„Wer schön sein will, muss leiden“, bekommt Marianne Reng von ihrer Mutter zu hören, als sie 1975 als 15-Jährige an ihrer ersten Kirchweih in ihrem Heimatort Neudorf teilnimmt. Die Kirchweihtracht ist nämlich alles andere als bequem. Damit Mariannes ausladender Rock die richtige Form erhält, werden ihr fünf steif gestärkte Unterröcke um die Taille geschnürt. Stundenlang muss sie darin ausharren, sie kann weder sitzen noch zur Toilette gehen. Nach dem Fest hat sie einen durch die enge Einschnürung verursachten roten Streifen um den Leib. Auch wenn die Jugendliche ein gewisses Unbehagen beim Tragen ihrer Trachtenröcke empfand, dürfte der Stolz, beim Kirchweihfest dabei zu sein, überwogen haben.
Zu sehen ist Marianne Rengs Kirchweihtracht und erzählt wird die damit verbundene Geschichte in der am 26. September im Donauschwäbischen Zentralmuseum Ulm (DZM) eröffneten Ausstellung „Schwerer Stoff. Frauen – Trachten – Lebensgeschichten“. Henrike Hampe, die Kuratorin der Ausstellung, hat aus der großen Textilsammlung des DZM, die rund 12 000 Kleidungsstücke umfasst, die wertvollsten ausgewählt: 20 komplett erhaltene Kleidungsensembles von donauschwäbischen Frauen und Mädchen aus der Zeit von 1880 bis 1990. Das Besondere: Jedes Ensemble erzählt eine Geschichte und gibt überraschende Einblicke in die einstige Lebenswelt seiner Trägerin. So unterschiedlich und vielfältig wie die gezeigten Kleidungsstücke und Trachten – vom Alltagsgewand bis zur Sonntags- und Festkleidung, von der Mädchen- bis zur Brautkleidung, von der Kirchweihtracht bis zum Totenkleid – sind auch die damit verknüpften Geschichten. Sie erzählen von Stolz und Fügsamkeit, von Verlust und Tod, von Hoffnung und Aufbruch.
Repräsentieren – Herstellen – (Er)tragen – Manipulieren – Verlieren – Bewahren – Verwandeln sind die sieben Themenbereiche der beeindruckend gestalteten Ausstellung, deren doppeldeutiger Titel „Schwerer Stoff“ zum einen auf die Last der Trachtenröcke hinweist, zum anderen verdeutlichen will, wie vielschichtig und komplex der Stoff „Tracht“ ist. Was den Begriff „Tracht“ anbelangt, wird in der Ausstellung zwischen Kleidung und Tracht differenziert. Wenn es um das allgemein übliche, regelmäßig getragene „Gewand“ der Donauschwäbinnen geht, ist von Kleidung die Rede. Der Begriff „Tracht“ hingegen wird für erstarrte Kleidungsformen verwendet, die Tradition und Gemeinschaft nach außen symbolisieren sollen.
Ausdruck der Zugehörigkeit
Die Ausstellung eröffnet vielseitige, mitunter unverhoffte Zugänge zum Thema textile Erinnerungsträger. Die gezeigten Kleidungsensembles sind Unikate, zumal sie aus einer Zeit stammen, in der Kleidung nicht industriell hergestellt, sondern maßgeschneidert wurde. Die Kleidung unterschied sich von Ort zu Ort, von Region zu Region. Sie war Ausdruck der Zugehörigkeit zu einem Dorf, zu einer sozialen Gruppe oder Konfession. Den traditionsbewussten Kleidungsstil, bei dem die wohlhabenden Bauern tonangebend waren, nannte man „baurisch“, der eher von städtischen Moden beeinflusste Kleidungsstil der Handwerker und Gebildeten hieß dagegen „herrisch“. Bestimmte Details der Gewänder waren mit feststehenden, genau deutbaren Bedeutungen verknüpft und gaben Rückschlüsse auf den sozialen Status, den Familienstand oder das Alter der Person.
Kleidung war in der bäuerlich geprägten Lebenswelt der Donauschwaben Frauensache. Mädchen und Frauen stellten sie eigenhändig her, passten sie an, reinigten und reparierten sie. Dadurch waren sie selbst Gestalterinnen ihrer äußeren Erscheinung, gleichzeitig jedoch eingeschränkt durch feste dörfliche und kirchliche Regeln, die ihre Lebenswelt bestimmten. Obwohl traditionell gewachsen, waren die Gewänder und Trachten nichts Starres, sondern stets in Bewegung. Neumodische Stoffe – in den 1930er Jahren vor allem Kunstseide und Plüschsamt –, Einflüsse der benachbarten Ethnien, das Aufkommen neuer Accessoires führten zu Veränderungen und setzten neue Moden in Gang. Dass Tracht auch ideologisch nutzbar gemacht wurde, zeigt die in den 1930er Jahren in Jugoslawien von nationalsozialistischen „Erneuerern“ eingeführte „Einheitstracht“ – eine reine Erfindung, eine „Uniform im Dirndlstil“, die die deutsche Gemeinschaft stärken, sie aber auch gegen andere sichtbar abgrenzen sollte.
