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Über Umwege nach Sachsen verschlagen - Flucht aus Sackelhausen im Spätsommer 1944

Die Familie Schuster aus Sackelhausen 1947 in ihrer neuen Heimat Zschortau in Sachsen. Foto: privat

Matthias Schuster aus Sackelhausen, geb. am 13. Dezember 1937, erlebte als siebenjähriges Kind die Flucht der Familie Richtung Westen mit den Eltern, der Großmutter und zwei Geschwistern  bis nach Zschortau in Sachsen. Er besuchte in der Sowjetischen Besatzungszone die Schule und machte in Bitterfeld eine Lehre als Zimmermann. Als er 1955 studieren wollte, wurde ihm mitgeteilt, dass er erst drei Jahre Militärdienst ableisten müsse. Da setzte er sich in den Westen ab, studierte Architektur und landete auf der Insel Reichenau im Bodensee und danach in der Schweiz, wo er heute noch lebt. Vor 10 Jahren hat er über eine Hilfsaktion Kontakt zu Rumänien bekommen und ist auf dem Rückweg auch nach Sackelhausen gefahren. Er nahm mit der HOG Sackelhausen Kontakt auf und wurde auch Mitglied unserer Landsmannschaft. 2023 nahm er an der Kirchweih in Sackelhausen teil. Aus aktuellem Anlass hat er für die Banater Post seine Erinnerungen an die Flucht vor 80 Jahren niedergeschrieben.

