Am Morgen des 31. Dezember 2022 ist in Rom der emeritierte Papst Benedikt XVI. gestorben. Er wurde 95 Jahre alt. Weil er der erste deutsche Papst seit fast 500 Jahren gewesen ist, fanden seine Wahl 2005 und sein Wirken auch in unserem Land große Aufmerksamkeit, lösten vielerorts Begeisterung aus. Er, der als Präfekt der Glaubenskongregation schon jahrelang das vielleicht wichtigste Amt nach dem Papst ausübte, die Kirche „zusammenhalten wollte“, wie es ein Kommentator beschrieb, blieb auch als Papst seinem eingeschlagenen Weg treu. Deshalb war er nicht bequem, aber mit sich und seinem Weg im Reinen. Auch bei seinem überraschenden Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen 2013. Über das Wirken des brillanten Theologen, seine Amtsführung als Oberhaupt der größten Kirche wurde und wird viel geschrieben. Benedikt selbst hat ein umfangreiches theologisches Werk hinterlassen. Biografen, Peter Seewald sei hier erwähnt, haben alle Winkel seines Lebens aus-geleuchtet, fast alle. Denn im Leben des Joseph Ratzinger gab es auch Bezüge zu den Banater Schwaben, die über die amtlichen Beziehungen der Bischöfe von Temeswar zum Papst in Rom hinausreichten.
Wie bekannt, wurde Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., 1927 in Marktl am Inn geboren. Bürgermeister von Marktlberg, 1972 nach Marktl eingemeindet, war nach dem Krieg der aus Sanktmartin im Banat stammende Anton Karl, Landesvorsitzender Bayern und Mitglied des Bundesvorstandes unserer Landsmannschaft. Die Wahl eines Flüchtlings aus dem Banat zum Bürgermeister einer oberbayerischen Gemeinde war damals etwas Besonderes. Ebenso, dass nach ihm auch sein Sohn Ewald Karl zum Bürgermeister von Marktl gewählt wurde. Anton Karl war als Vorstandsmitglied des St. Gerhards-Werks Stuttgart stets in die Vorbereitung und Durchführung der traditionellen Donauschwabenwallfahrt nach Altötting eingebunden. Es ist davon auszugehen, dass er in dieser Zeit die Beziehungen zum damaligen Erzbischof von München und Freising Joseph Ratzinger geknüpft hatte. Aufrechterhalten hat er sie auch noch, als Joseph Ratzinger schon als Kardinal in Rom wirkte.
Anfang 1990 waren der damalige Geschäftsführende Bundesvorsitzende unserer Landsmannschaft Klaus Lanz und ich bei Anton Karl in Marktl am Inn, um einen größeren Bestand von Büchern der Landsmannschaft abzuholen. Familie Karl hatte zum Mittagessen eingeladen und bei Tisch erzählte Anton Karl auch über seine Unterstützung der katholischen Pfarrkirche in Sanktmartin. Weihrauch, Kerzen und manch anderes noch hatte er schon vor, aber auch nach 1989 nach Sanktmartin geschafft. Und auf Nachfrage sagte er: „Da rufe ich beim Ratzinger an, der hilft.“ Ja, jetzt sei er in Rom, aber das klappe trotzdem nach wie vor. Anton Karl starb im Jahr 2000. Bei dessen Beerdigung hörte ich den bis dahin und seit dann kürzesten Nachruf, gesprochen vom Vorsitzenden des örtlichen Krieger- und Veteranenvereins: „Heimat heißt Leben, Heimat heißt Tod.“ Den Nachruf der Landsmannschaft sprach Hans Huniar, für das St. Gerhards-Werk Franz Wesinger.
Zum Priester und Kirchenmusiker Georg Ratzinger, langjähriger Leiter des berühmten Chors der Regensburger Domspatzen und Bruder von Joseph Ratzinger, hatte unser Landsmann und Pfarrer Peter Zillich einen Kontakt aufgebaut. Als Religionslehrer an der Europa-Berufsschule in Weiden setzte er mit Lehrerkollegen und Schülern einige Projekte am Haus der Ratzinger-Brüder im Regensburger Stadtteil Pentling um. Auf dem Dach des Hauses wurden Solarzellen montiert, ein neuer Gartenzaun wurde errichtet, wichtiger waren jedoch sicher Motivation, Anerkennung und die Kontakte der jungen Schüler und der beteiligten europäischen Partnerschulen. Bei der Weihe des neuen Solardachs auf dem Haus lernte ich Georg Ratzinger persönlich kennen. Er erzählte mir von seiner Fahrt mit einem Hilfstransport nach der Wende 1989 nach Temeswar, von seiner Begegnung mit Bischof Sebastian Kräuter. Direkt und gezielt waren seine an mich gerichteten Fragen: Beruf der Eltern, Zahl der Geschwister, Bezug zum Banat, alles sehr persönliche Fragen bei einer ersten Begegnung, weshalb sie mir auch im Gedächtnis geblieben sind. Die Weihe vollzog der damalige Regensburger Erzbischof Gerhard Ludwig Müller, mit dem ich im Anschluss ein kurzes Gespräch führte. Er hatte mich angesprochen, Donauschwaben und Banater Schwaben waren ihm ein Begriff. In Erinnerung geblieben ist mir die ausgewählte Bibliothek im Wohnhaus des Papstes, wir hielten uns im Inneren auf.