Ausdruck des Wohlstands
Gleich zu Beginn der Ausstellung springt einem ein Kleidungsensemble aus einem goldgelben, opulent gemusterten Stoff ins Auge. Getragen wurde es von Katharina Just aus der Schwäbischen Türkei. „Bauernbrokat“ nannte man den farbenfrohen Kunstseidenstoff, der um 1940 der letzte Schrei in den ungarndeutschen Dörfern war. Wie die damals 14-jährige Katharina zu diesem sehr teuren Material kam, wird in der Ausstellung erzählt. Die Festkleidung einer Bauerntochter zeigte den Wohlstand ihrer Familie – je prächtiger, desto besser die Heiratschancen. Bei der Hochzeit wurde dann aber traditionell Schwarz getragen. Als Beispiel dafür steht die tiefschwarze Brautkleidung, die Maria-Anna Treml aus Orzydorf bei ihrer Hochzeit im Jahr 1880 getragen hat. Es ist das älteste Gewand der Ausstellung.
Dass auch Brautmode einem Wandel unterworfen ist, zeigt die Braukleidung von Anna Remy aus Kreuzstätten. Sie war 1955 die erste im Dorf, die zwar „schwowisch“, mit „Tschurak“ und Rock, jedoch in Weiß geheiratet hat.
Textilpflege war Frauensache
Die zweite Station der Ausstellung gibt mittels Textilexponaten, alten Fotos und diversen Gegenständen, wie zum Beispiel die von Anna Gillich aus Perjamosch verwendeten Stickvorlagen für Blusen, Einblicke in die Herstellung und Pflege von Kleidung – eine Aufgabe, die den Frauen zufiel. Sie mussten dafür sorgen, dass ihre Familien genug anzuziehen haben und die Kleidung geflickt, gewaschen und gebügelt wird. Mädchen erlernten schon von klein auf alle Fertigkeiten, die für die verschiedenen textilen Handarbeiten notwendig waren.
Festkleidung unterlag klaren Schönheitsvorstellungen. Worum es in der dritten Station der Ausstellung geht, macht folgendes Zitat deutlich: „Wir Schwabenmädel hatten viel zu tragen, vier Unterröcke waren normal, sie mussten schön gestärkt und in Falten gelegt sein. Je breiter man da stand, umso besser“. Schwere Stoffe und steife Röcke wogen einiges und schränkten ein. Sie zu tragen setzte eine gewisse Leidensfähigkeit und Disziplin voraus, Eigenschaften, die in der bäuerlichen Gesellschaft durchaus erwünscht waren. Hier ist unter anderem die Kirchweihtracht von Marianne Reng zu sehen. Ein Auszug aus dem anlässlich der Zweihundertjahrfeier der Gemeinde Bakowa 1986 gedrehten Film veranschaulicht die aufwändige Ankleideprozedur.
Die Instrumentalisierung der Tracht für politische Zwecke durch die nationalsozialistische Erneuerungsbewegung in Jugoslawien, die in der nächsten Station thematisiert wird, bot der Kuratorin Gelegenheit, die wertvolle, seit 2022 im Besitz des DZM befindliche Grafik-Sammlung der österreichischen Künstlerin Erna Piffl (1904-1987) in die Ausstellung miteinzubeziehen. Piffl, eine überzeugte Nationalsozialistin, reiste in den 1930er Jahren wiederholt nach Ungarn, um dem Untergang geweihtes „gesundes deutsches Volksgut“ aufzuspüren und zu dokumentieren. In Bleistiftzeichnungen und Aquarellen porträtierte sie vor allem Frauen und Mädchen in Festkleidung. 45 ihrer Bilder erschienen 1938 unter dem Titel „Deutsche Bauern in Ungarn“ im Berliner Verlag Grenze und Ausland. Trotz ideologischer Deutung sind Erna Piffls Werke dennoch harmlos. Sie verstand sich in erster Linie als Künstlerin, aber auch als Dokumentarin. So versah sie einen Teil ihrer Bilder mit aufschlussreichen Hintergrundinformationen.
