Anfang Juni fand das 70-jährige Absolvententreffen des Jahrganges 1954 des Temeswarer Deutschen Lyzeums, später Lenauschule, in Mannheim statt. Nach unermüdlichem Einsatz ist es dem Initiator Hannes Braun gelungen, die noch „Beweglichen“ der Klasse zu mobilisieren. Zu diesem 17. Klassentreffen waren 15 von noch 29 lebenden der einst 49 Mitschüler erschienen, davon acht mit Begleitung. Das erste Treffen fand noch 1974 in Rumänien statt, 1984 dann das erste in Deutschland, in Bad Herrenalb. Fast regelmäßig gab es seither jedes zweite Jahr ein Treffen, jeweils von einem anderen Mitschüler organisiert, sodass wir unsere neue Heimat von Nord nach Süd und von Ost nach West kennenlernen konnten.
70 Jahre haben unser Aussehen verändert und die Anreise wurde beschwerlicher. Doch Geist und Seele sind unverändert geblieben. Erstmals haben wir im Jahr 1951 zusammengefunden, als vierter Anfangsjahrgang, und absolvierten im Jahre 1954 als fünfter Abiturjahrgang. Somit gehören wir noch zur Gründergeneration der späteren „Lenauschule“. Direktor war Dr. Heinz Feichter. Es war eine Umbruchszeit: Die letzten Verschleppten aus der Sowjetunion kamen nach Hause und im selben Jahr fand die Zwangsumsiedlung eines Teiles der Banater Schwaben in den Bărăgan statt. Schüler wurden aus der Aufnahmeprüfung herausgenommen und landeten in der Verbannung.
Wir hatten kein eigenes Schulgebäude und waren als Gäste im Loga-Lyzeum untergebracht, gegenüber der „Securitate“, mit der manche Eltern schon schlechte Erfahrungen gemacht hatten. In den meisten Fächern hatten wir keine Lehrbücher. Das war, wie die „politische Neuorientierung“, eine Herausforderung für die Lehrer. Und auch eine Belastung für die Schüler, die den ganzen Lehrstoff mitschreiben mussten. In den Klassen standen Holzöfen, Schüler mussten selbst Brennholz mitbringen.
Dass so viele auswärtige Schüler im Internat untergebracht und in der Kantine versorgt werden konnten, war eine großartige organisatorische Leistung der Schule. Die Bedingungen waren nicht optimal, doch die Enge förderte das Zusammenleben und die Bildung von Freundschaften. Es wurde auf Ordnung und Disziplin geachtet. In der Kantine wurde von der Wes Bärbel mit den kargen Mitteln, die sie hatte, schwäbisch gekocht. Mittags gab es meist Kartoffeln, gelbe Rüben, Bohnen oder Linsen, morgens Tee mit Schwarzbrot und Stichmarmelade. Dr. Weresch als „Hausvater“ setzte durch, dass die Kantine selbst Schweine halten und Gemüse anbauen konnte.
Die meisten von uns kannten sich vor der Aufnahmeprüfung nicht. Was uns aber alle verband, war die Lebenssituation in einer neuen Gesellschaft nach der Enteignung und dem politischen Stigma der deutschen Gemeinschaft. Aus stolzen Bauern waren unsere Eltern arme Taglöhner geworden, aus wohlhabenden Bürgern politisch Verdächtige. Alle sahen im Lernen die Möglichkeit, im Leben weiterzukommen. Dieser gemeinsame Grundsatz führte zu dem festen Zusammenhalt, der bis heute besteht.
Mit unseren Professoren kamen wir gut zurecht und schätzen sie heute noch. Unser Klassenlehrer Dr. Hans Weresch war uns nicht nur Deutschlehrer, sondern auch Wegweiser ins Leben. Mit 81 Jahren beehrte er uns noch bei unserem ersten Treffen in Bad Herrenalb, später besuchten wir in Freiburg sein Grab. Diese Lehrer haben uns Wissen beigebracht, aber auch so manche heitere Stunde beschert, die uns lebhaft in Erinnerung blieb, ebenso wie der Pförtner Józsi-Bácsi mit seiner legendären Aussage: „Ich und der Herr Direktor haben beschlossen“.