Über die Arbeiten an seinem Haus in Regensburg war Papst Benedikt durch seinen Bruder und die Lektüre der bayerischen Lokalpresse gut informiert. So ging schon mal eine Dankeskarte aus dem Vatikan an Pfarrer Peter Zillich, der damals neben vielen Verpflichtungen auch das Amt des stellvertretenden Landesvorsitzenden Bayern unserer Landsmannschaft innehatte. Als der Papst Deutschland besuchte und in sein Haus in Regensburg kam, standen dort auch die Berufsschüler aus Weiden mit ihren Lehrern daneben. Zu einer persönlichen Begegnung in Rom sollte es jedoch erst 2014 kommen, nachdem Benedikt sein Amt niedergelegt hatte. Der Termin im Kloster Mater Ecclesiae, in das sich der emeritierte Papst zurückgezogen hatte, kam schwer zustande. Auch ein emeritierter und körperlich geschwächter Papst hat ein dichtes Programm zu absolvieren. So war es letztlich dem Papstbruder Georg Ratzinger und Direktor Heribert Mohr aus Weiden zu verdanken, letzterer mit einer gewissen Oberpfälzer Hartnäckigkeit ausgestattet, die dem Privatsekretär von Papst Benedikt, Erzbischof Georg Gänswein, einen Termin im Vatikan abtrotzten. Am 19. April 2014 sollte uns Benedikt empfangen.
Es war ein Karsamstag und der Jahrestag seiner Wahl zum Papst. Vorgesehen war ein Empfang von 15 Minuten. Nach der Identitätskontrolle brachte uns ein Fahrzeug der Schweizer Garde zum Kloster im Vatikan. Der Erzbischof erwartete uns mit Verhaltensregeln: Fotografieren sei erlaubt, Gastgeschenke auch, Filmen nicht. Die Ansage war klar und bestimmt, geprägt von der langjährigen Erfahrung in diesem Amt. Er geleitete uns die Treppen hoch in das Empfangszimmer, wo wir warten sollten. An den Wänden standen volle Bücherschränke, der Marmorboden glänzte, an der freien Wand befanden sich ein schlichtes Kreuz, zwei Ikonen, zwei Gemälde mit biblischen Motiven. Der Erzbischof verschwand gleich in einem Nebenraum. Noch etwas Zeit zum Nachdenken also, was spreche ich an, was will ich wissen, was kann ich vorbringen?
Die Gedanken überschlugen sich, als sich eine Tür öffnete und eine kleine, milde lächelnde Gestalt vortrat: der Heilige Vater. Alle Überlegungen und Fragen waren wie weggeblasen, der Raum war von der Aura dieses Menschen erfüllt, der uns mit leiser Stimme willkommen hieß. Seine Ausdrucksweise war gewählt, die Sätze kurz, die Gedankenführung klar. Ich stellte mich vor. Seine Antwort: „Banater Schwaben – ja gibt es euch noch?“ Ich konnte es bejahen und hätte am liebsten unsere gesamte Geschichte im Banat und in Deutschland referiert. Aber das war nicht nötig, er wusste Bescheid und er freute sich über unser Wirken in Deutschland und im Banat. Wissend von seiner Liebe zu Büchern hatte ich Band 5 der Buchreihe „Das Banat und die Banater Schwaben. Städte und Dörfer“ als Gastgeschenk mitgebracht. Es war eine gute Entscheidung. Papst Benedikt schlug das Buch gleich auf, ich hatte auf dem Sofa neben ihm Platz genommen, er blätterte darin, schaute sich die Seiten über Maria Radna an. Im Gespräch mit uns kam seine tiefe Verwurzelung im katholischen Glauben, in seiner bayerischen Heimat und darauf basierend eine Abgeklärtheit gegenüber den Verlockungen oder Abweisungen der Zeit zum Ausdruck. Hier saß jemand, der wusste, wo sein Platz, wo der Platz der Kirche ist, der er vorgestanden war.
Als sich nach 15 Minuten die Doppeltüren öffneten, was das Ende des Empfangs signalisierte, war es wieder Benedikt, der sie mit einer leichten Handbewegung für eine weitere Viertelstunde schließen ließ. „Euer Besuch war mir eine wahrhaft österliche Freude“, sagte er zum Abschied und drückte jedem von uns eine Medaille, einen Rosenkranz und ein Bild in die Hand. Den Raum habe ich als letzter verlassen, konnte mich nur schwer von diesem Augenblick lösen. Schon die Treppen herabsteigend, warf ich noch einen Blick zurück: Eine große Persönlichkeit, eine kleine Gestalt stand bescheiden da, lächelte mild und winkte. Er ruhe in Frieden!