Auf Exponate, die größtenteils Banater Herkunft sind, baut die Station „Verlieren“ auf. Es geht hier um Kleidungsgeschichten, die mit extremen Erfahrungen und belastenden Momenten im Leben donauschwäbischer Frauen verbunden sind: Flucht, Deportation, Gewalt, Tod. Welch ein Trauma die im Winter 1944/45 erfolgte Deportation in die Sowjetunion für die über 50 000 aus Rumänien, Ungarn und Jugoslawien verschleppten Frauen darstellte, offenbaren die Bilder von Juliane Rausch aus Sanktandres, die sich in den 1980er Jahren ihre Erinnerungen an die Deportationszeit von der Seele gemalt hat, wie auch das von Karola Ackermann aus Moritzfeld aufgeschriebene Russland-Lied. Mitgebrachte Kleidung wurde in den Zwangsarbeitslagern gegen Lebensmittel eingetauscht. Die Verschleppten erhielten gleichförmige, robuste Arbeitskleidung. Jede siebte Frau überlebte das Inferno nicht. Die zu Hause verbliebenen Kleidungsstücke wurden oft als Andenken an die verstorbenen Töchter aufbewahrt, wie die Kleidung von Susanne Zauner aus Schöndorf. Ihre Mutter übereignete die Tracht später der HOG Schöndorf und von dort gelangte sie schließlich ins Museum. Erzählt wird in dieser Station auch die Geschichte der von Elisabeth Linz aus Jahrmarkt getragenen schwarzen Festtagskleidung, deren Rock sie bereits im Jahr 1911 als 16-Jährige erhalten hatte. Nach ihrem Tod wollte sie darin bestattet werden. Aber als sie 1988 starb, brachte ihre Tochter das nicht übers Herz – stattdessen übereignete sie die Kleider dem Museum.
Mitgenommene Kleidungsstücke
Flucht, Vertreibung, Aussiedlung führten meistens zu einer Abkehr vom gewohnten Kleidungsstil. Die mitgenommenen Kleidungsstücke, insbesondere Sonntags- und Festkleidung, waren als etwas Wertvolles erachtet worden, doch in der neuen Umgebung mussten die Frauen feststellen, dass sie sich damit als Fremde selbst ausgrenzten. So wanderten die besten Stücke in den Schrank und wurden oft jahrzehntelang als Heimatandenken aufbewahrt, bis sie schließlich dem Museum anvertraut wurden. Solche Erinnerungsstücke werden in der Station „Bewahren“ gezeigt. Doch manche Frauen, oft sind es die älteren, wie Susanne Rastädter, die mit 86 Jahren von Jahrmarkt nach Deutschland übersiedelte, hielten am traditionellen Kleidungsstil fest. Aber auch Menschen, die sich kleidungsmäßig anpassten, waren am Erhalt ihrer Tradition interessiert. Sie bewahrten Erbstücke auf, trugen ihre kostbare Tracht bei Heimattreffen oder ließen sich, wenn sie in Trachten- und Tanzgruppen mitwirkten, Kleidung nach historischen Vorbildern schneidern.
Kleidungswechsel ist eine Frage der Generation und widerspiegelt die Integration in die neue Heimat. Genau das bringt ein großformatiges Foto, das in der letzten Station der Ausstellung – „Verwandeln“ – die Aufmerksamt der Besucher auf sich lenkt, zum Ausdruck. Darauf abgebildet sind ungarndeutsche Vertriebene bei einer Wallfahrt nach Mariazell 1957. Während die Töchter modisch schick gekleidet sind, halten die Großmütter am Alten fest. Die Mütter sind irgendwo dazwischen. Aus den mitgebrachten Gewändern wurde modische Kleidung genäht, wobei sich die breiten Röcke als wertvoller Materialfundus erwiesen. So entstand auch das grüne Dirndl der Ungarndeutschen Katharina Märcz. Die damit verbundene Geschichte wurde von Jugendlichen vom Ulmer Zentrum für Gestaltung – neben dem Ethnographischen Museum Budapest, der Koordinierung Ostmittel- und Südosteuropa am Museum Europäischer Kulturen Berlin und der Kulturreferentin für den Donauraum einer der Kooperationspartner der Ausstellung – illustriert. Ein weiteres Ergebnis dieser Zusammenarbeit sind die von Schülerinnen und Schülern im Fach Modedesign aus Resten alter donauschwäbischer Kleidungsstücke geschaffenen modischen Outfits.
Ein Besuch der Ausstellung ist in jedem Fall lohnenswert. Sie gewährt Einblicke in einen wichtigen Bereich der Alltagskultur der Donauschwaben und beleuchtet das Thema Kleidung/Tracht in all seinen Facetten. Die Ausstellung ist bis zum 21. April 2025 geöffnet. Näheres zum Programmangebot finden Sie unter www.dzm-museum.de. Der Begleitband zur Ausstellung (zweisprachig Deutsch/Englisch, 156 Seiten, 19,80 Euro) kann im Museumsshop erworben werden.