An den kulturellen Veranstaltungen, für die Dr. Weresch die Triebkraft war, haben wir uns gerne beteiligt. Die Ausfahrten in die Dörfer mit Theaterstücken, Chor, Musik, Volkstänzen oder Gedichten waren großartige Erlebnisse, wir wurden dankbar und begeistert empfangen. Es gab Übernachtungen bei Familien und, wenn nach der Vorstellung zum Schlafen keine Zeit blieb, wurde sie zum Tanzen verwendet. Für die Heimfahrt musste man manchmal mehrere Kilometer zum Zug gehen. Dann kam man unausgeschlafen, aber zufrieden und glücklich in der Klasse beim Unterricht an.
Gerne erinnere ich mich an unsere Tanzunterhaltungen sonntags in der Kantine. Hier konnte man sich näher kennenlernen. Vor allem für die Internatler boten sie eine sinnvolle Möglichkeit, das Wochenende zu gestalten. Es waren geschlossene Veranstaltungen, nur für Schüler des Deutschen Lyzeums, Auswärtige benötigten eine besondere Erlaubnis.
Ein weiterer Höhepunkt waren unsere Jahresausflüge mit Dr. Weresch – manche Dörfler hatten bis dahin noch keinen Berg gesehen! Nach der 8. Klasse waren wir in Wolfsberg in einer großen Scheune im Heu untergebracht. Im folgenden Jahr besuchten wir Hermannstadt, Kronstadt und die Südkarpaten. Diesmal schliefen wir in Schulen auf dem Boden. Da wegen der Weltjugendspiele in Bukarest die Versorgung schwierig war, schleppten wir das nötige Mehl für die Herstellung von Brot mit. Der Ausflug ins Retezat-Gebirge war der krönende Abschluss nach dem Abitur.
Beim Treffen nach 70 Jahren wurden viele dieser Erinnerungen wach. Man erinnerte sich auch mit Schmunzeln an die Pflichtveranstaltungen, die Aufmärsche zu den staatlichen Feiertagen. Davon waren wir zwar nicht begeistert, aber es gab auch Vorteile, gab es doch an solchen Tagen Würstchen und Bier.
Ein immer noch zündendes Thema ist die Auswanderung. Auf unterschiedlichen Wegen und zu verschiedenen Zeiten haben die meisten den Weg nach Deutschland gefunden. Es gab lebensgefährliche Fluchtversuche. In vielen Fällen wurden hohe Geldsummen aufgebracht, um das Ziel zu erreichen. Zwei Mitschüler sind den Weg über die DDR gegangen, zwei weitere sind nicht ausgereist und in Rumänien verstorben.
Vieles kam in unserer „Klassenstunde“ zur Sprache – Familie, Beruf, Freizeit, Hobbys. Von den Schülern und Schülerinnen hat sich in unserer Klasse ein Ehepaar gefunden. Scheidung ist mir eine bekannt. 21 von uns sind Witwen oder Witwer, die über Einsamkeit klagen. In einem Fall gab es mit 80 noch eine neue Partnerschaft.
Kinder und Enkelkinder wurden vorgeführt – meist elektronisch, denn den Umgang mit dem Handy mussten die alten Herrschaften notgedrungen erlernen, um mit der jungen Generation zu kommunizieren.
Auch frühere Treffen gehören mittlerweile zur Erinnerung, die man in Filmen und Bildern vorgeführt bekam. Ein Absolvent las Gedichte vor, die er dem Treffen gewidmet hatte. Zum Gedächtnis der Verstorbenen wurde eine Schweigeminute gehalten. Das Zusammensein nach 70 Jahren bot uns allen den nostalgischen Rückblick auf eine manchmal eingeschränkte, aber glückliche Jugendzeit im Lyzeum. Ob es ein weiteres Treffen geben wird, steht in den Sternen.