmiede, Schlosser, Wagner, Tischler, Fassbinder, aber auch auf Maurer und Zimmerleute angewandt. Zur „leichten Zunft“ zählen Zeug- und Leinenweber, Männer- und Frauenschneider, Hutmacher, Seiler, Kürschner, Schuster, Barbiere, Mühlenbesitzer, Weißbäcker und „Kepenekschneider“.
Vom Ursprung her ist der Kepenek ein traditionelles osmanisch-balkanisches Hirtenkleid. Der mit Stolz getragene schwarze lange gewalkte Filzüberwurf wurde vorrangig von Hirten, so auch von den ungarischen, serbischen und rumänischen Hornviehhirten (ung. csordás oder gulyás) und Schafhirten (ung. juhász) getragen. Die Autorin erklärt das auch von den Schwaben getragene Kleidungsstück wie folgt: „Kepenek ist eine Art Übermantel mit doppeltem Sattel, den man bei schlechter Jahreszeit gegen Regen wie auch gegen Kälte verwendet. In der Hauptsache diente er den Kutschern von Pferdefuhrwerken während der Fahrt“ (S. 152). Aus dem Kepenek (ung. köpeny für Mantel oder Überrock) entwickelte sich der urbane, aus Schafswolle handgemachte, helle oder dunkle, gefilzte modische Wollmantel.