An den schönen Spätsommer 1944 kann ich mich als damals fast Siebenjähriger noch sehr gut erinnern. Die Ereignisse dieser  Zeit und der darauffolgenden Jahre sind fest in meinem Gedächtnis eingebrannt. Dazu trugen auch die Erzählungen meiner Eltern, Großeltern und Verwandten bei.
Noch herrschte Wohlstand in unserem Dorf, aber es war Krieg. Viele Männer aus Sackelhausen standen an der Front – im deutschen, aber auch im rumänischen Heer. Viele junge Männer und Familienväter waren um diese Zeit bereits gefallen, auch mein Taufpate Matthias Schuster, der Sohn meines Onkels Josef.
Am 23. August 1944 kehrte die rumänische Armee Deutschland den Rücken und verbündete sich mit der Roten Armee. Die Deutschen waren ab sofort Feinde im eigenen Land. Damit war auch unser Dorf plötzlich in die große Politik verwickelt und wir sollten die Folgen stellvertretend für das deutsche Volk mittragen.
Die in diesem Jahr besonders reiche Ernte wurde noch eingebracht, doch es gab Verzögerungen, weil es an Arbeitskräften mangelte. Und dann kam die Katastrophe über das Dorf. Am 17. September 1944 wies die sich im Rückzug befindliche deutsche Wehrmacht die Bewohner von Sackelhausen an, das Dorf innerhalb von zwei Stunden wegen der herannahenden Front zu verlassen. So formierte sich ein Treck aus Pferdewägen, der sich in westliche Richtung in Bewegung setzte.
Treck aus Pferdewägen
Unsere Familie – mein Vater, meine Mutter, meine Großmutter Müller, meine Schwestern Annemarie (10 Jahre alt) und Hermine (noch kein Jahr alt) und ich (7 Jahre alt) – waren dabei. Meine älteste Schwester Anni (geb. 1930) ging zu dieser Zeit ins Lyzeum in Temeswar. Sie wollte dort noch ihren Abschluss machen und blieb deshalb bei Onkel Sepp (Josef) Schuster und Tante Margaretha Gerres, die ihr Haus neben uns hatten. Onkel Sepp und seine Familie hatten sich – wie auch manch andere Dorfbewohner – entschieden, im Dorf zu bleiben. Auch mein Großvater Johann (geb. 1879), der bei meinem Onkel lebte, wollte bleiben. Er brachte aber unsere Familie mit seinem Banjowagen in einer zweitägigen Fahrt nach Hatzfeld, nahe der serbischen Grenze. Hier hatten wir einen Aufenthalt von zwei Wochen und hofften, bald nach Sackelhausen zurückzukehren. Großvater besuchte uns dort und brachte geschlachtete Enten mit.
An diese Zeit in Hatzfeld habe ich sehr schöne Erinnerungen, die mich mein ganzes Leben positiv begleiten sollten. Die Sackelhauser Familien wurden dort auf die Bauernhöfe verteilt und halfen mit, die Ernte einzubringen. Wir hatten das Glück, bei einem Bauern und Winzer Unterkunft gefunden zu haben. Die Traubenernte hatte gerade begonnen. Meine Eltern arbeiteten im Weinberg und wir Kinder durften die geernteten Trauben in einem fast vier Meter großen runden Bottich, der in der Mitte des Hofes aufgestellt war, barfuß zertreten. Das war eine fröhliche Tätigkeit für uns Kinder: bei herrlichem Spätsommerwetter hüpfend und juchzend den Saft aus den reifen Trauben zu stampfen. Und natürlich vergaßen wir nicht, von den reifen, dunkelblauen Früchten immer wieder zu kosten.
Aus der Rückkehr wurde nichts, denn nach  zwei Wochen war die russische Front schon in Temeswar. Wir wurden von Begleitern der Deutschen Wehrmacht mit dem Gepäck, das meine Eltern noch hatten mitnehmen können, in bereitstehende Güterwaggons verladen. Der Zug fuhr an einem strahlend schönen warmen Herbsttag von Hatzfeld in Richtung Belgrad. Kurz vor Belgrad stoppte er plötzlich und alle Leute aus den Güterwagen mussten aussteigen und am Bahndamm vor der Brücke über die Donau im Freien warten. Die uns begleitenden Offiziere der Wehrmacht berichteten uns, dass die Brücke über die Donau gesprengt und eine Weiterfahrt nicht mehr möglich war. Die in Belgrad stationierten deutschen Soldaten organisierten in kürzester Zeit eine Überfahrt mit Lastwagen durch den Bau mehrerer aneinander gekoppelter schwimmender Pontons. Das war eine  beeindruckende Leistung.
In der Fremde
Gegen Abend wurden wir auf die bereitgestellten Lastwagen verladen und gelangten über die Donau zum gegenüberliegenden Ufer nach Belgrad. Am dortigen Hauptbahnhof stand ein Schnellzug bereit, ganz modern, sowas hatte ich bis dahin noch nie gesehen. Es war schon dunkel, als der Zug ohne Zwischenhalt bis Wiener Neustadt durchfuhr. Dort stiegen alle aus und wurden auf dem Bahnsteig mit einer kräftigen Suppe aus der Gulaschkanone verköstigt. Dann ging es weiter durch Österreich und Böhmen bis nach Schlesien.
In Ratibor in Oberschlesien wurden wir in einem feudalen Gutshof, den die deutsche Wehrmacht zu einem Flüchtlingslager umfunktioniert hatte, untergebracht. Unsere Familie bekam zusammen einen großen Raum mit bereitgestellten Stockbetten zugewiesen. Der Herbst war bereits da und meine Eltern halfen den Bauern beim Einbringen der Ernte. Wir Kinder konnten tagsüber in dem zum Gutshof gehörenden Park herumtoben und in einem Bach mit ganz klarem Wasser und wunderschönen Kieselsteinen spielen.
Die Zeit verging, von Kriegshandlungen war hier nichts zu spüren, und dann kam die Weihnachtzeit. Alle Flüchtlinge aus dem Banat kamen am Heiligen Abend zu einer Weihnachtsfeier zusammen. Der Saal hatte früher sicher den Besitzern des Gutshofs für festliche Anlässe gedient. Diese Weihnachtsfeier kann ich nie in meinem Leben vergessen: Es wurden Weihnachtslieder gesungen und alle weinten lautstark, weil sie in der Fremde sein mussten.
Neue Heimat Zschortau
Mein Vater hatte brieflich Kontakt mit einem Bekannten in Deutschland. Dieser schrieb ihm, dass in Sachsen eine Firma einen Tischler suchte. Kurz entschlossen ergriff Vater diese Gelegenheit und wir übersiedelten am 29. Dezember 1944 in das kleine Dorf Zschortau, ca. 25 Kilometer von Leipzig entfernt. Dort fanden wir Unterkunft in einer kleinen Wohnung mit zwei Räumen, ohne Klosett, ganz einfach, aber wir hatten wieder eine Bleibe, wo wir uns gut aufgehoben fühlten. Vater arbeitete in der Schreinerei des Baugeschäftes und so nahmen wir am Alltagsleben im Dorf teil. Den Unterhalt unserer Familie konnten wir mit Hilfe der Lebensmittelkarten einigermaßen gut bestreiten, auch wenn es Mutter Mühe bereitete, die hungrigen Kindermäuler zu stopfen.
Es dauerte aber nicht lange, da kam der Krieg auch in Sachsen an. Wir Kinder konnten deutlich die Luftkämpfe über uns beobachten und sahen auch brennend abstürzende Jagdbomber am Horizont. Es sollte aber für die Dorfbewohner und vor allem die Stadt Leipzig noch schlimmer kommen. Nachts heulten die Sirenen, und wir mussten im Keller des Hauses Schutz suchen. Das Dorf Zschortau blieb von den Bombardierungen verschont, die Angriffe der Alliierten konzentrierten sich auf die Stadt Leipzig. Am Nachthimmel konnten wir über der Stadt immer öfter helles Feuerleuchten sehen.
Unabhängig davon begann für mich die Schulzeit, ich wurde in Zschortau in die erste Klasse eingeschult. Wir Kinder hatten nun einen einigermaßen geordneten Tagesablauf. Die amerikanische Armee rückte immer weiter nach Sachsen vor und so kamen an einem sonnigen Frühlingstag Panzer und Soldaten auf Lastwagen in unser Dorf. Diese gingen mit Gewehren durch jedes Haus und suchten erfolglos nach deutschen Soldaten. Dann quartierten sie sich im Saal des Gasthauses ein und blieben dort einige Zeit. Wie später bekannt wurde, wollte sich die amerkanische Armee mit der russischen an der Elbe treffen. Da die Russen aber zu sehr um Berlin zu kämpfen hatten, blieben die Amerikaner länger in Sachsen. Dann kam endlich am 8. Mai 1945 die Kapitulation Deutschlands und das Ende des Krieges.
Es folgte die Besatzung durch die Sowjets und die Eingliederung in die sogenannte „Sowjetische Besatzungszone“. Für uns war Zschortau inzwischen zur „neuen Heimat“ geworden. 1946 wurde mein Bruder Manfred geboren. Meine Schwester Anni war inzwischen auch wieder bei uns. Meine Mutter starb leider viel zu früh, da war ich 13 Jahre alt. Die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen behagten mir nicht, deshalb setzte ich mich 1955 nach Bielefeld ab. Meine beiden älteren Schwestern Anni und Annamaria waren bereits über Berlin in den Westen geflohen. Mein Vater und die beiden jüngeren Geschwister blieben in der DDR.